Ausgabe 2 / 2022 Bibelarbeit von Nancy Rahn

Du Gott meiner Sicht!

Zur Gottesbegegnung Hagars in Gen 16,13

Von Nancy Rahn

Du Gott meiner Sicht!
Sah auch wirklich ich hier dem Michsehenden nach?

Eine Bibelarbeit zur Gottesbegegnung Hagars in Gen 16,13

Kapitel Gen 16 ist eine Konflikterzählung. Sie steht im Kontext der Überlieferungen von der Familie Abrams und Sarais und führt Leser*innen in die Ur-Zeit Israels, zu den Erzeltern des Volkes Israel. Diese Erzählungen wurden lange mündlich tradiert, dann gesammelt, aufgeschrieben und in einer Zeit von Krisen und Konflikten, im und nach dem babylonischen Exil, redigiert. In einer Zeit, in der sich Israel seiner Ursprünge versicherte, Halt und Denkfutter in alten Erzählungen suchte und in Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Wege in die Zukunft fand.

Der Konflikt in Gen 16 entspinnt sich im engsten Familienkreis zwischen zwei Frauen: Sarai und Hagar. Sarai ist die Frau Abrams, Hagar ist ihre Sklavin. Ausgangspunkt des Konflikts ist ein Problem, das viele Frauen der biblischen Erzählungen betrifft. Sarai hat ihrem Mann bisher keine Kinder geboren, wodurch nicht nur ihr Ansehen als Frau im alten Israel, sondern auch der Fortbestand der Familie gefährdet ist. Die Kinderlosigkeit als eines der schlimmsten Schicksale für Frauen dieser Zeit wirkt sich zudem auf die Gottesbeziehung aus. Sarai macht gegenüber Abram deutlich, dass es Gott sein muss, der ihren Mutterschoß versperrt und seine gegenüber Abram geäußerte Nachkommenverheißung nicht einlöst. Beide sind alt, die Erfüllung der göttlichen Versprechungen von Nachkommen wie Sand am Meer scheint so weit entfernt wie die Sterne am Himmel.

Sarai ist verzweifelt, sieht aber eine Lösung: Abram soll Hagar als Nebenfrau nehmen – ein im altorientalischen Kontext übliches Vorgehen – und der Familie so Nachkommen verschaffen, Sarai „aufbauen“ umschreibt es der hebräische Text. Abram kommt dem Vorschlag seiner Frau widerspruchslos nach. Hagar, die Leihmutter, wird nicht gefragt. Als Sklavin hat sie keine Möglichkeit, über ihren Körper zu bestimmen. Es ist eine erzwungene Mutterschaft, die der Erzählung nach auch prompt eintritt und nun zu weiteren Problemen führt. Für Hagar ändert sich die Position innerhalb der Familienkonstellation. Sie erwartet den so sehnlich gewünschten Nachkommen der Familie und beginnt, auf ihre Herrin herabzuschauen. Sarai „verliert an Gewicht in ihren Augen“ (Gen 16,4). Diese erfährt die Abwertung durch ihre Sklavin als Unrecht und fordert Abram und Gott gleichermaßen zum Eingreifen und damit zum Loyalitätserweis auf. Abram will keine Verantwortung übernehmen und weist Sarais Anliegen zurück auf die Ebene des Konflikts zwischen zwei Frauen. Sarai soll mit ihrer Sklavin tun, was sie will, was „gut ist in ihren Augen“ (Gen 16,6). Damit lässt er nicht nur seine Frau, sondern vor allem seine Nebenfrau völlig allein. Er entzieht dieser jeden Schutz – und sich selbst der Verantwortung.

Die Erzählung lässt uns knapp wissen, dass Sarai Hagar „niederbeugte“, „demütigte“ Gen 16,6 und Hagar daraufhin in die Wüste floh. Sie muss schwer gedemütigt worden sein, denn die Flucht in die Wüste kommt einer Flucht in den Tod gleich. Dort ereignet sich nun die Gottesbegegnung, die für Hagar Rettung und Wegweisung war und für alle nachfolgenden Generationen Zeugnis für Gottes Wahrnehmung der Menschen und die Wahrnehmung Gottes durch ebendiese Menschen sein wird.

Auf ihrer Flucht wird die schwangere Hagar von einem Gottesboten an einer Quelle in der Wüste gefunden. Bevor er ihr seine drei Botschaften überbringt, nimmt er sie wahr. Er spricht sie mit ihrem Namen an, Hagar, verortet sie, „Sklavin der Sarai“, und er fragt sie: „Woher bist du gekommen, und wo gehst du hin?“ Es geht ihm um Hagar in ihrer ganzen Geschichte, mit ihrer Vergangenheit, ihrem Ort im Hier und Jetzt, und um ihre Zukunft. Zum ersten Mal in dieser Erzählung spricht Hagar. Ihre Antwort, ihre Position ist gefragt.

Die erste Botschaft des Gottesboten scheint zunächst ernüchternd. Hagar soll zurückgehen zu ihrer Herrin und sich „demütigen“ lassen. Keine Ermächtigung, keine Fluchthilfe. Aber: Wahrnehmung und Anerkennung der Erfahrung Hagars, die durch Sara niedergebeugt wurde. Das soll sie nun weiter ertragen, damit die Geschichte ihren Lauf nehmen kann und Hagar von der Niedergebeugten zur Mutter einer großen Nachkommenschaft wird.

Denn das ist die zweite Botschaft des Gottesboten: Hagars Nachkommen werden viele sein, unzählbar an Menge. Und die dritte: Einen Sohn wird Hagar bekommen, und sie wird ihm den sprechenden Namen „Ismael“ geben. In ihm steckt das Hören Gottes, denn Gott selbst ist es, der Hagars Situation wahrgenommen, gehört hat. Dieser Sohn wird widerständig sein, für sein Recht einstehen. Er wird es so wie Hagar nicht einfach haben, aber die Kraft besitzen, seinen Platz zu verteidigen.

Gottes und Hagars Hören stehen in engem Bezug zu deren Sehen. Als Antwort auf die Botschaften des Gottesboten ruft Hagar Gott, der sie gerufen hat, als „Gott des mich Sehens“ an. Diese Erfahrung, dass sie durch Gott wahrgenommen wird, schlägt sich zunächst in der fast erstaunten Frage Hagars: „Sah auch wirklich ich hier dem Michsehenden nach?“ nieder und ändert ihre Wahrnehmung. Hagar gewinnt eine neue Perspektive auf sich selbst und auf Gott, den sie benennt. Eine Gottesbegegnung – sehen und gesehen werden. In diesem Namen Gottes spiegeln sich die Erfahrungen von Gottesbegegnungen aller, die Gott mit Namen nennen.

Die Bedeutungsdimensionen des Sehens im Alten Testament zeigen die Qualität der Gotteserfahrung Hagars: Die Augen der Menschen werden in biblischen Texten als eines Ihrer wichtigsten kommunikativen Organe vorgestellt. Sie senden, empfangen und signalisieren Aufmerksamkeit. Ihr Blick weckt Emotionen, transportiert Liebe oder Hass, Anerkennung oder Abwendung. Unter den vielen Aspekten biblischen Sehens findet sich auch die Reflexion von Sehen und Erkennen. Es geht also nicht nur um Wahrnehmung, sondern ebenso um die Verarbeitung des Wahrgenommenen.

Göttliches Handeln in der Welt kann gesehen und verstanden werden, obgleich das menschliche Verstehen Grenzen hat – wovon biblische Autoren offenbar durchgehend überzeugt sind. Die Sinne der Menschen sind fundamental wichtig für ihre Orientierung in der Welt; dafür, sich in Beziehung zu setzen, Beziehungen zu pflegen, eine Sozialität zu bilden. Weise Menschen zeichnen sich aus durch genaues Betrachten, einsichtsvolle Evaluation des Gesehenen und entsprechendes Handeln. Propheten werden auf besondere Art und Weise mit dem Sehen verbunden, im Hebräischen heißen sie wörtlich auch „Seher“. Bevor sie sprechen, müssen sie hören und sehen, sehen und hören. Beide Sinneswahrnehmungen ergänzen sich, führen zusammen zu einem vollständigen Bild oder korrigieren einander.

Immer wieder werden auch die Folgen des Nicht-Sehens, des bewussten Abwendens der Augen von Menschen untereinander und von Gott deutlich. Das Verschließen der Augen vor der Wirklichkeit führt zu Leiden von Einzelnen, Auseinanderdriften der Gesellschaft und Entfremdung von Gott. Wo Gott die Augen abwendet, bricht der Kontakt zu Gott ab. Die Augen Gottes und der Menschen verweisen auf deren Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen und zu pflegen. So wundert es nicht, dass Gott sich für das Sehen der Menschen, für ihre Wahrnehmung und Erkenntnisfähigkeit interessiert. Laut biblischem Zeugnis ist Gott erfahrbar in vielfältiger Weise, und gerade weil Gott sich auf vielfältige Weise zeigt, kann Gott auch darauf bestehen, dass sich die Menschen nicht ein Bild von Gott machen.

Die große Bedeutung der Wahrnehmung für soziale Beziehungen – zwischen Menschen 
und zwischen Menschen und Gott – zeigt sich schon in der Schilderung des Familienkonflikts. Es wird deutlich, dass gerade die Wege der Frauen entscheidend davon abhängen, dass und wie sie von ihren Männern und allgemein von Höhergestellten wahrgenommen werden, dass ihre Probleme und Konflikte gesehen und anerkannt werden. Auch nach der Gotteserfahrung Hagars und ihrer Deutung dieser Erfahrung ist kein Happy End in Sicht. Hagar hat Gott nachgesehen und wurde von Gott gesehen. Die Anerkennung durch Menschen, die Wahrnehmung als Mensch auf Augenhöhe wird ihr dadurch innerhalb der Geschichte nicht zuteil. Aber sie hinterlässt ein Zeugnis, als Protagonistin und ganz konkret in der Benennung eines Ortes, der sich mit ihrer Gotteserfahrung verbindet und diese öffnet für andere Wüstenreisende, für weitere Geschichten von Gotteserfahrung.

In den Erzelternerzählungen haben wir es mit Geschichten von und über Menschen und zugleich mit Menschheitsgeschichte zu tun. Daher verwundert es nicht, dass die Geschichten der Rezeption ebenso mannigfaltig sind. Hier offenbaren sich die vielen Potenziale der Geschichten, Chancen, Herausforderungen, die Zeit der Rezipient*innen und ihrer Geschichten.

So zeigt die paulinische Rezeption von Sarai und Hagar in Gal 4,21-31 die Verflochtenheit der beiden Frauenschicksale. Paulus nutzt die Erzählung allegorisch für eine Problemlage in der Gemeinde in Galatien. Seine Darstellung hatte im Christentum massiv negative Folgen für das Hagar- und Ismaelbild.

Künstler*innen wie Adriaen van der Werff schlossen an Leerstellen der Erzählung an. In einem seiner Gemälde von 1696 inszeniert er die Dreierkonstellation von Abram, Sarai und Hagar in dem Moment, als Sarai Hagar zu Abraham ins Schlafzimmer bringt. Keine biblische Szene, sondern imaginiert von van der Werff, unterstreicht dieser damit einerseits Sarais Aktivität und 
andererseits neben der venusartigen Schönheit der Hagar auch ihre Demut und damit einen „erwünschteren“ Wesenszug, der im Kontrast zu Hagars Selbstbewusstsein in ihrer Schwangerschaft steht.

Die womanistische Theologie, die ihren begrifflichen, nicht aber historischen Ausgang zu Beginn der 1980er Jahre nimmt, fand in der Hagarerzählung einen Anknüpfungspunkt, ja eine Keimzelle ihres Nachdenkens. Schwarze Frauen in den USA konnten sich in ihrer ganzen Geschichte mit den Erfahrungen von Versklavung, Ausnutzung, Demütigung, Gewalt, Einsamkeit, Alleinerziehung, Armut, aber auch Widerstand, Gottvertrauen, Ermächtigung verbinden. In der womanistischen Theologie geht es nicht in erster Linie um Befreiung, sondern um Überleben, das nicht passiv, sondern als Ergebnis von Auseinandersetzung, aktivem Durchhalten und Kampf erfahren und reflektiert wird. So findet auch Hagars Geschichte (noch) kein Happy End. Ihre schmerzhaften Erfahrungen können nicht einfach ungeschehen gemacht, aber sie können gesehen werden, auch heute durch uns.

Mit den Wegen von Sarai und Hagar werden oft die getrennten Wege der Israelit*innen und der Ismaeliter*innen und damit der jüdischen und der muslimischen Tradition verbunden. Die Verschiedenheit der Geschichten, ihre Verflochtenheit und die Ähnlichkeit der Erfahrungen können Wege in Wahrnehmung und Dialog öffnen.

Dr. Nancy Rahn, *1989, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Altes Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Sie hat evangelische und ökumenische Theologie in Tübingen, Jerusalem und Bern studiert und wurde in Bern mit einer Arbeit zu Ps 145 und der Vorstellung von Gottes Königtum promoviert. Im Moment beschäftigt sie sich mit Emotionen und Empathie in alttestamentlichen Texten.


Zum Weiterlesen:


Irmtraud Fischer, Die Erzeltern Israels. Feministisch-theologische Studien zu Genesis 12 – 36 (BZAW 222), Berlin/New York 1994.
Magdalene Frettlöh, »Gottes Auge ist ganz Ohr«. Beobachtungen und Reflexionen zur namenstheologischen Synästhesie in der Hagar-Erzählung von Gen 16,1–16, in: Lieblingsfrauen der Bibel und der Welt. Ausgewählt für Luise Metzler zum 60. Geburtstag, hg. von Christina Duncker und Katrin Keita, Norderstedt 2009, 36–65.
Elisabeth Moltmann-Wendel, Hagars Schwestern. Biblische Gotteserfahrungen aus der Perspektive afro-amerikanischer Frauen, in: Evangelische Theologie 56 (1996), 166-170.
Phyllis Trible, Mein Gott, warum hast du mich vergessen! Frauenschicksale im Alten Testament. Mit einer Einführung von Helen Schüngel-Straumann. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Marianne Reppekus, Gütersloh 1987.
Eske Wollrad, Wildniserfahrung. Womanistische Herausforderung und eine Antwort aus weißer feministischer Perspektive, Gütersloh 1999, bes. 168ff.

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Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit / 90 Minuten

Die folgende methodische Einheit setzt sich aus zwei Teilen 
zusammen, wobei der erste sowohl als Aktivierungsaufgabe als auch für sich allein bearbeitet werden kann. Der zweite Teil, die Perspektivübernahme, sollte jedoch am besten mit einer Gruppe bearbeitet werden, die den Kontext der Jahreslosung Gen 16,13 kennt.

Die Sinne schärfen [ca.60 Minuten]
Das Leitmotiv der Jahreslosung sowie des ganzen Kontextes ist das Sehen. Die vielen Dimensionen des Textes regen dazu an zu reflektieren, wie wir andere und uns selbst sehen. Wo wir uns gesehen fühlen und wo nicht, wo wir abschätzig prüfen oder geprüft werden, wo wir wohlwollend hinsehen und gesehen werden.

Schritt 1: In Gen 16,1-16 geschieht sehr viel sehr schnell. Lesen Sie daher gemeinsam Gen 16,1-16 in einer für alle verständlichen Übersetzung.

Hinweis für die Gruppenleitung: Es bietet sich an, die verschiedenen Stimmen in verteilten Rollen zu lesen, um sich den vielen Charakteren anzunähern, und Raum für Fragen zu lassen.

Schritt 2: Der Kontext der Jahreslosung wirft viele Fragen auf, etwa. zur Bedeutung von Kinderlosigkeit und zur „Leihmutterschaft“ etc.
Lesen Sie die vorangegangene Bibelarbeit gemeinsam und versuchen Sie, die offenen Fragen zu formulieren und zu diskutieren.

Schritt 3: Reflektieren Sie gemeinsam: Was sehe ich? Was höre ich? Was sehe ich nicht? Was höre ich nicht? Wenn Sie Gen 16,1-16 mit verteilten Rollen gelesen haben: Was haben Ihre Rollen gesehen und gehört? Markieren Sie Wörter und Wendungen zum Sehen und/oder allgemein zur sinnlichen Wahrnehmung.

Perspektiven wechseln  [ca. 60 Minuten]
Diskutieren Sie folgende Aspekte des Textes und der Bibelarbeit:
Welche Erfahrungen macht Hagar? Gelingt es uns, die Perspektive Abrams, Sarais, Hagars oder/und des Boten Gottes einzunehmen? Was denken, fühlen, sagen sie in welcher Situation? Was hilft uns bei der Perspektivübernahme, wo gerät sie an Grenzen?

Haben Sie zuvor Rollen eingenommen: Zu welchen unterschiedlichen Bewertungen kommen Sie als Person und Sie als Rolle?

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