Ausgabe 2 / 2013 Bibelarbeit von Ruth Poser

Du nimmst ihre Geisteskraft zurück

Hirntod und Organtransplantation vor dem Hintergrund der hebräischen Bibel

Von Ruth Poser


Hirntod und Organtransplantation vor dem Hintergrund der hebräischen Bibel „Du nimmst ihre Geistkraft zurück – sie sterben, werden wieder zu Staub“, heißt es in Psalm 104,29. Auch wenn die hebräische Bibel vom Hirntod nichts weiß – die heutigen rechtlichen Regelungen zur Organtransplantation basieren auf einem Menschenbild, das dem, was biblisch von menschlichem Leben und Sterben erzählt wird, in vielem widerspricht.

Dies hängt vor allem mit dem Kriterium des Hirntods als „sichere[r] Todesfeststellung“1 zusammen – erst danach darf, entsprechend der so genannten dead-donor-rule (Tote-Spender-Regel), eine Organentnahme erfolgen. Manche/r wird einwenden, dass solche Widersprüchlichkeit kaum verwunderlich sei, weiß doch die Bibel nichts von moderner Medizin und den komplexen Fragen, die durch das heute medizinisch Machbare aufgeworfen werden. Dennoch bin ich überzeugt, dass es die Debatte um Organtransplantation offener, ehrlicher und erfahrungsnäher machen kann, wenn wir Bezug auf die biblische Rede vom Menschen nehmen – auch wenn und gerade weil sie vielleicht weniger Antworten liefert als Fragen aufwirft. Im Folgenden stelle ich deshalb zentrale Aspekte der ersttestamentlichen Rede vom Menschen und dessen Lebendigkeit und Sterblichkeit dar. Davon ausgehend formuliere ich einige kritische Thesen im Hinblick auf die derzeitige Debatte um Organtransplantation.

näfäsch, basar, ruach und leb:
biblische Lebensbegriffe

Die hebräische Bibel gibt keine Definition, sondern entfaltet, was Leben ist, in Erzählung und Poesie.2 Lebendigkeit wird dabei ganz körperlich gedacht, wobei verschiedene Körperbegriffe oder -aspekte für den „ganzen“ Menschen stehen und das, was diese Lebendigkeit ausmacht, unter verschiedenen Perspektiven zur Geltung bringen.

Ein wichtiges Wort ist näfäsch. Der Begriff wird oft mit „Seele“ wiedergegeben, doch steht er zunächst für ein konkretes Körperteil: den Rachen oder die Kehle als Organ der Nahrungsaufnahme (vgl. Ps 107,5) und der Atmung (vgl. Jer 2,24). In diesem Sinne kann näfäsch auch den Menschen in seiner elementaren Bedürftigkeit schlechthin, in seinem Lechzen nach Nahrung und Atemluft bezeichnen (vgl. Jes 29,8). Wenn dieses vitale Verlangen die Vorstellung beherrscht, kann näfäsch auch mit „Begehren“, „Gier“, „Verlangen“, „Trachten“ oder „Sehnen“ übersetzt werden (vgl. Ps 42,2f). An vielen Stellen steht näfäsch für Lebenskraft und Lebendigkeit, ja, für das Leben selbst, vgl. Gen 19,17: „Aber als sie sie hinausgebracht hatten, hieß es: Nun musst du dein Leben (näfäsch) retten! […]“

Als Lebensprinzip ist näfäsch mit dem Blut verbunden (vgl. 9,5). Der zweiten Schöpfungserzählung zufolge wird der Mensch „lebendige näfäsch“ (näfäsch chaja, 2,7) dadurch, dass Gott ihm oder ihr den Lebensatem (neschama bzw. ruach) einhaucht. Vor diesem Hintergrund kann näfäsch die einzelne Person bezeichnen (vgl. Lev 19,8). Wo ein Mensch wie in Psalm 103,1 mit seiner näfäsch – mit sich selbst – in Dialog tritt („Segne die Eine, du meine Lebenskraft!“), klingt ein Moment des Selbstbewusstseins oder der Selbstreflexivität an. Doch auch hier geht es nicht darum, dass ein hinzutretender „Geist“ oder eine hinzutretende „Seele“ den Menschen allererst zum Menschen macht. Zentral ist vielmehr, dass menschliches Leben – auch dort, wo näfäsch mit „Seele“ übersetzt wird – dadurch gekennzeichnet ist, dass eine/r näfäsch ist, nicht hat: angewiesene Lebendigkeit. Dies zeigt sich auch daran, dass auch von Tieren als näfäsch chaja gesprochen werden kann (vgl. Gen 9,10; Ez 47,9).

Mit den Tieren gemeinsam ist dem Menschen auch, dass er/sie „Fleisch“, basar ist. Damit ist einerseits die körperliche Substanz gemeint, die Ez 37,5f zufolge außerdem Knochen, Sehnen und Haut umfasst. Andererseits wird menschliche Lebendigkeit mit diesem Begriff in die Perspektive der Begrenztheit, der Vergänglichkeit und der Instabilität gerückt: „Alles Fleisch (basar) ist Gras“, heißt es in Jes 40,6. Dabei bezieht sich die fleischliche Instabilität auch auf die Gottheit des Lebens, JHWH, und deren lebensförderliche Weisung, denen gegenüber (sich) „alles Fleisch“ immer wieder versagt (vgl. Gen 6,12).

„Fleisch“ ist, damit es lebendig werden und den lebensförderlichen Willen Gottes verwirklichen kann, auf Gottes Lebenskraft angewiesen (vgl. Ijob 34,14f). Die göttliche Lebenskraft wird – und damit ist ein dritter zentraler ersttestamentlicher Lebensbegriff benannt – mit ruach bezeichnet (weitaus seltener mit neschama), oft als „Geist“ oder „Geistkraft“ übersetzt. Von der Grundbedeutung her meint ruach wahrscheinlich „bewegte Luft“ oder „Luft in Bewegung“, und bewegte Luft ist sowohl der „Atem“ als auch der „Wind“.

Dass und wie ein Mensch allein durch „Gottes Hauch“ belebt und lebendig wird, macht Ez 37,1-14 eindrücklich deutlich. In der berühmten Szene von der Wiederbelebung des Totenfelds wird erzählt, dass Ezechiel von Gott auf eine Ebene voller vertrockneter Knochen gebracht wird. Gott beauftragt den Propheten, diesen Knochen neue Lebendigkeit zuzusagen. Ezechiel tut dies, und in einem geheimnisvollen -Geschehen rücken die Knochen aneinander, werden durch Sehnen verbunden, mit Muskelfleisch umkleidet und mit Haut überzogen. So entstehen neue menschliche Körper – oder gewesene Körper neu. Was diesen Körpern allerdings noch fehlt, ist Lebendigkeit, Lebensatem – ruach (V8). Wiederum auf Ezechiels Wort hin kommt es zur Belebung der Körper (V9f): „Sie [die Lebendige] sprach zu mir: Rede prophetisch zur ruach! Rede prophetisch, Mensch, und sage zur ruach: So spricht die Lebendige, mächtig über allen: Aus den vier Windrichtungen (ruchot) komm herbei, ruach, und hauche in diese Zerschlagenen hinein, dass sie lebendig werden. Ich redete prophetisch, wie sie es mir aufgetragen hatte. Da kam ruach in sie und sie wurden lebendig. Sie richteten sich auf ihre Füße – eine sehr, sehr große Zahl war es.“ Gott selbst deutet das Auf(er)stehen der toten Gebeine als Befreiung der nach Babylonien verschleppten IsraelitInnen aus Hoffnungslosigkeit und Todesnähe und als Möglichkeit eines politischen Neuanfangs im Verheißenen Land. Einig Israel wird, so die göttliche Verheißung, unter dem messianischen König David im Lande Jakobs leben – unter Verwirklichung der Tora, in einem dauerhaften Friedensbund mit Gott, mit Gottes Heiligtum in seiner Mitte (Ez 37,15-28).

Die visionäre Erzählung zeigt nicht nur, dass Leben in erster Linie mit dem als Gabe verstandenen Atem/Atmen zusammenhängt, sondern auch, dass und wie Gottes Lebendigkeit die Grenzen des Todes überwindet und in den Tod hineinwirkt, ihn „verschlingt“ (vgl. Jes 25,8). Die Gabe der ruach geschieht an jedem und jeder einzelnen – und zielt zugleich auf gelingende weltlich-politische Gemeinschaft (37,11-28). Es sind die konkreten, durch Kriegsgewalt zerstörten Körper, die zusammengefügt und belebt werden. Ich verstehe dies als ein Zeichen dafür, dass Gott jede einzelne Lebensgeschichte, auch die gewaltsam und unzeitig abgebrochene, aufhebt, in sich birgt und zu Recht bringen wird. Die Lebensgeschichten der Einzelnen bleiben dabei eingebunden in die Geschichte des Volkes Israel inmitten der Völker, die Gott ebenso zu Recht bringen will – indem Gott Menschen Anteil gibt an seiner Todesstrukturen überwindenden Lebendigkeit. In diesem Sinne erweist sich JHWH als ein Gott „nicht der Toten, sondern der Lebenden“ (Mk 12,27). Und auch, wenn die Gabe der ruach an Gott gebunden und der Atem Gottes unverfügbar bleibt – Menschen3 ist es aufgetragen, an der Vermittlung dieser Lebens-Gabe mitzuarbeiten!

Auch das hebräische Wort leb oder lebab, meist mit „Herz“ wiedergegeben, hängt mit menschlichem Leben, menschlicher Lebendigkeit zusammen. leb bezieht sich zunächst auf das Organ in der menschlichen Brust (vgl. Jer 4,19); es kann auch für die Brust selbst stehen. Zwar bezeichnet das Herz gelegentlich verschiedene Gefühlsregungen, weitaus häufiger jedoch ist es Sitz intellektueller Fähigkeiten wie Vernunft, Einsicht, Bewusstsein, Gedächtnis, Urteilen und Orientierung (vgl. Gen 17,17) und Organ des Planens und Wollens (vgl. Dtn 6,5). Ähnlich wie näfäsch kann leb die Person als ganze meinen, wobei mit der Nennung des Herzens das Zentrum des bewusst lebenden Menschen fokussiert wird – also das, was heute mit Funktionen des Gehirns in Zusammenhang gebracht wird. Das Gehirn bzw. ein Lähmungen hervorrufender Schlaganfall ist vielleicht auch in 1 Sam 25,37f gemeint, wo es von dem als Dummkopf geschilderten Nabal heißt: „Am Morgen aber, als der Wein aus Nabal wich, da erzählte ihm seine Frau diese Vorfälle. Da erstarb (mut) sein leb in ihm und er wurde zu Stein. (38) Und ungefähr nach zehn Tagen, da schlug JHWH Nabal, und er starb (mut).“ Vielleicht könnte man sogar sagen, dass hier von einem Sterbeprozess erzählt wird, bei dem zunächst ein lebenswichtiges Organ abstirbt, während der Tod erst einige Tage später endgültig eintritt.4 Darin, dass er als durch einen „Schlag Gottes“ gewirkt beschrieben wird, kommt einmal mehr zum Ausdruck, dass der Mensch biblisch als allein durch den Atem Gottes belebt begriffen wird.


Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde

Wo es um die biblische Begründung der besonderen Würde des Menschen als „atmendes Leben“ geht, wird häufig auf die Gottebenbildlichkeit (vgl. Gen 1,26-28; Ps 8,5-7) verwiesen. Das dem Menschen mit der Gottebenbildlichkeit Zugesprochene wird unter AlttestamentlerInnen in aller Regel jedoch – jedenfalls zunächst – nicht auf „Seinsqualitäten“ des Menschen, sondern auf dessen Funktion im „Lebenshaus Erde“ bezogen: „Als ein Bild Gottes (gemeint ist: als Gottes lebendige Statue) ist er beauftragt, wie ein königlicher Hirte dafür zu sorgen, dass alle im Lebenshaus leben können. […] Der Mensch, jeder (!) Mensch ist eine Stellvertreterin / ein Stellvertreter des sich um das Leben sorgenden Gottes in Gottes Schöpfung.“5

Mit der Erzählung von der Sintflut, die auf das Überhandnehmen von Gewalttat auf Erden zurückgeführt wird, verändert sich dieser Auftrag – er schließt nun das Töten von Tieren zu Nahrungszwecken ein (vgl. Gen 9,1-4). Die Rede von der Gottebenbildlichkeit wird gleichwohl nicht aufgegeben; sie dient im Zusammenhang als Begründung dafür, dass tierisches Blut, das biblischer Überzeugung nach „Kraft des Lebens allen Fleisches“ ist (vgl. Lev 17,14), nicht genossen und menschliches Blut nicht vergossen werden darf: „Euer eigenes Blut aber will ich einfordern. Von allen Tieren will ich es einfordern, und von den Menschen untereinander will ich es einfordern. Wer das Blut eines Menschen vergießt, dessen Blut soll für den Wert des getöteten Menschen vergossen werden. Denn als Bild Gottes hat er den Menschen gemacht.“ (Gen 9,5f, Zürcher Bibel 2007)

Dadurch ergibt sich gleichsam im Rückblick, dass die Gottebenbildlichkeit, die dem Menschen aufgrund seiner Gebürtigkeit eignet,6 auch auf die Unverletzlichkeit und Unantastbarkeit, ja, die Heiligkeit menschlichen Lebens zu beziehen ist. Diese Heiligkeit jedes Menschenlebens steht unter Gottes Zusicherung und ist nicht primär an Vernunft- und Gewissensbesitz gebunden. Anders als in den auf das Kriterium des Hirntods aufbauenden rechtlichen Regelungen zur Organtransplantation – anders auch als in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die in Art. 1 auf Vernunft- und Gewissensbesitz verweist –, hängt die biblische Bestimmung lebendigen Mensch- bzw. Personseins nicht an der Funktionsfähigkeit des Gehirns.7

Im „Todesschattenland“ (vgl. Jes 9,1)

Was erfahren wir in der hebräischen Bibel über Sterben und Tod von Menschen? Wesentliches dazu wird bereits in Gen 2f gesagt: Die Menschen sind „Erdwesen“, geschaffen aus Ackererde; im Tod werden sie unweigerlich wieder zu Erde. Lebendiges, atmendes Leben wird das Erdgeschöpf allein durch
den Atem Gottes (vgl. oben zu ruach). Nimmt Gott seinen Atem zurück, tritt der Mensch in die Sphäre des Todes ein (vgl. auch Ps 104,29f). Trotz der Unentrinnbarkeit des Todes, um die auch die Paradieserzählung weiß, steht menschliches Leben unter der Perspektive der Dauerhaftigkeit und des Gelingens, die Ursprung und Ziel von Gottes Schöpfung ist.8 In diesem Sinne kennt das Erste Testament auch den Tod zur rechten Zeit und spricht dann davon, dass jemand „alt und lebenssatt“ stirbt (z.B. Gen 25,8 von Abraham). Solche Lebensfülle hängt damit zusammen, dass ein Mensch die ihm von Gott zugemessene Lebenszeit tatsächlich auskosten darf; wo menschliches Leben jedoch vor der Zeit durch Krankheit oder Gewalttat beendet wird, fehlt ihm diese Fülle.9

Der Tod selbst oder gar der Todeszeitpunkt werden in der hebräischen Bibel nicht definiert; vermutlich hat man das Sterben eher im Sinne eines Prozesses begriffen, der Klage-, Trauer- und Abschiedsrituale in den letzten Lebens- und ersten Todestagen, die Begleitung und Unterstützung der Hinterbliebenen sowie das Begräbnis umschließen konnte (vgl. z.B. Gen 25,5-11; 49,28-50, 26; 2 Sam 12,15-25). Die Würde von Verstorbenen oder Getöteten wird dabei immer wieder daran gebunden, dass sie eine Grabstätte bekommen und dass ihr Leichnam vollständig an diesen Ort verbracht wird (vgl. z.B. 2 Kön 22,20; Ez 39,11-16) – in diesem Sinne lässt sich Ez 37,1-14 auch so verstehen, dass Gott die Entwürdigung der im Krieg Ermordeten, deren Leichen offensichtlich liegengelassen wurden, nachträglich aufhebt (vgl. auch 2 Sam 21,1-1410). Nicht zuletzt, weil es die Erinnerung an die Betroffenen unmöglich macht.

Dass der Tod(eszeitpunkt) „an sich“ eher unbestimmt bleibt und das mit ihm zusammenhängende Geschehen eher prozesshaft erscheint, hängt auch damit zusammen, dass Tod und Leben in den biblischen Texten nicht streng getrennt sind, sondern dass Lebens- und Todessphäre vielfältig ineinander greifen. Die Macht des Todes ist präsent auch in Krankheiten, Anfeindungen, Schlägen und Traumatisierungen; sie wird als Abgeschnitten-sein von Gott als Kraft des Lebens empfunden, führt aber, etwa in den Psalmen, immer wieder zur Hinwendung zu Gott als Quelle des Lebens. Wie Lebenskrisen und Katastrophen als Todeserfahrungen gelten, so die Rettung daraus als Erfahrungen von Gottes todüberwindender Macht – individuell und kollektiv (vgl. z.B. Ps 22). In zahlreichen ersttestamentlichen Texten wird JHWH als eine Gottheit erlebt und herbeigesehnt, deren Lebendigkeit überwindend in die Sphäre des Todes hineinragt.11


Thesen aus der Perspektive einer Alttestamentlerin

-Menschliche Lebendigkeit an die Hirnfunktion zu binden, wie es in zahlreichen Verlautbarungen zur Organtransplantation geschieht, erscheint schöpfungstheologisch zutiefst fragwürdig. Der hebräischen Bibel zufolge macht uns nicht die Hirnleistung zu Menschen,12 sondern die Gottebenbildlichkeit im Sinne einer Sakralität, die jedem und jeder aufgrund von Gebürtigkeit von Gott her eignet.

– Wie Leben der hebräischen Bibel zufolge körperlich gebundenes Atmen – und zwar Atmen aus dem Atem Gottes – ist, ist Sterben die Rücknahme des menschlichen Atems durch und zu Gott. Biblisch-theologisch ist es deshalb überaus problematisch, den Tod des Menschen an den Tod des Gehirns bzw. den irreversiblen Ausfall von Hirnfunktionen zu knüpfen. Statt der „Tote-Spender-Regel“ mittels einer fragwürdigen Todesdefinition zu genügen, ist es m.E. angemessener, von „gerechtfertigter Tötung“ zu sprechen, mit der sich die/der Sterbende zu Lebzeiten einverstanden erklärt hat. Freilich gilt es dann auch, die Konsequenzen, die eine solche veränderte Sprachregelung nach sich zieht, in die Debatte um Organtransplantation einzubeziehen.

– Sterben erscheint auch biblisch als ein Prozess, der günstigstenfalls von Nahestehenden begleitet und im Ritual gemeinsam getragen wird. Wenn einem/einer Sterbenden ein Organ entnommen wird, sollten die ihm/ihr Nahestehenden auch und gerade während dieses Abschnitts des Sterbeprozesses mit dem/der Sterbenden sein und dies als Schritt ihres Abschiedsnehmens begreifen dürfen.

– Ein würdevoller Umgang mit Sterbenden/Toten und mit den Körpern Verstorbener ist ersttestamentlich zentral. Eine Organentnahme ist deshalb vor dem Hintergrund der hebräischen Bibel als Übergriff auf die Sphäre des/der Sterbenden zu begreifen. Dies ist schon dort problematisch, wo ein solcher Übergriff vom Betroffenen (oder Angehörigen) gewollt sowie medizinisch begründet und juristisch gerechtfertigt geschieht; es wird zutiefst fragwürdig, wo „Machbarkeitsideen“, ökonomische Interessen oder gar ein Handel mit Organen nicht auszuschließen sind.13

Viele biblische Texte erzählen von der Verheißung, dass Gott jedes Leben, auch jedes zur Unzeit abgebrochene Leben, „zu Recht bringen“ will. Diese Verheißung gilt sowohl denjenigen, die sich – zur Unzeit zu Tode kommend – mit einer Organspende einverstanden erklären, als auch denjenigen, die dies nicht tun.

– Leben/Lebendigkeit und Sterben/Tod sind zentrale biblische Themen – jedes für sich sehr vielschichtig und vielfältig miteinander verwoben. Es ist wünschenswert, dass solche Vielschichtigkeit in die Diskussionen um Hirntod und Organspende einbezogen wird – etwa im Hinblick darauf, was Leben und Sterben ausmacht, was ängstigt, was nicht zu wissen ist, im Hinblick auf Vorstellungen davon, wie Gott in Leben und Sterben zu wirken vermag. Fragen, die Menschen in diesem sensiblen Bereich beschäftigen, sind nicht als irrational abzutun. Es braucht gemeinschaftlichen Raum, vielleicht dem „Raum“ der biblischen Texte vergleichbar, in dem diese Fragen da sein dürfen – und damit der Respekt vor dem Geheimnis des Lebens und des Lebensendes.14

Immer wieder erzählt die hebräische Bibel davon, dass Gott nach Menschen sucht, die Gottes Lebendigkeit, Gottes Segenskräfte auf Erden wirksam werden lassen, die an der göttlichen Verheißung eines allen zukommenden Lebens in Fülle mitarbeiten. Wo die mit der Thematik verbundene Vielschichtigkeit, Widersprüchlichkeit und Verletzlichkeit wirklich einbezogen werden, können, so denke ich, Organspende und Organtransplantation als Möglichkeit der „Verheißungspflege“ begriffen werden – auch wenn dies biblisch nicht angedacht wird. Sie sind jedoch nicht die einzige Möglichkeit und dürfen den Menschen nicht als solche „verkauft“ werden. Der Ruf nach Organen „um jeden Preis“ wird weder dem Ersten Testament noch Organspender_innen und Organempfänger_innen gerecht.


Für die Arbeit in der Gruppe

Alle Kopiervorlagen für AbonnentInnen unter www.ahzw-online.de / Service zum Herunterladen vorbereitet

– Einführung: Rechtliche Grundlage der Organtransplantation ist die sog. dead-donor-rule, die Tote-Spender–Regel. Definiert wird dabei, dass ein Mensch lebt, solange sein Gehirn die Lebensfunktionen des Körpers steuert – bei vollständigem und irreversiblem Ausfall aller Hirnfunktionen („Hirntod“) ist ein Mensch tot.

Selbstverständlich lassen sich Vorstellungen und Erfahrungen in biblischer Zeit nicht ohne Weiteres mit unserem modernen medizinisch-naturwissenschaftlichen Konzept von Leben und Tod vergleichen – und doch lassen
sich aus biblisch-theologischer Sicht Beiträge zur Debatte formulieren.

näfäsch, ruach, leb, basar – das -Verständnis zentraler Lebensbegriffe wird in 4 Kleingruppen (arbeitsteilig) erarbeitet:

Textstellen ein- bis zweimal laut vorlesen; herausarbeiten, was das jeweilige Wort bedeutet; Erkenntnisse in Form eines kleinen „Lexikon-Artikels“ zusammenfassen und im Plenum vorstellen

4 Arbeitsblätter mit Textstellen:
näfäsch: Gen 2,7; Gen 9,5f;
Ps 42,2-5; Ps 103,1f; Ps 107,4-6.9
ruach: Jes 42,5-7; Ez 36,26f;
Ez 37,5.9f; Ps 33,6; Ps 104,28f
leb: Gen 17,17; Dtn 6,5; 1 Sam 25,37f; Jer 4,19; Spr 16,9
basar: Gen 2,21-24; Gen 6,12;
Jes 40,6f; Ez 37,5f; Hiob 34,14f

Nach Austausch im Plenum liest die Leiterin die Erläuterungen zu den Begriffen oben vor.

– Kapitel „Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde“ für alle kopieren und gemeinsam lesen – Impuls: Was bedeutet die Aussage, dass die „Heiligkeit“ und „Unantastbarkeit“ menschlichen Lebens nicht an die Funktionsfähigkeit des Gehirns gebunden ist? Ist das aus unserer Sicht ein wichtiger Punkt zur Meinungsbildung bzgl. -Organtransplantation?

– Kritische Thesen der Autorin (evtl. in Auswahl) kopiert (je 1 These pro Blatt) verteilen – jeweils einzeln vorlesen, erst in Murmelgruppen und dann im Plenum diskutieren. Wichtig ist das gemeinsame Nachdenken – es muss keine einheitliche Meinung am Ende stehen!

Lied: Gott gab uns Atem (EG 432)


Dr. Ruth Poser, geb. 1970, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Altes Testament am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg. Ihre Doktorarbeit verfasste sie zu dem Thema „Das Ezechielbuch als Trauma-Literatur“. Ruth Poser ist Preisträgerin 2012 des Hanna-Jursch-Preises.


Anmerkungen:

1) So Eckhard Nagel in einem Radio-Interview
(Quelle: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/interview/1889782/).
2) Vgl. Margareta Gruber / Andreas Michel, Art. Leben, SWB (2009), 339-343, 340f.
3) Ezechiel wird immer wieder, auch in dieser Erzählung, als Mensch angesprochen!
4) Vgl. Hans Walter Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, Gütersloh 72002, 69f., 166.
5) Georg Steins, Für alle(s) gibt es Zeit. Schöpfung als Zeitbotschaft (Gen 1,1-2,3), BiKi 58/1 (2003), 6-11, 8.
6) Vgl. hierzu noch Gen 5,1-3
7) Vgl. auch Andreas Ruwe, Art. Menschenrechte, SWB (2009), 376-380, 376f.
8) Vgl. Frank Crüsemann / Marlene Crüsemann, Art. Tod, SWB (2009), 586-589, 586; Wolff, Anthropo-logie, 172f.
9) Vgl. Ute Neumann-Gorsolke, „Alt und lebenssatt…“ – der Tod zur rechten Zeit, in: A. Berlejung / B. Janowski, Tod und Jenseits im alten Israel und in seiner Umwelt, Tübingen 2009, 111-136.
10) Vgl. dazu ausführlich Luise Metzler: Das Recht Gestorbener. Rizpa als Toralehrerin für David (2 Sam 21,1-14). Inaugural-Dissertation zur Erlangung der theologischen Doktorwürde im Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg, vorgelegt 20. Mai 2012
11) Vgl. Crüsemann/Crüsemann, Art. Tod, 588f.
12) So Frank-Ulrich Montgomery bei einer Podiumsdiskussion in Hannover im Februar 2012 (Quelle: www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/medizinethik/article/805434/heftige-kontroverse-wann-mensch-tot.html)
13) Vgl. Christoph Rehmann-Sutter, Organe spenden? JuKi 73/2 (2012), 55-57.
14) Vgl. Katharina Friebe, Organspende ohne Wenn und Aber? JuKi 73/4 (2012), 29f.

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