Ausgabe 1 / 2017 Material von Lara Dämming

Ein Gebot der Klugheit

Die Einführung des Frauenwahlrechts in de jüdischen Gemeinden

Von Lara Dämming

Die Durchsetzung des Frauenwahlrechts in den jüdischen Gemeinden und der Zugang zu wichtigen Ämtern und Funktionen war ein wichtiges Anliegen des 1904 gegründeten Jüdischen Frauenbundes (JFB). In der Zeit nach dem 1. Weltkrieg bis 1933 gelang es, für eine Mehrheit der Frauen in den jüdischen Gemeinden das Stimmrecht durchzusetzen.

Vor nunmehr neunzig Jahren konnten sich Berliner jüdische Frauen erstmals an den Wahlen zur Repräsentantenversammlung der größten jüdischen Gemeinde Deutschlands beteiligen. Bereits im November 1924 hatte dieses Gremium einen wegweisenden Beschluss gefasst: Zukünftig sollten Frauen innerhalb der Gemeinde das aktive und passive Wahlrecht ausüben können. Der Abstimmung war eine heftige, kontrovers geführte Debatte vorangegangen. Die Gegner äußerten Bedenken, Frauen dieses Recht zu gewähren, weil sie dadurch gegen ihren Willen politisiert und aus der jüdischen Häuslichkeit herausgerissen würden. Befürworter betonten dagegen, „in den letzten Jahren so viele wertvolle Frauenarbeit am Werke“ gesehen zu haben, dass „es nicht nur eine Pflicht der Dankbarkeit ist, den Frauen den Raum zu gewähren, nach dem sie streben, sondern auch ein Gebot der Klugheit“. Aufgrund dieser Entscheidung wurden die für den Herbst 1925 geplanten Wahlen zur Repräsentantenversammlung um ein halbes Jahr verschoben, da neue Wahllisten, die auch die Namen der stimmberechtigten weiblichen Gemeindemitglieder enthielten, erstellt werden mussten. Im Mai 1926 war es dann soweit: Erstmals konnten jüdische Frauen in Berlin über die Zusammensetzung des Gemeindeparlaments abstimmen und selbst gewählt werden. Zwei Frauen zogen in die neugewählte, 21-köpfige Repräsentantenversammlung ein: Lina Wagner-Tauber (1874-1936), Mitbegründerin der ersten zionistischen Frauenorganisation in Deutschland, der Jüdisch-nationalen Frauenvereinigung, und Bertha Falkenberg (1876-1946), Vorsitzende der Berliner Ortsgruppe des Jü­dischen Frauenbundes.

Gutachten für ein Frauenwahlrecht
Der Jüdische Frauenbund (JFB) trat seit seiner Gründung im Jahre 1904 durch Bertha Pappenheim (1859-1936) für die gleichberechtigte Mitwirkung von Frauen in den jüdischen Gemeinden ein. In ihrem Kampf für das Frauenwahlrecht, der während des 1. Weltkriegs unterbrochen worden war, konnten sich Pappenheim und ihre Mitstreiterinnen auf ein Gutachten des bekannten und geachteten modern-orthodoxe Rabbiners Dr. Nehemia Nobel (1871-1922) aus dem Jahre 1919 stützen. Nobel stellte fest, dass gegen das aktive und passive Frauenwahlrecht keine reli­gionsgesetzlichen Bedenken geltend gemacht werden könnten. Bestärkt durch ­Nobels Gutachten und durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für ­Frauen in Deutschland im November 1918 intensivierte der Frauenbund seine Aktivitäten für das Frauenstimmrecht in den Gemeinden. In Berlin beispielsweise bereitete die Ortsgruppe des JFB umgehend eine Eingabe an den Gemeindevorstand aus, um „unseren Willen und unser Recht auf Sitz und Stimme in der Gemeinde geltend zu machen“. Zunächst wurde den Frauen das Stimmrecht in den Kommissionen eingeräumt, ihre Bestrebungen nach dem aktiven und passiven Wahlrecht aber durchaus wohlwollend aufgenommen. Prominente Persönlichkeiten, wie Rabbiner Leo Baeck (1873-1956), einer der bedeutendsten Vertreter des liberalen ­Judentums, und Bertha Pappenheim, unterstützten auf agitatorischen Versammlungen im Rahmen einer Stimmrechtswoche des JFB im März 1924 dieses Anliegen. „Die jüdische Gemeinschaft braucht mehr als je unsere Mitarbeit“, heißt es in einem aus diesem Anlass verbreiteten Aufruf des JFB, „Einmütig kämpfen wir jü­dischen Frauen und mit uns jüdische Männer für unser Recht. Nicht aus Macht­hunger. Nicht aus theoretischer Frauenrechtlerei, sondern aus der Überzeugung heraus, dass zur kulturellen Entwicklung unserer Gemeinden Frauenarbeit notwendig ist, dass wir, gerade weil wir Frauen sind, in den Ämtern der Gemeindever­tretung Rechtes und Gutes wirken können.“
Die jüdischen Frauenrechtlerinnen waren davon überzeugt, dass „die Durchschnittsfrau dieselbe Begabung und Eignung für die Arbeit in öffentlichen Körperschaften mitbringt wie der Durchschnittsmann.“ Um die Frauen für die Arbeit in den Gemeinden, ihren Gremien und in jüdischen Organisationen zu befähigen, organisierten die Ortsgruppen des JFB Kurse, in denen Kenntnisse zur Fragen der Verwaltung und den Aufgaben von Gemeinden vermittelt wurden. Die Frauen lernten, Satzungen auszuarbeiten, Versammlungen zu leiten und Vorträge zu halten – über „geistige Themen kurz und straff zusammengefasst, zu referieren und eine Debatte sachlich zu führen.“

Frauen in Ämtern in talmudischer Zeit
1928 veröffentlichte der JFB in seinen „Blättern“ einen Hinweis auf das Talmudtraktat 62a, wo festgelegt wird, dass eine Frau am Schabbat nicht mit einem Siegelring auf der Hand aus dem Haus auf die Straße gehen dürfe. Im Talmud wird erklärt, dass Frauen, die einen Siegelring tragen, ein Amt in der Gemeinde bekleiden und für die Verteilung von Geldern zuständig sind. Zahlungsanweisungen mussten mit einem Siegel versehen sein. Der JFB sah in diesem Traktat einen Beweis, dass Frauen in talmudischen Zeiten hohe Ämter bekleideten und folglich auch in der Gegenwart beanspruchen konnten.
Die Durchsetzung des Frauenwahlrechts wurde nicht nur durch den Widerstand orthodoxer Kräfte erschwert, sondern auch durch die unklare Rechtslage, da in einzelnen Ländern die Rechtsstellung der jüdischen Gemeinden durch besondere Gesetze geregelt war, die Satzungsänderungen reglementierten. Dennoch fruchtete das Engagement des Frauenbundes. Eine Umfrage im Jahre 1927 ergab, dass inzwischen in mindestens 19 Gemeinden Frauen wahlberechtigt waren (in 15 davon auch wählbar), 1929 waren es bereits 23 Gemeinden in den Frauen das aktive und passive Wahlrecht besaßen, in acht weiteren nur das aktive. Eine Mehrheit der Frauen in den jüdischen Gemeinden erhielten im Laufe der 1920er Jahre das Wahlrecht, darunter in sechs der sieben größten Gemeinden, in denen insgesamt die Hälfte der Jüdinnen und Juden lebten. Dennoch bemängelten die Führerinnen des JFB, dass nach wie vor nur eine kleine Zahl von Frauen in verantwortliche Positionen gewählt oder berufen wurde und dass „die Frauen in der kurzen Zeit ihrer Mitarbeit noch keine bemerkenswerten Leistungen vollbracht haben können, besonders, da sich ihre Wirksamkeit in dem von Männern geschaffenen, festgefügten Rahmen bewegt.“

Frauliche Tugenden?
Diese Erfahrung teilten auch die beiden neugewählten Berliner Repräsentantinnen. Als sie antraten, erwartete der Gemeindevorstand, dass durch sie „die besonderen fraulichen Tugenden, Versöhnlichkeit, Anhänglichkeit und Familiensinn mehr als bisher zur Geltung kommen werden“, wie in der Begrüßungsansprache an die neue Repräsentantenversammlung verkündet wurde. Diese „Tugenden“ erwiesen sich allerdings als wenig nützlich für die Mitarbeit in diesem Gremium. Am Ende ihrer ersten Wahlperiode beklagte sich Bertha Falkenberg in der „Jüdisch-liberalen Zeitung“, dass nicht die sachliche Erörterung der Probleme der Gemeinde im Mittelpunkt der Debatten stehe, sondern dass „Reden und wieder Reden über politisch-weltanschauliche Fragen zum Fenster hinaus und für die Tribüne an der Tagesordnung waren“. Sie lehnte diese „Redetourniere“ ab und plädierte dafür, dass „Zeit und Kraft der Repräsentantenversammlung ungeteilt wieder den Aufgaben gewidmet werden, die eine Religionsgemeinde … zu erfüllen hat“. Unter diesen Bedingungen war es für die Repräsentantinnen tatsächlich nicht einfach, sich zu profilieren. Dennoch leisteten die Frauen, die vor der Schoa in Gemeindeämter gewählt wurden, vor allem auf dem Gebiet der Wohlfahrt und der Bildung Beachtliches.

Lara Dämmig ist Mitbegründerin und Ko-Vorsitzende der jüdisch-feministischen Initiative Bet Debora – Frauenperspektiven im Judentum. Sie hat Bibliothekswissenschaft sowie Management von Kultur- und Non-Profit-Organisationen studiert und arbeitet bei einer jüdischen Organisation in Berlin. Sie ist Mit­heraus­geberin von INTA.

aus:
INTA Interreligiöses Forum Nr. 9/2016

Bertha Pappenheim (1859 – 1936) war eine engagierte und mutige Frauenrechtlerin und eine Pionierin auf dem Gebiet der professionellen Sozialarbeit. Sie gründete 1904 den reichsweiten Jüdischen Frauenbund, in deren Auftrag sie international unterwegs war, ihr besonderes Interesse galt der Bekämpfung des Mädchenhandels.

Charlotte Knobloch ist seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, der zweitgrößten jüdischen Gemeinde in Deutschland. Von 2006 bis 2010 war sie Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland – als erste Frau in diesem Amt.

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