Sissel Tolaas hat kein Auge für die luxuriöse Einrichtung des Sterne-hotels. Stattdessen riecht sie: an Vorhängen, Möbeln und Treppengeländern. Tolaas ist eine Protagonistin der ARD-Dokumentation „Angriff auf die Sinne“, die zeigt, wie sich Menschen unbewusst manipulieren lassen.
Von einer Hotelkette hat die Duftexpertin Tolaas den Auftrag bekommen, einen unverwechselbaren Geruch zu kreieren, den „corporate smell“. Er soll Kundinnen und Kunden zum Wiederkommen verführen. Nach einem halben Jahr des Herumschnüffelns steht die Entscheidung fest: Nach Schnee, Bergen und Geld werden künftig die Lobbies der Hotelkette in aller Welt duften.
Die Norwegerin hat ebenso bestimmt, wie ein Volvo-Neuwagen riecht, und wie das Geruchsambiente im Einrichtungshaus IKEA ist. Geruch als Mittel der nonverbalen Kommunikation ist unterschätzt, davon ist Tolaas überzeugt. Unternehmen in der Branche der Geruchskommunikation haben beispielsweise bereits einen „Vertrauensduft“ entwickelt, bei dem Vanille eine entscheidende Rolle spielt. Denn Muttermilch schmeckt leicht nach Vanille. Und auch das Wissen, dass der Duft von Babyhaut Aggressionen abbaut, kann man sich zu Nutzen machen und künstliches Babyhaut-Aroma versprühen.
Das weißblonde Haar trägt die 50-jährige Tolaas als exakten Bob, der Lippenstift ist bei öffentlichen Auftritten immer geschmackvoll auf das Outfit abgestimmt. Die Dame ist sich aber keinesfalls zu schade dafür, im Dienste der Forschung radikale Experimente zu wagen. So ging sie im Abendkleid ins Konzerthaus, eingesprüht mit dem Schweißgeruch eines Mannes. „Das war kein Spaß, sondern eine Feldforschung zur Identität. Ich habe wie ein Stinktier gerochen. Meine gepflegte optische Erscheinung passte nicht dazu“, offenbarte Tolaas in einem Interview mit der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ). Während die Damen irritiert auf Abstand gingen, seien die Herren eher fasziniert gewesen.
Sissel Tolaas ist behütet als älteste von sechs Töchtern in Norwegen aufgewachsen. Ihre erste Erinnerung hängt zusammen mit Gestank und ihrem Dreirad. Dieses fiel in den Abwasserkanal. Keiner wollte es herausholen. An den Geruch erinnert sie sich genau, zusammen mit dem Bild vom roten Rad in der braunen Kloake. Ihre berufliche Auseinandersetzung mit Gerüchen begann, als Chemikalien, die sie für ein Kunstprojekt mischte, unerwartet unter Entfaltung von großem Gestank reagierten.
Angst, ungewöhnliche Wege zu beschreiten, hatte Sissel Tolaas nie. Zum Studium ging sie unter anderem nach Leningrad und Warschau – mitten im Kalten Krieg. Dort und in Norwegen und England studierte sie Mathematik, Chemie, Linguistik und Kunst. An der Harvard University hatte sie einen Lehrauftrag für Unsichtbare Kommunikation. Kernaspekt dabei ist das Atmen: 23.073 Mal atmet der Mensch täglich ein und aus. Mit jedem Atemzug bewegt er Unmengen von Molekülen in seinen Körper hinein. Was löst das aus?
Über Geruch lassen sich eine Vielzahl von Informationen über eine Person wahrnehmen. „Es macht einen Unterscheid, ob Schweiß aus Angst, Lust oder körperlicher Anstrengung entsteht. Ich kann mittlerweile riechen, ob Leute glücklich sind oder Sorgen haben“, behauptet Tolaas in dem schon erwähnten HAZ-Interview. Duftnoten entscheiden über Sympathien und erotische Ausstrahlung. Dass wir uns für bestimmte PartnerInnen entscheiden, hängt auch mit deren Geruch zusammen. Der individuelle Duftcocktail gibt Hinweise auf die genetische Ausstattung eines Menschen. Fachleute glauben, dass wir unbewusst Sexualpartner suchen, deren Erbgut mit unseren Genen harmonisiert.
Tolaas hat sich beigebracht, Gerüche als gleichwertig zu betrachten und nicht in „gute“ und „schlechte“ zu unterscheiden. Ein edles Parfum ist für sie gleichermaßen interessant wie Schweiß. Nach jahrelangem Training gibt es für sie keinen Gestank mehr. Was andere irritiert, lässt ihre Nasenschleimhäute kalt. Selbst ein Hunde-haufen rieche für sie nicht übel, sagt Tolaas, sie könne diese Kombination von Molekülen als wertneutrale Information aufnehmen.
Mit ihrer zwölfjährigen Tochter hat sie ein Experiment gemacht. Gemeinsam spazierten sie zwischen den Gehegen des Berliner Zoos umher, auf der Suche nach unangenehmen Gerüchen. Ob die Exkremente eines Kamels oder der Mief im Raubtierhaus – die Auswahl war groß. Mit ihrem „headspace-Gerät“, einer Art Mini-Sauger, der Duftmoleküle anzieht, nahm Tolaas Proben. Nachdem sie den Geruch von Puma und Panther in ihrem Labor chemisch imitiert hatte, ließ sie ihre Tochter daran schnuppern. Immer wieder. Als Mutter und Tochter den Zoo einige Wochen später nochmals besuchten, trat ein, was Tolaas vermutet hatte: Ihre Tochter empfand die ursprünglich unangenehmen Gerüche nicht mehr als „ekelig“.
In unserem westlichen Kulturkreis gilt Schweißgeruch als eklig. Die Menschen sind so konditioniert, dass der Geruch von Schweiß nicht als interessante Quelle von Informationen gesehen wird, sondern als etwas, das vermieden werden muss.
Der Wunsch, nicht zu schwitzen, kam aus dem Verlangen der oberen Gesellschaftsschichten, sich von körperlich arbeitenden Menschen abzugrenzen. So verkündete George Orwell: Das Geheimnis der Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Klassen könne zusammengefasst werden in vier Worten „the lower classes smell“. Also: Wen man riechen kann, der gehöre zu der Unterschicht. Daher lassen sich Menschen leicht unzählige Sprays und Lotionen aufschwatzen, um ihren körpereigenen Geruch zu überdecken.
Tolaas nennt Menschen aus dem westlichen Kulturkreis „geruchsblind“. Sie sind ständig künstlichen Gerüchen ausgesetzt – von parfümiertem Toilettenpapier bis hin zum künstlich erzeugten Aroma von frischem Brot im Supermarkt. So nehmen wir keine natürlichen menschlichen Ausdünstungen mehr wahr und sind unsensibel demgegenüber geworden, was sie uns mitteilen könnten, bedauert Tolaas. „Ich finde es schade, dass die Geruchsidentität der Menschen überdeckt wird. Meist wissen die Leute gar nicht, womit sie sich einsprühen: Katzensekret, Flüssigkeiten von anderen Tieren. Das ist doch absurd.“
Tolaas lebt unweit des KaDeWe, einem Luxus-Kaufhaus in Berlin mit riesiger Parfum-Abteilung. Dieser Ort ist keinesfalls ein Paradies für sie. Im Gegenteil: Sie findet Körpergerüche und das Dunstaroma von Städten faszinierender.
Statt an teuren Flacons zu schnuppern, pflegt die Duftforscherin lieber ihr eigenes Archiv von etwa 9.000 Gerüchen. Aus der ganzen Welt sammelt sie, was ihre Nase reizt, und bewahrt die Fundstücke in luftdichten Containern auf. In der Sammlung befinden sich schmutzige Stoff-Fetzen, verrottete Bananen und getrockneter Fisch. „Ich hatte schon viele Diskussionen mit Sicherheitsbeamten an Flughäfen“, sagt sie. Diese gesammelten Gerüche analysiert sie auf ihre Molekül-Zusammensetzung hin und bildet sie nach. Die im Labor erzeugten Düfte verwendet Tolaas dann für ihre Projekte. Sie sieht sich nämlich nicht nur als Wissenschaftlerin, sondern auch als Duftkünstlerin.
Neun Schweißduftnoten hat Tolaas zum Beispiel im Arts Center des M.I.T. in den Vereinigten Staaten ausgestellt.(1) Dafür sammelte sie Schweißproben von Männern aus Russland, Amerika, Europa, Indien und China. Diese persönlichen Duftnoten baute Tolaas synthetisch nach, ließ die Schweißaromen in Mikrokapseln aus Kunststoff einschließen und in Farbe mischen. Ausstellungsbesucher konnten an den Wänden der Galerie reiben, um den Duft freizusetzen. Bei einer Ausstellung in Berlin im Haus der Kulturen der Welt inszenierte Tolaas Metropolen-Düfte: Säulen dünsteten aus, was London oder New York olfaktorisch ausmacht. Keine Maiglöckchen, sondern heißer Asphalt, wabernde Kanalgerüche und Autoabgase. Die Parfümindustrie wäre entsetzt. Tolaas aber preist ihre Kreationen als Begegnung mit der Wirklichkeit.
Tolaas provoziert gerne, aber nicht als Selbstzweck. Am liebsten macht sie andere Menschen eine Freude, mischt zum Beispiel für einen Freund den Duft von frisch geschnittenem Gras, den er im Winter vermisste. Den Geruch, den Tolaas von allen am meisten liebt, muss sie nicht mühsam nachbauen: „Meine Tochter riecht fantastisch. Ihr Geruch macht mich glücklich“, sagt die Duftforscherin.
Annette Leyssner hat European Studies in Norwich (England) und European Politics in Cambridge studiert. Nach ihrer journalistischen Ausbildung
hat sie u.a. bei Chrismon und der Berliner Zeitung mitgearbeitet.
Mehr unter: www.leyssner.de
Anmerkungen:
1 M.I.T. steht für Massachusetts Institute of Technolog – eine private Technische Hochschule. Es gilt als weltweit führend für technologische Forschung und Lehre. Zum Institut gehört auch das „Arts Center“ – eine Art Kunstgalerie.
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