Alle Ausgaben / 2008 Artikel von Ulrike Metternich

Du hast mich geheilt

Erfahrungen des Himmels auf Erden

Von Ulrike Metternich

„Und ich bitte dich, schließe ihn in deine Gebete ein“, sagte die Frau, die mir gerade unter Tränen erzählt hatte, dass ihr Mann sich einer schweren Operation unterziehen müsse. Das kleine Gespräch fand auf dem Flur einer Kirche in den USA statt. Ich war perplex, gerührt und konnte antworten nur: „Ja, natürlich.“

Ich denke nicht, dass die Frau mir anmerken konnte, dass ich als evangelische Christin aus Deutschland, die sie kaum kannte und ihren Mann noch nie gesehen hatte, den Wunsch als ungewöhnlich empfand. Aber ich habe dann tatsächlich diesen Menschen in meine Gebete eingeschlossen. Und ich wusste, dass viele aus ihrer Familie und der Gemeinde in gleicher Weise beteten. Nach einigen Wochen umarmte sie mich freudestrahlend und bedankte sich. Die Operation war besser verlaufen, als befürchtet. Gott sei Dank!

Wie gerne würde ich in gleicher Weise Heilung herbeibeten für meine Schwester, die durch eine schwere Krankheit aus ihrer Familie herausgerissen wurde, und für meinen Bruder, der seit einem halben Jahr im Krankenhaus um seine Genesung ringt. Warum gibt es so viele Kranke, denen kein Gebet um Heilung hilft? Warum bleiben die Wunder so oft aus und ist die Realität des Leidens und Sterbens so erdrückend alltäglich? Wo sind die Zeichen und Wunder, die wir herbeiwünschen?


Du hörtest mein Flehen

Die Sehnsucht nach Heilung begleitet die Menschheit von Anbeginn. In den Psalmgebeten heißt es: „Ewige, meine Gottheit, um Hilfe schrie ich zu dir, da hast du mich geheilt.“ (Ps 30,31). In den biblischen Schriften ist Gott Adressat der Bitte um Heilung und Dankes. Die Heilungsgeschichten der Bibel sind eingeflochten in die Beziehung zwischen Gott und der gesamten Gemeinschaft des Volkes. Wenn eine/r Heilung erfährt, dann wird dies nicht nur als indivuelles Glückserlebnis verstanden, sondern als Gottes heilendes Handeln an seinem Volk, das sich am Körper dieser Frau, dieses Mannes oder Kindes leibhaftig ablesen lässt. Deshalb bestätigt jede individuelle Heilungserfahrung das Vertrauen in Gottes bleibende Zugewandtheit für alle und festigt die Hoffnung, dass  Gottes rettende Hand nahe ist. Dies verdeutlicht auch Psalm 31,23f:

Aber ich, ich dachte schon in meiner Bestürzung: Abgeschnitten bin ich von der Gegenwart deiner Augen. Doch du hörtest mein lautes Flehen, als ich zu dir schrie. … Seid stark und euer Herz sei mutig – alle, die ihr euch auf die Lebendige verlasst.

Auf diesem Hintergrund auch die  Heilungsgeschichten des Neuen Testaments zu lesen, lädt uns ein, unsere quälenden Fragen: „Warum sind die gesund geworden und ich nicht? Hört Gott mein Gebet nicht?“ zurückzustellen und einen neuen Blick auf diese Texte zu werfen.


Steh auf und geh

Es ist einen Versuch wert, die Heilungsgeschichten zuerst als das zu lesen, was sie sind: als Geschichten, vor langer Zeit erlebt, aufgeschrieben und an uns weitergegeben. Es ist einen Versuch wert, ihnen mit einem offenen und staunenden Ohr zu lauschen, so wie wir uns eine Liebesgeschichte anhören, die uns ein Freund, eine Freundin erzählt. Wie in einer Liebesgeschichte geht es in den Heilungsgeschichten um eine intensive Begegnung, um spürbare Anziehungskräfte, um Berührungen, die unter die Haut gehen und um die Erfahrung des Himmels auf Erden. In den Heilungen wird göttliche Kraft erfahrbar; die Evangelien verwenden das griechische Wort dynamis, um  diesen göttlichen Energiestrom zu benennen (vgl. z.B. Lk 5,17: „die Kraft der Lebendigen war darauf gerichtet, dass er heile“). Jesu Heilungen strömen diese  göttliche „Dynamik“ aus, die aber nur da empfunden wird, wo Menschen offen für sie sind. Deshalb ist Jesus kein wandelnder Wunderheiliger, der zu jeder Zeit jeden Menschen heilt. Heilungen als demonstrative Zeichen seiner Macht einzusetzen, lehnt er  entschieden ab: „Pseudomessiasse und Pseudopropheten werden auftreten, werden Zeichenhandlungen und  Wunder tun, um die Erwählten womöglich irrezuführen.“ (Mk 13,22)

Die Heilungsgeschichten erzählen, wie eine Liebesgeschichte, von wunderbaren Momenten, in denen eine neue Lebensperspektive aufbricht. Deshalb sind  Heilungsgeschichten kleine Auferstehungsgeschichten. Bis ins Vokalur hinein überschneiden sich die Heilungs- und Auferstehungserzählungen. So steht hinter der Aufforderung Jesu an den Gelähmten: „Steh auf, nimm deine Trage und geh…“ die gleiche griechische Vokabel, mit der von Jesu Auferstehung gesprochen wird. (Mk 16,6) Von Gottes Kraft berührt aufzuer-stehen umfasst die jubelnde Gewissheit, jetzt schon Töchter und Söhne Gottes zu sein. Diese Gewißheit wird häufig mit dem Satz bestätigt: „Dein Glaube hat dich gerettet.“ Gut zu wissen, dass der griechische Origialtext nicht lautet: „Dein Glaube hat dich gesund gemacht“, wie wir es in einigen Übersetzungen finden.

Heilungsgeschichten erzählen von der spürbaren Nähe Gottes, von der  Erfahrbarkeit göttlicher Kraft am eigenen Leib. Diese Erfahrung schenkt die Gewissheit, dass es mehr gibt, als unsere Augen sehen und wir aufgehoben sind in der Nähe Gottes. Diese „rettende“ Erfahrung ist nicht ausschließlich mit einer körperlichen Genesung verbunden. Auch da, wo Menschen ihr Leben heilsam verändern, spricht Jesus ihnen „Rettung“ zu – so Zachäus, dem Jesus sagt: „Heute ist diesem Haus Rettung widerfahren.“ ?(Lk 19, 9)

Glaube, der „rettet“, nimmt uns hinein in die Gemeinschaft der Gotteskinder, in die Gemeinschaft aller Glaubenden, aller Heiligen, der Lebenden und der Toten. Die Heilungsgeschichten der Bibel wollen uns vergewissern, dass es Gotteserfahrungen im Leben sehr konkreter Menschen gab und gibt.

Dieses Berührt-werden strahlt weiter, auch wenn die Menschen, die von Jesus geheilt wurden, wieder krank werden sollten oder sterben. Aber indem sie uns ihre Heilungserfahrungen weitererzählen, wollen sie uns aufrichten und hoffen lassen, dass auch wir dieser göttlichen Energie nicht fern sind. So, wie eine schön erzählte Liebesgeschichte unsere eigenen Herzen mit Sehnsucht erfüllt, wollen Heilungsgeschichten unsere Sehnsucht nach Gott offenhalten.


Die krank sind, sollen beten

Heilungsgeschichten sollen uns deshalb nicht entmutigen, für unsere eigenen Krankheiten und Kranken zu beten. Eine Textstelle im Jakobusbrief fordert uns geradezu auf, energisch zu beten:

Diejenigen von euch, die krank sind, sollen beten. Diejenigen, denen es gut geht, die sollen Loblieder singen. Die Kranken sollen die Mitglieder der Gemeindeleitung rufen. Diese sollen für die Kranken beten, nachdem sie sie im Namen Gottes mit Öl gesalbt haben. Und das Gebet, das im Glauben gesprochen wird, wird die Kranken  retten und Gott wird ihnen neuen Lebensmut geben… Denn die energischen Gebete der gerechten Frauen und Männer können Großes bewirken. (Jak 5,13f)

Es ist befreiend festzustellen, dass sich auch in dieser Aufforderung zum Beten die feine, aber wesentliche Unterscheidung zwischen „gesund machen“ und „retten“ findet. Wenn wir genau hinschauen, heißt es: „Und das Gebet … wird die Kranken retten“ – nicht gesund machen! Mit dieser Verheißung fällt es mir leichter, energisch um Heilung zu flehen und nicht zu verzweifeln oder mangelnden Glauben zu mutmaßen, wenn Genesung nicht eintreten sollte. Hinter der Formulierung: „Gott wird ihnen neuen Lebensmut geben“ steht das verheißungsvolle griechische Verb des Auf-er-stehens. Es tröstet und ermutigt uns, darauf zu vertrauen, dass die aufrichtende und auferweckende Kraft Gottes uns alle erreichen kann, als Kranke und Gesunde. Ich möchte darauf vertrauen, dass unsere energischen Gebete vor Gott Wirksamkeit haben und alle, für die gebetet wird, in die Gottesgemeinschaft spürbar eingeschlossen werden. Es heißt nicht, dass auch alle körperlich gesund werden oder ihnen der Gang zu den ÄrztInnen erspart bliebe. Andererseits ist es nicht ausgeschlossen, dass Menschen, für die gebetet wird, gesund werden. Gott sei Dank!


Großes hat der Ewige an uns getan

Die Heilungsgeschichten wollen uns ermutigen, unsere Augen und Ohren offen zu halten und uns zu fragen, ob wir ihr nicht auch schon begegnet sind, dieser göttlichen Kraft, die unserer Seele berührt, uns erkennen lässt, was wir sind: Töchter und Söhne in der großen Familie der Gotteskinder. Sie laden uns ein, neben der Klage über alles Ausstehende die Glücksmomente des Lebens wahrzunehmen und zu feiern. In  diesem Sinne verstehe ich das Gedicht von Dorothee Sölle:

Jetzt habe ich mir vorgenommen
jeden tag drei sachen zum loben zu finden

Dies ist eine geistlich-politische übung
von hohem gebrauchswert

Sie verbindet mich
mit den müttern und vätern des glaubens
desselben kontraktes
sie lehren mich sehen
auszumachen was alles sehr gut ist(2)

Aus der Kraft des Gotteslobes wächst der Mut, energisch weiterzubeten und nicht aufzugeben. Deshalb will ich weiterbeten für meine kranke Schwester und mich gleichzeitig darüber freuen, dass ausgerechnet sie, der das Erinnern schwer fällt, meinen Geburtstag nicht vergessen hat. Ich hoffe und bete, dass, auch wenn ihr Körper nicht mehr vollständig genesen kann, ihr Mut und ihre Fröhlichkeit von Gottes Kraft auferweckt werden. Und ich hoffe zutiefst, dass wahrlich die Zeit kommen wird, in der unser Mund voll Lachen sein wird und unsere Zunge voller Jubel und wir gemeinsam einstimmen können in den Lobgesang: „Großes hat der Ewige an uns getan, wir sind es, die sich freuen! (Ps 126,3)


Für die Arbeit in der Gruppe

Vorbereitung:
Die Frauen sitzen im Kreis. Die Mitte ist gestaltet mit hellen Tüchern, einem Strauß Blumen oder Zweigen, Kerzen oder Teelichtern, einer Schale mit schönen Perlen oder Murmeln, einer großen Schüssel, ausgelegt mit einer großen weißen Serviette; darin liegt ein kleines Kreuz oder eine kleine Engelsfigur.

Ablauf:

Der Kanon „Du Gott stützt mich, du Gott stärkst mich, du Gott machst mir Mut“ kann zu Beginn, nach jeder Einheit und noch einmal zum Schluss gesungen werden.

1  Die Erinnerung an positive Leben s erfahrungen soll die Wahrnehmung dafür schärfen, dass sich auch heute wunderbare Geschichten ereignen.

Nach einer kurzen Begrüßung können Murmelgruppen gebildet werden, in denen die Frauen einander fragen: „Hat es in deinem Leben wunderbare Momente gegeben, die dich neu aufgerichtet und froh gemacht haben?“

Nach etwa 10 Minuten werden die Frauen zurück in den Kreis gebeten. Wer mag, kann ein Erlebnis der Gruppe mitteilen. Die Frau, die spricht, nimmt eine Murmel aus der Schüssel, erzählt ihre Geschichte und legt die Murmel in die Mitte auf das Tuch. Wenn alle genug gesagt haben, kann der Kanon nochmals gesungen werden.

Gut, wenn jetzt noch die Frage in den Raum gestellt werden kann: „Wie habt ihr euch gefühlt, als ihr einander zugehört habt?“ Vielleicht kommen Antworten, die Erstaunen, Freude und Ungläubigkeit zum Ausdruck bringen. Diese emotionale Reaktion kann später verglichen werden mit den Gefühlen, die wir  biblischen Wundergeschichten gegen über haben.

2  Die Heilungsgeschichten der Bibel sollen als Hoffungsgeschichten verstanden werden.

Die Einstiegsfragen könnten lauten: „Wie fühlen wir uns, wenn wir biblische Heilungsgeschichten lesen? Welche Fragen bewegen uns in Bezug auf die Heilungen Jesu?“

Im Gespräch werden sicher sehr verschiedene Aspekte genannt. Wer will, kann die offenen Fragen aufschreiben und sehen, welche der Fragen im Laufe der Arbeitseinheit beantwortet werden können, welche nicht, und  welche auf eine andere Art beantwortet wurden, als erwartet.

Eine Frau kann den Abschnitt „Steh auf und geh“ aus dem obigen Text vorlesen; anschließend kann die Gruppe darüber diskutieren.

3  Das Vertrauen in das fürbittende Gebet soll gestärkt werden.

Die Einstiegsfrage könnte lauten: „Trauen wir uns auf dem Hintergrund der biblischen Heilungsgeschichten zu, selbst energisch für unsere Kranken / bei Krankheit zu beten?“ Die Frage wird sicher vielfältige Themen wachrufen. Um das Gespräch auszurichten, kann der Abschnitt „Die krank sind, sollen beten“ vorgelesen und diskutiert werden.

Zum Schluss können die Frauen einander ermutigen, energisch weiterzubeten, und dies mit einem kleinen Ritual bekräftigen. Die Gruppenleiterin bittet die Anwesenden, auf je einen Zettel den Namen eines Menschen zu schreiben, der Heilung und Genesung braucht, etwa mit folgenden Worten:

„Wir alle haben schöne und heilsame Erfahrungen, und wir alle haben Kranke und Krankheiten, die uns das Herz schwer machen. Wir wollen jetzt gemeinsam sanft und energisch für alle beten, die mit Sehnsucht auf Heilung warten. Für jeden Menschen, an den wir jetzt denken, wollen wir einen  Zettel nehmen, in aller Stille einen Namen aufschreiben und ihn dann in die Schüssel mit dem Kreuz/Engel legen. Wenn alle Namen aufgeschrieben sind, wollen uns erheben und gemeinsam beten.“

Wenn alle ihre Zettel in die Schüssel gelegt haben, schlägt die Gruppenleiterin sanft das Tuch über den Zetteln zusammen und streckt ihre Hände über das Tuch. Die Frauen werden gebeten, auch ihre Hände über diese Schüssel zu halten. Die Gruppenleiterin beginnt:

„Lebendiger Gott, Ewige Weisheit, richte alle auf, an die wir jetzt denken. Schenke ihnen neuen Lebensmut und Genesung an Leib und Seele. Segne sie und uns in Deiner großen Barmherzigkeit. Lasst uns gemeinsam beten: Vater (Mutter) unser…“


Dr. Ulrike Metternich, geb. 1957, ist evangelische Theologin und Mutter von drei Kindern. Sie hat als Theologische Referentin in der Frauen- und Familienarbeit der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg gearbeitet. Heute lebt sie in den USA.


Anmerkungen:

1 Diese wie alle folgenden Bibelstellen sind zitiert nach der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache.
2 gekürzt aus: fliegen lernen, Berlin 1979, (c) Wolfgang Fietkau Verlag

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