Ausgabe 1 / 2007 Artikel von Ivoni Richter Reimer

Durst auf Leben

Von der Notwendigkeit gegenzusteuern

Von Ivoni Richter Reimer

Wasser wird weltweit knapp, aber in den verarmten Ländern wird es noch viel knapper. Noch vor einigen Jahren schienen die weltweiten Wasservorräte unerschöpflich. Heute wissen wir, dass sie alle in Gefahr sind – durch Übernutzung, durch Verunreinigung mit Schadstoffen und, nicht zuletzt, durch Vergeudung.

In Deutschland verbraucht ein Mensch durchschnittlich 118 Liter Wasser täglich, in den USA sind es knapp 400 Liter. Zum Überleben jedoch braucht ein Mensch nur 3 Liter! Auch andere UN-Statistiken sind erschreckend: 70% des Süßwassers fließen in die Landwirtschaft der ersten Welt. Unheimlich viel Geld wird zum Erhalt der Süßwasservorräte benötigt. Nach UN-Angaben sind es in der Welt 30 Milliarden Dollar (etwa 30 Milliarden Euro), die um wenigstens 14 bis 30 Milliarden angehoben werden müssten. Gleichzeitig sterben jährlich drei Millionen Menschen an Krankheiten, die mit verseuchtem oder infiziertem Wasser zu tun haben. 1,2 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, und in der Welt leben 2,4 Milliarden Menschen ohne zeitgemäße Sanitäranlagen. Diese Zahlen sind nicht „nur Zahlen“ – sie hängen mit Leben und Tod zusammen. Diese Zahlen veranschaulichen nicht nur unsere gegenwärtige Realität, sie kündigen eine friedlose und ungerechte Zukunft an.

Nicht nur Menschen leiden, sondern die ganze Schöpfung leidet unter diesem alarmierenden Zustand: 41% der kontinentalen Landflächen der Erde sind inzwischen von Desertifikation (Wüstenbildung) betroffen. Dieses Jahrhundert wird von englischen WissenschaftlerInnen schon als das „Jahrhundert der Dürre“ bezeichnet. Auffälligste Folge dieser Desertifikation ist der Rückgang der Vegetation. Ein verhängnisvoller Kreislauf von wachsender Trockenheit, Erosion und zunehmender Versalzung der Böden beginnt. Überschwemmungen, die Abnahme von verfügbaren Kulturflächen, Flucht der von der „Verwüstung“ betroffenen Bevölkerung in die Städte, andere Regionen oder Nachbarstaaten sowie die zunehmende Abhängigkeit von auswärtiger Hilfe gehören zu den Problemen, die Millionen von Menschen betreffen.

Viele Forschungen deuten darauf hin, dass Wasserstoff der Treibstoff der Zukunft sein wird – wie heute z.B. das Erdöl. In Hamburg werden seit 2002 im Straßenverkehr von Daimler-Chrysler drei H2-Busse getestet, die emissionsfrei fahren sollen. (H2 ist die chemische Formel für Wasserstoff.) Auch im Haushalt soll Wasserstoff als Energiequelle für Wärme- und Stromversorgung gebraucht werden. Nach und nach sollen die Ölprodukte von diesem neuen Treibstoff ersetzt werden. Solche technologischen Experimente und Visionen könnten auf den ersten Blick als „Öko-Tipp“ gelten. Aber berücksichtigen sie auch die Gefährdung der Wasservorräte? Oder geht es auch hier wieder einmal nur um eine lukrative neoliberale Strategie? Wird es den „Wasser-Ländern“ in näherer Zukunft vielleicht so ergehen wie heute den „Öl-Ländern“? Kriege um Öl – Kriege um Wasser?


Richtungswechsel

Der alarmierende Zustand stellt uns vor die Herausforderung, aktiv für den Schutz des Lebens einzutreten und uns alltäglich umweltgerechter zu verhalten. Alle Menschen und Institutionen von West und Ost, Nord und Süd sind aufgerufen, den Kollaps zu vermeiden, indem wir alle einen neuen Weg gehen lernen. Dabei sind radikale Änderungen erforderlich, grundsätzlich andere Verhaltensweisen gegenüber der Umwelt und bei der Nutzung der natürlichen Ressourcen. Dringend notwendig ist eine die Umwelt schonende technologische Revolution, getragen von der politischen Überzeugung, dass das „Weiter so“ kein unumstößliches Naturgesetz, dass eine andere Welt möglich, machbar ist.

Aber wie? Zu einer umweltfreundlichen und -gerechten Revolution gehört zunächst eine tief greifende Veränderung unserer Mentalität. Diesen Ansatz verfolgten schon die Initiativen um das „Jahr des Süßwassers“ der Vereinten Nationen 2003. Ein solcher grundlegender Richtungswechsel ist jedoch nur möglich, wenn eine umweltgerechte Bildung und Wirtschaft in allen Bereichen unseres Lebens und überall auf der Welt passiert. Dabei müssen sich auch – und vielleicht besonders – Kirchen und Theologien in Politik und Wirtschaft einmischen. Müssen ihre auf biblischen Geschichten basierenden Weltanschauungen in die Bewegung der metanoia – der Umkehr – einbringen. Dazu können sie auf uralte, aber bis heute lebendige Wurzeln zurückgreifen.


Wasser in Religion und Theologie

Wer bewundert nicht die den Wellen innewohnende Kraft, die das Wasser hin und her bewegt, sich im Schleier der Wasserfälle verbirgt und in der Strömung der Flüsse spielt? Wer freut sich nicht über den Regen zur rechten Zeit, über den Regenbogen, der Zeiten des Glücks und des Friedens ankündigt? Wer fürchtet sich nicht vor den Rissen der ausgetrockneten Erde, in denen Verdurstete liegen und die Pflanzen den Todeskampf der Menschen teilen?
Wer erschreckt nicht vor Bildern von Tsunamis?

In den Religionen ist das Wasser ein zentraler Begriff, ein Symbol für Lebens- und Glaubenserfahrungen. In vielen Schöpfungserzählungen weist das Wasser gleichzeitig auf die Ursprünge des Lebens, auf das Chaos und auf den Tod. Es verkündigt die Möglichkeit eines Lebens in Fülle – und konfrontiert uns zugleich mit der Drohung des Unglücks. Zu viel oder zu wenig Wasser kündigt die Gegenwart des Todes an – es gibt Dürre und Flut! Und wenn es dem Wasser so ergeht, dann leiden darunter alle anderen Kreaturen. Seit Anbeginn sind die verschiedenen Glieder der Schöpfung durch Leben und Tod zutiefst mit dem Wasser verbunden.

Wasser der Ursprünge
Das Wasser enthält ein großes Geheimnis, das mit der Lebensenergie zu tun hat, die, einmal gespeichert, an alle Pflanzen, Tiere und Menschen weitergegeben wird. So konnte Thales von Milet (5. Jh. v.Ch.) schon sagen, das Wasser sei das Prinzip aller Dinge. Diese Erkenntnis ist auch ein Teil jüdischen Bekenntnisses: Am Anfang war Wasser, über dem der Geist Gottes schwebte, und in dem er wirkte, und aus dem viel Leben entstand (Gen 1,1-10.20-23). Das mag vielleicht das Geheimnis erhellen, warum „alles durch das Wasser erhalten wird“ (Goethe).

Aber obwohl die Bibel mit einem solchen schönen und tiefen poetisch-mytischen Teil beginnt, werden Christentum und Judentum seit Mitte des 20. Jahrhunderts oft für die Beherrschung und teilweise auch Zerstörung der Natur verantwortlich gemacht. Das hängt mit einer nur auf die Menschen und ihren Nutzen bezogenen Auslegung von Gen 1,28 zusammen, wo Gott Mann und Frau mit den Worten segnet: „Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und beherrscht …“ Die ökologische Krise, so heißt es, sei eine Konsequenz dieses biblischen Textes und seiner Interpretation. Nun ist nicht zu leugnen, dass Theologie und Kirchen über Jahrhunderte mit dem Kolonialismus und Kapitalismus Hand in Hand gegangen sind. Erst seit kurzer Zeit – nach einer befreienden Bibellektüre, die verarmte und an den Rand der Gesellschaft gedrängte Kinder, Frauen und Männer im Zentrum der Frohen Botschaft sieht – wird eine Schöpfungstheologie entwickelt, die Gott in der ganzen Schöpfung gegenwärtig sieht: Was Menschen, Tieren, Erde, Luft und Wasser angetan wird, wird Gott angetan. Denn alles ist Gottes Schöpfung – und alles darum als Gutes zu bewahren. Daraus entsteht ein anderes Verständnis vom Segenswort Gottes in Gen 1,28: Nicht Unterwerfung, sondern eine sorgfältige Pflege ist im Umgang mit allen Kreaturen angesagt. Denn in der gesamten Schöpfung ist das Leben und die Gnade Gottes, und alle Schöpfungsglieder sind miteinander verbunden. Wenn wir diese Bezogenheit alles von Gott Geschaffenen aufeinander wahrnehmen, können wir ein lebenswichtiges Fundament für einen sorgfältigen Umgang mit dem Wasser legen.

Wasser der Überquerung
Das Wasser ist nicht nur seit Anbeginn ein Leben spendendes Element. Es ist auch ein Ort der Befreiung. Wasser zu durchqueren ermöglicht es, neue Horizonte zu sehen, aufzubauen und zu verbinden: Bei der Befreiung der versklavten HebräerInnen aus Ägypten öffnet sich das Meer, damit sie auf die andere Seite gelangen (Ex 14); in der Bewegung Jesu und in den Anfängen der Kirche spielt das Wasser als Metapher eine wichtige Rolle bei der Öffnung zu anderen Völkern (vgl. Mk 4,35-5,20; 6,45-56). Die „andere Seite“ wird erreicht, damit auch dort die Gute Botschaft erfahren wird.

Wasser der Taufe und der Heilung
Das tägliche Wasser – das notwendig für unser Leben ist – und das Wasser der Überquerung – das notwendig ist für inklusive, die Menschen und ihren Lebensraum ganzheitlich einbeziehende Missionsprojekte – sind Ausdruck für das göttliche Wirken in unserem Leben. Wir werden vom Wasser erneut umfasst, um ins neue Leben einzutauchen und als neue Kreaturen aufzutauchen und zu leben (Joh 3,
1-15; Röm 6,4; 2 Kor 5,17). Das Wasser der Taufe bringt den Exodus und die Auferstehung Jesu als Befreiung ins Gedächtnis (1 Kor 10,1-4; Ex 17), und der Auferstandene wird zur Quelle des lebendigen Wassers im Gespräch mit der Samaritanerin (Joh 4). Dieses Wasser hat zentrale Bedeutung für die Heilung des Blinden: Spucke (innerliches Wasser) und Brunnen (äußerliches Wasser) sind in den Heilungsprozess einbezogen und weisen auf Jesus, der das ganze Leben heilen will (Joh 9,1-12.35-41).

Wasser des ewigen Lebens
Wer sich von der Quelle des lebendigen Wassers ernährt, erlebt etwas, das berührt und bewegt: das getrunkene Wasser „wird in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt“ (Joh 4,14). Das ist ein Kennzeichen für christliche Hoffnung. Auch in Apk 22 kommt diese Hoffnung und Gewissheit zur Sprache. Wo Schmerz, Verfolgung und Tod erfahren werden, behauptet sich die Möglichkeit eines neuen Himmels und einer neuen Erde, in denen Gerechtigkeit, Feier und Freude herrschen. Nicht Resignation, sondern Hoffnung! In einer solchen Vision kann das „kristallklare Wasser“ nicht fehlen, ein Strom, der alle Straßen und alle Dinge berührt und ernährt (Apk 22,1ff), damit alles „zur Heilung der Völker“ dienen kann. Dieser Strom sprudelt aus dem Thron Gottes und bewässert den Baum des Lebens. Aufgehoben ist der Fluch um den Baum des Guten und des Bösen. Kräftig wirken soll der Segen, der vom Strom des Wassers des Lebens getragen ist: er will und kann die Hoffnung und das solidarische Zusammenleben aller Glieder der Schöpfung ernähren! Das ewige Leben hebt das heutige Leben nicht auf, sondern verleiht ihm neuen, hoffnungsvollen Sinn.

Das alltäglich benötigte Wasser bleibt weiter in unserem religiösen Leben wichtig. Quellen, Flüsse, Taufbecken sind in Feiern und Ritualen gegenwärtig. Das Göttliche wird weiter gefeiert und geehrt – dort, wo Wasserquellen entspringen. Die jüdisch-christliche Tradition kann in der Bildung einen wichtigen Beitrag zur Bewahrung des Lebens in der Welt leisten, indem sie den Blick auf das Wasser scharf stellt in der theologischen Aufarbeitung eines ihrer heiligen Bilder: Gott als Quelle des Wassers des Lebens. Ökologisch gesehen kann dieses Bild dazu verhelfen, neue Konzepte, Haltungen und Verhaltensweisen gemeinsam aufzubauen. Gott als Wasser-Quelle ist für uns eine Einladung: nicht nur zum sorgfältigen Umgang mit dem Wasser, sondern auch zur Erkenntnis, dass das Wasser heilig ist. Dem Wasser zu schaden schadet auch Gott. Das Wasser auch im religiösen Sinne zu betrachten und es gegen alle Ausbeutungs- und Übernutzungsmechanismen zu schützen bedeutet, unsere Zugehörigkeit zur Quelle des lebendigen Wassers zu bekennen – und gleichzeitig auch unsere Freundschaft mit den Wassern des alltäglichen Lebens, die für alle Menschen sprudeln und laufen sollen.

Dr. Ivoni Richter Reimer ist brasilianische Befreiungstheologin. Sie promovierte 1990 bei Luise Schottroff (Kassel) und arbeitet als Professorin für Neues Testament an der Katholischen Universität in Goiânia, in der zentralen Region Brasiliens. Sie ist ehrenamtliche Pfarrerin in der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (EKLBB) und arbeitet, ebenfalls ehrenamtlich, in einem sozial-missionarischen Projekt ihrer Kirche in der Peripherie in Goiânia, besonders mit Kindern und Frauen. Sie ist verheiratet mit Haroldo und freut sich mit ihm an Daniel (17) und Tiago (12).

verwendete Literatur
Ivoni Richter Reimer (Hg.), Águas. Perspectivas Bíblicas, Petrópolis: Vozes, 2003. (Estudos Bíblicos, v. 80)

zum Weiterlesen
Kurt R. Spillmann: Kriegsursache der kommenden Generation? Der Kampf um das Wasser, in: Die Kriege der Zukunft, epd-Dokumentation Nr. 31, Juli 2002
Internet: www.brot-fuer-die-welt.de: umfangreiche Informationen und Materialangebote unter der Rubrik „Wasser“ / www.bildung.hessen.de/gl21/projekte/wasser.html / www.wasser.de (Lexikon)

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