Ausgabe 1 / 2012 Andacht von Hanna Manser

Du stellst meine Füße auf weiten Raum

Die europäische Heimat ins Gebet nehmen

Von Hanna Manser


In kaum einem Poesiealbum fehlt sie, die dringende Mahnung: „Vergesse nie die Heimat, wo deine Wiege stand. Du findest in der Ferne kein zweites Heimatland.“

Heimat – das ist eine Landschaft, ein Gefühl von Geborgenheit und auch Weite.
Heimat, das sind vertraute Menschen, das ist, wo ich Gäste empfangen kann …

Heimat, das ist für mich … – Hier können die Anwesenden ergänzen.

Eine Frau erzählt: Als Kinder der 60-er Jahre des 20. Jahrhunderts, im Osten Deutschlands aufgewachsen, haben wir im Schulchor das Lied gesungen:

Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer,
unsere Heimat sind auch all die Bäume im Wald.
Unsere Heimat ist das Gras auf der Wiese,
das Korn auf dem Feld und die Vögel in der Luft
und die Tiere der Erde
und die Fische im Fluss sind die Heimat.
Und wir lieben die Heimat, die schöne,
und wir schützen sie,
weil sie dem Volke gehört,
weil sie unserem Volke gehört.(1)

Die sehnsüchtige Sentimentalität, die da mitschwingt, konnte ich als Kind
nicht verstehen. Ich war zu Hause, sicher und selbstverständlich.

Als ich älter war, bekam ich noch einen anderen Blick auf das Thema Heimat: Im Tagebuch meines Vaters aus der Gefangenschaft 1945 lese ich: „Es scheint jetzt, gegen Ende des August 1945, doch soweit zu sein, daß wir Gefangenen uns mit begründeter Hoffnung auf die Rückkehr in die Heimat in absehbarer Zeit freuen dürfen – die ersten Bekannten sind schon unterwegs.“ Heimat hat für Frauen und Männer in der unfreiwilligen Fremde eine so große Bedeutung.

Während des Bosnien-Krieges 1992-1994 hat eine Familie aus Dubica bei uns gelebt. Jetzt, wo sie wieder in ihrer Heimat sind, erlebe ich sie bei unseren Besuchen selbstbewusst und sprachfähig. Damals, als Flüchtlinge, waren sie stumm und störrisch. Ihnen war die Heimat genommen, ja auch zerstört. Sie konnten ihre Muttersprache nicht sprechen, nicht auf vertraute Weise Essen kochen, nicht auf ihren Feldern und in ihren Gärten arbeiten. Die ihnen vertrauten Menschen waren fern, sie wussten nicht wo und wie sie leben.

An dieser Stelle kann Psalm 31 (Verse 1-4, 9-10, 15-17) gelesen werden als Gebet einer Frau, die in der Fremde leben muss. Ich empfehle die Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache – dadurch versinken diejenigen, die den Psalm kennen, nicht gleich in alte Vertrautheit.

2 Bei dir, Lebendige, berge ich mich.
Lass mich niemals zugrunde gehen.
In deiner Gerechtigkeit lass mich entrinnen.
3 Neige mir zu dein Ohr! Rette mich, schnell!
Sei mir ein schützender Fels, ein bergendes Haus, mich zu befreien.
4 Ja, mein Fels und meine Bergung
bist du allein.
Um deines Namens willen zeige du
mir den Weg und begleite mich.

9Du hast mich nicht in feindliche Hand ausgeliefert.
Du stellst meine Füße auf weiten Raum.
10 Neige dich mir zu, Lebendige
Dunkel vor Kummer mein Auge, meine Kehle, mein Leib.

15 Ich aber, auf dich vertraue ich, Lebendige.
Ich spreche: Mein Gott bist du!
16 In deiner Hand ruht meine Zeit.
Reiß mich aus der Hand derer, die mich befeinden und mich verfolgen.
17 Lass dein Antlitz über mir leuchten – ich gehöre zu dir.
Rette mich durch deine Freundlichkeit.

Heimat Europa bauen

In ganz Europa leben Frauen, deren Familiengeschichte vom Verlust der Heimat geprägt ist. Bei einer Begegnung erzählen Russinnen, Belarussinnen, Ukrainerinnen, Polinnen und deutsche Frauen einander ihre Geschichten.
– Eine Hamburgerin ist als Baby mit Mutter und Geschwistern aus Pommern geflohen.
– In Niederschlesien leben Polen, die aus der heutigen Ukraine vertrieben wurden.
– In Kaliningrad wohnen Frauen und Männer, deren Eltern in der Kaukasus-Region Haus und Hof hatten. Sie wurden deportiert nach Sibirien.
– In Siebenbürgen/Rumänien wohnen Deutsche, deren Vorfahren vor 300 Jahren ausgewandert sind. Noch heute heißt ihre Zeitschrift: „Kirche und Heimat“.

Sie alle bleiben nicht dabei zu barmen über das, was gewesen ist. Sie vertrauen auf Neues, das sie selbst mitgestalten. Sie sind offen für das gemeinsame „Haus Europa“. Darum haben sie sich einladen lassen einander zu begegnen. Sie singen gemeinsam die alten Lieder und auch neue wie „Laudate omnes gentes“ oder „Wenn das Brot, das wie teilen“. Sie laden sich gegenseitig ein, feiern und essen gemeinsam. Sie entdecken im Fremden Vertrautes. Sie lesen gemeinsam in der Bibel, vor allem das Buch Ruth bewegt immer neu. Sie sind informiert über ungerechte Strukturen und engagieren sich in Projekten. Und sie tanzen. So leben sie ihren Glauben und beten: „Du, Gott, stellst meine Füße auf weiten Raum.“ Sie blicken hinaus ins Weite.

Sie entwickeln in den Begegnungen ein Wir-Gefühl für die Heimat Europa. Denn nicht die gleiche Währung des Euro im Portemonnaie lässt Verbundenheit entstehen, sondern die Begegnung, das gemeinsame Tun und das gegenseitige Hören. Christinnen erzählen nicht nur von alten Zeiten, sondern gehen neue Wege. Sie pflegen Gastfreundschaft und pflanzen Gärten. Ein gemeinsames Europa entsteht in ihren Herzen und durch ihre Hände. Der Schmerz beim Hören vom Verlust von Haus, Herd und Hof wird aufgehoben im Vertrauen auf Neues. Eine sagt: „Auf der Suche nach Heimat frage ich nicht mehr nach dem Land, wo mich die Mutter geboren hat, sondern ich suche nach den Kräften, die meine Mütter hatten, um in die Zukunft zu gehen.“

Jeder Lebensfluss ist einmalig und ist doch aufgenommen im Strom des Lebens, der alle trägt, aufhebt und verbindet. Die alte Frau in der heutigen Westukraine erzählt, dass sie in ihrem Leben nie umgezogen ist und doch in vier verschiedenen Ländern gewohnt hat, weil das Gebiet besetzt war und daher schon zu Polen, zu Österreich und zu Russland gehörte. „Aber wenn Ihr uns besucht und wir hier erzählen können und gemeinsam singen, dann weiß ich, dass es noch eine ganz andere Heimat gibt!“ Für diese Heimat Europa setzen Frauen sich ein. Bei Besuchen und an den Orten wo sie wohnen, in der Begegnung mit Menschen, die zugezogen sind aus einem anderen Kulturkreis.

Aus dem Wort Heimat ist in den letzten Jahrzehnten ein Verb entstanden: „beheimaten“. Verben sind Tätigkeitsworte. Ich kann tätig werden, eine Heimat zu bauen – für mich wie für andere.

Ikone für Europa

Aus Rumänien stammt Marianna Lepadus; sie kam 1988 nach Lutherstadt Eisleben. Dort hat sie sich beheimatet mit ihren Bildern. Sie malt die Landschaft des Mansfelder Landes mit kräftigen Farben, wie sie es aus ihrer Heimat liebt. Sie nimmt aber auch die Tradition ihrer neuen Heimat auf, zu der gehören die Mystikerinnen von Helfta (denn das Kloster Helfta liegt vor den Toren von Eisleben). Für das Ökumenische Forum Christlicher Frauen Europas (ÖFCFE) hat sie ein ganz besonderes Bild geschaffen – die „Ikone für Europa“.(2) Mit dieser Ikone begibt die orthodoxe Christin sich in den Dialog mit anderen Christinnen Europas.

Kopien des Bildes (S. 26/27) verteilen (wenn möglich in Farbe – für AbonnentInnen unter www.ahzw-online.de / Service zum Herunterladen vorbereitet). Dann sollte Zeit für die gemeinsame Betrachtung und einen ersten Austausch gegeben werden. Die folgenden Erläuterungen lässt die Leiterin einfließen oder liest sie anschließend vor.

Das Bild ist in die Form eines Kreises eingeschlossen. „Kreis bedeutet Fülle, Reichtum, Gabe, auch Freude, Achtung, Wert. Was uns wichtig ist, kreisen wir ein, was uns lieb ist, umringen wir.“ (Heinrich Rombach)

Das Bild innerhalb des Kreises besteht aus sieben einzelnen Teilen, die zu -einem Ganzen zusammengefügt sind. Verbindende Elemente sind neben den Farben auch die dargestellten Symbole. Symbole lassen viele Deutungsmöglichkeiten offen. Da gibt es nicht richtig oder falsch; es gibt nur „Erfahrung mit“.
Der Fluss des Lebens fließt von der trauernden Mutter mit ihrem Kind im Arm vorbei an dem Paar, das im Gespräch ist, und weiter zum Fuß des Kreuzes. Er endet auch dort nicht, sondern führt immer weiter – als ob dieser Lebensstrom hinaus wollte aus dem Bild.

Auf der gegenüberliegenden Seite, im selben Bildausschnitt mit dem goldenen Dreieck, tragen ausgestreckte Arme die Erdkugel. Das ist Fürbitte. Oder halten sie der güldenen Sonne Hoffnung und Sehnsucht entgegen? Die aufstrebende Bewegung wird im obersten Bildausschnitt fortgeführt: Die Hand empfängt und entlässt den Fisch, das alte Symbol für Jesus Christus.(3) Durch die Geschichte des Propheten Jona ist der Fisch auch das Zeichen des Neugeborenwerdens. Das Bild rechts unten stellt die Priesterin dar, die segnend vielfältige Handlungen begleitet: Bibel-Studium, Geldspenden, Kinder beschützen.

Die Farbe Rot bestimmt die Mitte des Bildes. Rot symbolisiert die Liebe und assoziiert Blut. Nah liegen Liebe und Leid beieinander. Der feurige Geist wird mit diesem Rot lebendig, das ja auch die liturgische Farbe zu Pfingsten und am Tag der Märtyrerinnen und Märtyrer ist. Das Gesicht dieser Frau scheint in Zwiesprache zu sein mit der Trinität, dem goldenen Dreieck links auf der Ikone. Als „Auge Gottes“ wird es wahrgenommen und drückt den Raum aus, der uns gewährt wird, um Erfahrungen von Gottesnähe, von Heimat bei Gott zu machen.

Im nachsinnenden weiblichen Antlitz entdecken viele den Engel, der verbindet mit der neuen geistlichen Kraft. Diese Geistkraft ist es, die uns vertrauen lässt. Sie weiß um vergangenen Schmerz. Sie lässt uns versöhnt werden. Sie legt uns den Arm um die Schulter, wenn wir die Heimat Europa ins Gebet nehmen.

Nach weiteren Entdeckungen und Assoziationen durch die Teilnehmenden kann die Andacht abgeschlossen werden mit einem besonderen Segen.(4) Die Frauen werden gebeten, sich stehend jeweils in die benannte Himmelsrichtung zu wenden. Dafür sollte genügend Zeit vorgesehen werden: Viele Frauen haben in ihrem Leben noch nie einen Segen zugesprochen.

Segen der vier Himmelsrichtungen

Du Gott des fließenden Lichtes: Wir -rufen deinen Segen vom Osten her.
Wir bitten um die Kraft der aufsteigenden Sonne,
die Kraft des Feuers,
des fließenden Lichts.
Dein Segen schenke uns die Kraft der Inspiration, damit eine neue Vision vom Leben entsteht, hell und klar.
So sei es. Amen.

Du Gott der Gerechtigkeit: Wir rufen deinen Segen vom Süden her.
Wir bitten um die Kraft des Wassers, das reinigt und erneuert.
Wo die Quelle der Gerechtigkeit versiegt, dörrt das Leben aus.
Dein Segen schenke uns die Kraft der Gerechtigkeit, damit eine neue Vision vom
Leben entsteht, lebendig und -gerecht.
So sei es. Amen.

Du Gott des Erbarmens: Wir rufen deinen Segen vom Westen her.
Wir bitten um die Kraft der Erde, die Halt gibt und uns wurzeln lässt.
Wo Menschen nur an sich selbst denken, kann Leben nicht wachsen.
Dein Segen schenke uns die Kraft des Erbarmens, damit eine neue Vision vom Leben entsteht, dauerhaft und fruchtbar.
So sei es. Amen.

Du Gott des Friedens: Wir rufen deinen Segen vom Norden her.
Wir bitten um die Kraft des Windes, der nicht ruhen lässt, was zerstritten ist.
Wo Menschen friedlos sind, kann Leben nicht gedeihen.
Dein Segen schenke uns die Kraft des Friedens, damit eine neue Vision vom Leben entsteht, mutig und entschieden.
So sei es. Amen.

Lieder:
Vertraut den neuen Wegen (EG 395)
Füße hast Du und Flügel
Wenn das Brot, das wir teilen

Hanna Manser, geb. 1952, ist in Sachsen-Anhalt aufgewachsen und hat Evangelische Theologie in Jena studiert. Die Pfarrerin und Systemische Therapeutin ist seit 2001 in der Osteuropa-Arbeit engagiert. Seit 2010 arbeitet sie auf der Projektstelle für Osteuropäische Begegnungen und interkulturellen Dialog bei der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland.

Anmerkungen:
1 Nachzuhören unter: http://www.myvideo.de/watch/6457306/Pionierlied_Unsere_Heimat
2 Evtl. informieren: Eine Ikone ist ein Bild mit biblischem Inhalt oder aus der Tradition der Heiligenlegenden. In der Tradition besonders der Orthodoxen Kirche werden Ikonen verehrt und für den Gebrauch in der Kirche und zu Hause geweiht. In diesem strengen Sinn ist dieses Bild keine Ikone. Doch auch sie ist lebendig im Gebrauch und eröffnet das Gebet und den Dialog.
3 Fisch = griech.: ICHTHYS = Anfangsbuchstaben für: Jesus Christus, Gottes Sohn, Retter (Heiland)
4 entstanden 2002 im Ökumenischen Frauenteam – katholischen und evangelischen Frauen aus dem Bistum Magdeburg und der Frauenarbeit KPS

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