Alle Ausgaben / 2015 Artikel von Ralf Stroh

Ein Geschenk des Himmels

Kirchlicher und gewerkschaftlicher Einsatz für den freien Sonntag

Von Ralf Stroh

„In der Ruhe liegt die Kraft.“ Mit diesem Satz begegnete unser alter Nachbar meiner kindlichen Ungeduld, wenn es mir nicht schnell genug ging bei der Reparatur seiner riesigen Modelleisenbahn, mit der auch ich spielen durfte. Immer wieder unterliefen mir Flüchtigkeitsfehler, weil ich mir keine Zeit zum sorgfältigen Arbeiten nahm.

Zum sorgfältigen Arbeiten gehörten für ihn, den Profi, auch die Zeit für eine ­Zigarre und eine Tasse Kaffee und der Plausch mit mir, dem kleinen Jungen aus dem Nachbarhaus. Wenn er dann endlich mit der Arbeit begann, war er viel schneller fertig als ich mit meinem Ungestüm. Es war nicht nur die lange Routine, die ihm als Mitarbeiter in einem Spielwarengeschäft einen uneinholbaren Vorsprung mir gegenüber verschaffte. Es war die ruhige Konzentra­tion auf seine Arbeit. Er konnte ganz bei seiner Arbeit sein, weil alles, was ihn hätte ablenken können, auch zu seinem Recht gekommen war. Das Plaudern mit mir, die Zeit für die Tasse Kaffee und die Zigarre standen nicht in Konkurrenz zur anstehenden Arbeit, sondern waren das Umfeld der Arbeit und gehörten mit zum Lebensganzen, in dem auch die konzentrierte Arbeit ihren besonderen Platz hatte.

Ruhephasen und Arbeitsphasen gehören im menschlichen Leben zusammen und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Das scheinbare Nichtstun meines Nachbarn, bevor er endlich mit der Arbeit anfing, stand nicht beziehungslos neben der späteren Arbeit, sondern bereitete ihr einen förderlichen Boden. In der Ruhe liegt die Kraft – das gilt wohl für alle Herausforderungen des Lebens. Wir werden ihnen nur dann gerecht, wenn wir ihnen „ausgeruht“ begegnen. Wenn wir das Ganze des ­Lebens im Blick behalten und nicht die Balance zwischen den unterschiedlichen Aufgaben, die das Leben so mit sich bringt, verlieren.

Erwerbsarbeit ist nicht alles

Was für die Einzelnen gilt, das gilt auch für ganze Gesellschaften. Auch Gesellschaften können die Balance verlieren in der Gewichtung der Bereiche, die zu einem menschlichen Zusammenleben gehören. Sie können sich ungeduldig wie ein kleiner Junge auf eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe stürzen und dabei den Zusammenhang vergessen, von dem diese Aufgabe einen Teil bildet.

Es ist ein Klischee, aber wahr: Erwerbsarbeit ist nicht alles. Und Wirtschaft ist nicht das Ganze der Gesellschaft. Wirtschaftliche Stabilität und finanzieller Wohlstand sind wichtige Bestandteile eines gelingenden Lebens. Aber wenn diese Aspekte nicht sorgsam mit anderen Lebensaufgaben ausbalanciert werden, leidet das Ganze und es entstehen individuelle und gesellschaftliche Kosten, die durch den wirtschaftlichen und finanziellen Erfolg nicht ausgeglichen werden können.

Der arbeitsfreie Sonntag ist die zeitgemäße Antwort auf die Globalisierung

In der gemeinsamen Ruhe liegt die gesellschaftliche Kraft. Das gilt auch und gerade für moderne Gesellschaften ­unter den Bedingungen der Globali­sierung. Deutschland ist es bisher gelungen, im Wettbewerb auf dem Weltmarkt einen führenden Platz zu behaupten. Der Preis dafür ist die Anpassung weiter gesellschaftlicher Lebensbereiche an die Anforderungen dieses globalen Marktes. Das hat unseren ­Lebensalltag tiefgreifend verändert. ­Flexibilisierung der Arbeitszeiten und die Notwendigkeit zu immer größerer Mobilität, das bedeutet konkret: Paare müssen ihre gemeinsame Zeit akribisch planen, weil der individuelle Alltag ­immer ungleichmäßiger getaktet ist. Nochmals gesteigert wird diese Herausforderung, sobald auch noch die Bedürfnisse von Kindern, Eltern und des Freundeskreises zu berücksichtigen sind – und dabei sind ehrenamtliches En­gagement und Hobbies noch gar nicht im Blick. Erziehung und Ausbildung der nachwachsenden Generation wird fast ausschließlich an den derzeitigen Erfordernissen des globalen Arbeitsmarktes ausgerichtet. Es lässt sich kaum noch erkennen, dass Erziehung und Bildung auch dazu dienen sollen, zu einer selbständigen und selbstbewussten Lebens­führung anzuleiten. Das Gegebene kritisch zu hinterfragen, um an ihm das zu bewahren, was wirklich dem Leben dient, und das zu verändern, von dem das nicht gesagt werden kann, kommt nur noch am Rande vor.

Die immer größere Professionalität der gesellschaftlichen Gestaltung des Wirtschaftens hat zu hohem wirtschaft­lichem Wohlstand geführt, der allerdings immer deutlicher seine gesellschaftlichen Schattenseiten offenbart. Es ist offensichtlich, dass er inzwischen einhergeht mit einer immer geringeren gesellschaftlichen Kompetenz im Umgang mit jenen Lebensbereichen, die sich letztlich nicht nur auf ökonomische Fragestellungen reduzieren lassen.

Die Herausforderungen, die das Leben mit sich bringt, sind weit größer als es das Stichwort „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ zu erkennen gibt. Immer öfter scheitern Paare an den Rahmenbedingungen, unter denen sie leben müssen. Ähnliches gilt für die Herausforderungen, die das Erwachsenwerden für die nachwachsende Generation mit sich bringt. Denn Erwachsen werden heißt nicht nur, seinen Platz im Erwerbsleben, sondern vor allem seinen Platz im Leben finden. Und dasselbe gilt für das weite Feld der Inklusion. Auch hier geht es um weit mehr als zum Beispiel um die Einbindung von Menschen mit körperlichen Einschränkungen, von Zuwan­derern und Flüchtlingen in das ­Erwerbsleben, auch wenn dies ein zentraler ­Bereich des gesellschaftlichen Lebens ist. All diese Bereiche stehen in Verbindung mit dem wirtschaftlichen Leben, brauchen aber einen Erfahrungsraum, der den der Ökonomie übersteigt und umgreift – und der nicht einfach als die Sphäre des Privatlebens an die individuelle Verantwortung der einzelnen delegiert werden kann.

Der arbeitsfreie Sonntag braucht rechtlichen Schutz

Genau diese Notwendigkeit hat das Bun­desverfassungsgericht dazu bewogen, die Bedeutung des Sonntags mit Nachdruck hervorzuheben. Das Gericht betont die unverzichtbare Aufgabe, ihn rechtlich mit einem besonderen Schutz zu versehen. So heißt es in einem wegweisenden Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 1. Dezember 2009:
Der Sonn- und Feiertagsgarantie kann schließlich ein besonderer Bezug zur Menschenwürde beigemessen werden, weil sie dem ökonomischen Nutzendenken eine Grenze zieht und dem Menschen um seiner selbst willen dient.
Die soziale Bedeutung des Sonn- und ­Feiertagsschutzes und mithin der generellen Arbeitsruhe im weltlichen Bereich resultiert wesentlich aus der – namentlich durch den Wochenrhythmus bedingten – synchronen Taktung des sozialen Lebens. Während die Arbeitszeit- und Arbeitsschutzregelungen jeweils für den Einzelnen Schutzwirkung entfalten, ist der zeitliche Gleichklang einer für alle Bereiche regelmäßigen Arbeitsruhe ein grundlegendes Element für die Wahrnehmung der verschiedenen Formen sozialen Lebens. Das betrifft vor allem die Familien, insbesondere jene, in denen es mehrere Berufstätige gibt, aber auch gesellschaftliche Verbände, namentlich die Vereine in den unterschiedlichen Sparten. Daneben ist im Auge zu behalten, dass die Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen auch für die Rahmenbedingungen des Wirkens der politischen Parteien, der Gewerkschaften und sonstiger Vereinigungen bedeutsam ist und sich weiter, freilich im Verbund mit einem gesamten „freien Wochenende“, auch auf die Möglichkeiten zur Abhaltung von Versammlungen auswirkt. Ihr kommt mithin auch erhebliche Bedeutung für die Gestaltung der Teilhabe im Alltag einer gelebten Demokratie zu. Sinnfällig kommt das dadurch zum Ausdruck, dass nach der einfachrechtlichen Ausgestaltung der Tag der Wahlen ein Sonntag oder gesetzlicher Feiertag sein muss (vgl. § 16 Satz 2 Bundeswahlgesetz) (1 BvR 2857/07).

Für den freien Sonntag – nicht gegen Unternehmen oder ArbeitnehmerInnen

Das Engagement der Allianzen für den freien Sonntag ist kein Engagement gegen UnternehmerInnen oder ArbeitnehmerInnen, die zur Sicherung ihres Lebensstandards mit den ­Zuschlägen für die Sonntagsarbeit rechnen. Indem das Bundesverfassungs­gericht die Bedeutung des Sonntagsschutzes für die demokratische Kultur der Bundesrepublik und das humane Miteinander in diesem Land hervorhebt, macht es darauf aufmerksam, dass der Sonntagsschutz nicht nur einzelnen Personen (-gruppen) dient, sondern ein gesellschaftliches Gut darstellt, an dem alle teilhaben sollen. Also auch alle UnternehmerInnen, die sich im globalen Wettbewerb behaupten müssen. Und alle jene ArbeitnehmerInnen, die derzeit noch auf die Zuschläge zur Sonntagsarbeit angewiesen sind, um in schwierigen Lagen ihren Lebensstandard zu halten. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes und das Engagement der Sonntagsallianzen sind nur dann wirklich hilfreich, wenn sie langfristig zu einer politischen und rechtlichen Rahmung des Wirtschaftslebens hinführen, die unternehmerischen Erfolg und finanzielle Absicherung von ArbeitnehmerInnen unter Wahrung des Sonntagsschutzes ermöglichen.

Die Allianz für den freien Sonntag

Die Allianz für den freien Sonntag Deutschland entstand im Jahr 2006 im Kontext der Föderalismusreform, die den Bundesländern den Anstoß gab, miteinander um die längsten Ladenöffnungszeiten und die meisten verkaufsoffenen Sonntage zu konkurrieren. Die kirchlich-gewerkschaftlichen InitiatorInnen treten auf den verschiedenen politischen Ebenen, auf denen über Sonntagsarbeit entschieden wird, gemeinsam für den Sonntagsschutz ein. TrägerInnen der Sonntagsallianz auf Bundesebene sind die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sowie die arbeitnehmerInnen- und arbeitsweltbezogenen Verbände der beiden großen Kirchen: Katholische Arbeitnehmer-Bewegung (KAB), Bundesverband Evangelischer Arbeitnehmerorganisationen (BVEA), Katholische Betriebsseelsorge und Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt (KDA). Weitere Gewerkschaften und Kirchenorganisationen sowie Familien-, Frauen-, Sozial-, Sport- und Um­weltverbände haben sich der Sonntagsallianz als UnterstützerInnen angeschlossen. Politische Parteien sind Gesprächspartnerinnen und Adressatinnen der Allianz und können deshalb nicht selbst Teil der Initiative werden. Die Allianz ist europäisch vernetzt und Mitglied der im Jahr 2011 in Brüssel gegründeten European Sunday Alliance. Als jährlichen Aktionstag haben Sonntagsschutzinitiativen in 17 europäischen Ländern den „Internationalen Tag des freien Sonntags“ am 3. März ausgerufen. Rund um dieses Datum finden Straßenaktionen, Gottesdienste oder politische Diskussionsveranstaltungen statt, die den Wert des Kulturguts Sonntag ins Bewusstsein rufen.

Forderungen

Die Allianz für den freien Sonntag erwartet von der Politik in Bund und Ländern, dass sie Sonntagsarbeit auf das gesellschaftlich notwendige Maß begrenzt. Die Politik ist dafür verantwortlich, die branchenübergreifende Ausbreitung kommerziell begründeter Sonntagsbeschäftigung zu unterbinden, anstatt sie durch weitere Ausnahmeregelungen zu fördern. Die Allianz für den freien Sonntag fordert:
– einheitliche und klare Grenzen für die Sonntagsarbeit durch nähere Bestimmungen im Arbeitszeitgesetz, eine bundesweite Bedarfsgewerbeverordnung und länderübergreifende Standards für verkaufsoffene Sonntage;
– die Einhaltung des Sonntagsschutzes in der Praxis durch konkrete und prak­tikable Umsetzungsvorgaben zum Arbeitszeit-, Ladenschluss- und Feiertagsrecht und
– einen regelmäßigen Sonntagschutzbericht der Bundesregierung, der die Entwicklung der Sonntagsarbeit analysiert und die Wirksamkeit des Sonntagsschutzes kritisch überprüft.

Für die Arbeit in der Gruppe

Die TN sollen zwischen Arbeiten unterscheiden lernen, die „wegen“ oder „trotz“ des Sonntags notwendig sind, und solchen, die nicht notwendigerweise am Sonntag erledigt werden müssen.

Einstieg:
Ein beliebtes Ausflugslokal ist auch sonntags geöffnet und benötigt dazu ausreichend Personal für die zahlreichen Gäste. – In einem Krankenhaus findet eine Notoperation statt, die von einer Ärztin durchgeführt wird. – In einem Möbelhaus wird an einem verkaufsoffenen Sonntag der bisherige Umsatzrekord eines einzelnen Tages übertroffen, und ein Verkäufer macht die besten Abschlüsse dieses Jahres. – Auf der Autobahn sichern mehrere Polizisten eine Unfallstelle und nehmen den Unfallhergang auf. – In einer Kirche feiert eine Pfarrerin mit ihrer Kirchengemeinde Gottesdienst. – Welche dieser Arbeiten sind „wegen“, welche „trotz“ des Sonntags erforderlich? Welche wären auch an einem anderen Tag möglich? Gibt es für die verschiedenen Bereiche weitere Beispiele? Ist es leicht, die Arbeiten den verschiedenen Rubriken zuzuordnen? Wo ist es nicht eindeutig?

Informationsmöglichkeiten:
Ein/e Mitarbeiter/in des örtlichen Stadtmarketings könnte Auskunft geben zu verkaufsoffenen Sonntagen und sich der Diskussion stellen, ebenso
ein/e Vertreter/in der regionalen Al­lianz für den freien Sonntag. Ein/e ­Gesundheitsmediziner/in könnte über die psychischen und körperlichen Belastungen durch unregelmäßige Arbeitszeiten und Sonntagsarbeit informieren. Ein/e Eheberater/in könnte von den Belastungen für eine Partnerschaft erzählen, ebenso ein/e Erziehungsberater/in. Ein/e Vertreter/in eines Sportvereins oder eines anderen Vereins könnte Auskunft geben über die Probleme ehrenamtlichen Engagements durch zunehmende Arbeitstätigkeit an Sonn- und Feiertagen.

Abschluss:
Dtn 5,12-15 vorlesen (Wiederholung der zehn Gebote, Einsetzung des Sabbats)

Lied:
Alles ist an Gottes Segen (EG 352,1-4)

Dr. Ralf Stroh ist Pfarrer der EKHN. Nach zehn Jahren im Gemeindepfarramt ist er seit 2012 theologischer Referent für Wirtschafts- und Sozialethik am Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN in Mainz.

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