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Ein Herz mit Verstand

Von Silvia Schroer, Thomas Staubli

(…) Zweifellos hängt die große Symbolträchtigkeit des Herzens mit der Tatsache zusammen, daß das Herz als einziges Organ ständig mehr oder weniger spürbar ist. Es gibt uns somit anatomisch ein Empfinden für unser Inneres, in welchem sich auf geheimnisvolle Weise die Hälfte des Lebens abspielt. Daß in der Bibel, wo die Beziehung des inneren zum äußersten Menschen ständig reflektiert und thematisiert wird, das Herz ein zentraler Begriff ist, wird daher nicht erstaunen.

Symbol des inneren Menschen
Das hebräische Wort für Herz heißt leb oder lebab. Erstaunlich ist, daß an vielen Stellen, wo im hebräischen Text von leb die Rede ist, in der deutschen Übersetzung das Stichwort Herz nicht mehr zu finden ist. Das ist keineswegs mangelhafter Sorgfalt der Übersetzer zuzuschreiben, sondern zeigt im Gegenteil, dass mit Herz im Hebräischen nicht dasselbe gemeint ist wie im Deutschen. Die alten IsraelitInnen verbanden mit diesem Organ zum Teil dieselben Bilder, Assoziationen und Funktionen wie wir, zum Teil aber auch ganz andere. (…)

Herz und Herzlosigkeit: Verstand und Dummheit
Das Herz ist jedoch in Israel nicht primär der Sitz der Gefühle, schon gar nicht der Liebe. Im Hohenlied kommt das Wort Herz bezeichnenderweise nur dreimal vor, anders als in den ägyptischen Liebesliedern, die in vielen Bildern beschreiben, wie das Herz rast und davonspringen will, wenn sich ein Mensch so richtig verliebt hat.

Im alten Orient ist das Herz vor allem der Sitz der Vernunft und des Verstandes, des geheimen Planens und Überlegens und der Entschlüsse. Das gilt übrigens auch noch für Homer und Hesiod und sogar noch für Aristoteles und die Stoiker, die anders als zum beispielsweise Platon, der das Denken bereits im Gehirn verortete, daran festhielten, dass die Denkkraft im Herzen angesiedelt sei. Nach Dtn 29,3 hat ein Mensch Augen, um zu sehen, Ohren, um zu hören, und ein Herz, um zu verstehen. Das Herz verarbeitet und ordnet die Eindrücke, die von außen kommen. Salomo, der Patron der Weisheit, bittet daher Gott um ein hörendes Herz, d.h. einen wachen, aufmerksamen Verstand und Geist. (1 Kön 3,9). Die Bitte wird ihm erfüllt:
Gott gab Salomo Weisheit und hohe Einsicht und ein Herz, so weit wie der Sand am Gestade des Meeres. Und die Weisheit Salomos war größer, als die Weisheit des Orients und Ägyptens und aller berühmten Weisen. Salomo dichtete dreitausend Sprüche und über tausend Lieder. Er ­redete von den Bäumen, von der Zeder auf dem Libanon bis zum Ysop, der aus der Mauer wächst. Er redete von den großen Tieren, den Vögeln, Kriechtieren und Fischen. (1 Kön 4,9-14; vgl. 3,12)

Die Weite des Herzens, die hier beschrieben wird, ist nichts anderes als große Bildung.

Sosehr man die Weisheit des Herzens bewunderte, so sehr fürchtete man herzlose Menschen. In den Sprüchen heißt es zum Beispiel:
Auf den Lippen des Verständigen findet sich Weisheit, aber der Stock gebührt dem, der zu wenig Herz hat. (Spr 10,13)

Mangel an Herz bedeutet in Israel nicht Gefühlskälte, sondern Gedankenlosigkeit, Unvernunft oder schlicht Dummheit. Der Prophet Hosea klagt über Efraim, d.h. das Nordreich Israel:
Efraim ist wie eine Taube, so unerfahren. Es hat kein Herz. Sie rufen die Ägypter und rennen den Assyrern hinterher. (Hos 7,11)

Der Zusammenhang macht hier ganz deutlich, was die „Herzlosigkeit“ bedeutet: Israel hat den Verstand verloren, ist unvernünftig und einfältig geworden wie eine Taube. Drastisch wird diese Ver-rücktheit auf einem ägyptischen Relief ins Bild umgesetzt, wo ein Feind sein eigenes Herz in der Hand hält.

Ort geistiger Schätze und Geheimnisse
(…) Im Herzen des Menschen ist auch die Erinnerung, das Gedächtnis, bewahrt sowie seine Geheimnisse. In der berühmten Simson-Geschichte (Ri 16) versucht Delila mit allen Mitteln, dem Helden das Geheimnis seiner übermenschlichen Kraft zu entlocken. Enttäuscht sagt sie zu ihm:
Wie kannst du sagen, daß du mich liebst, wenn dein Herz nicht mit mir ist? Dreimal hast du mich angeschwindelt und mir nicht gesagt, woher deine Kraft so groß ist.
Simsons Herz ist also nicht bei Delila. Spontan meinen wir zu verstehen, er liebe sie zuwenig. Aber gemeint ist, dass er sie nicht in sein Wissen und seine Geheimnisse eingeweiht hat. (…)

Im Herzen stellt ein Mensch seine geheimsten Überlegungen und Pläne an, er oder sie „spricht“ zu oder in seinem/ihrem Herzen. Das, was jemand redet, braucht nicht mit dem übereinzustimmen, was er oder sie in seinem/ihrem Herzen sinnt. „Es gibt Leute, die reden Schalom und denken dabei etwas Böses“ (Ps 28,3). Mag sein, daß Menschen sich durch solches Verhalten täuschen lassen, aber Gott sieht hinter die Fassaden und erkennt, was im Inneren geschieht.

Das menschliche Gewissen
Das Herz ist auch so etwas wie das Gewissen. Es schlägt dem David nachträglich, weil er eine Volkszählung vorgenommen hat (2 Sam 24,10). Der Beter eines Psalms kann Gott um ein reines Herz, d.h. ein reines Gewissen bitten (Ps 51,12). In Israel war aber die Verbindung von Herz und Gewissen nicht so ausgeprägt wie in Ägypten. Dort spielt das Herz eine unglaublich große Rolle in den Vorstellungen von der Unterwelt. Der oder die Tote muss beim Eintritt ins Totenreich vor den Göttern schwere Prüfungen bestehen, das Herzwägen. Dabei wird das Herz auf eine Waage gegen die Maat, die Göttin der rechten Ordnung, aufgewogen, eine Vorstellung, die im Seelenwägen des europäischen Mittelalters weiterlebt. Nach einem festen Formular (Totenbuchspruch 125) legt der oder die Tote eine Art negatives Sündenbekenntnis ab, bei welchem der Reihe nach alle Sünden abgestritten wurden:
Das Herz des Toten weiß um die Taten seines Herrn oder seiner Herrin genau Bescheid. Es tritt im Totenreich als allwissender Zeuge auf und muß unter Umständen gegen seinen Herrn oder seine Herrin aussagen. Im Gegensatz zu den anderen inneren Organen, die in speziellen Gefäßen, den Kanopen, beigesetzt wurden, wurde es bei der Einbalsamierung in der Mumie belassen. Der großen Angst, dass das Herz einem im Gericht im Stich lassen könnte, versuchen Amulette und Beschwörungen entgegegenzuwirken. (…)

Ein großes Spektrum von Bedeutungen verbindet sich mit dem Wort leb, Herz. Da die IsraelitInnen keine Scheu hatten, sich Gott in menschengestaltigen Bildern ­vorzustellen, glaubten sie, daß auch JHWH ein Herz haben wie ein Mensch. Gottes Herz kann schmerzen angesichts der Schlechtigkeit der Menschen, es kann Zuneigung fassen und sich regelrecht umdrehen, wenn es von heftigen Gefühlen der reue oder des Zorns gepackt wird (Hos 11,8), Wenn wir all diese Zusammenhänge in unserem Herzen bewahren, d.h. sie uns bewußt gemacht haben, dann hören und verstehen wir den bekannten Vers im Hohelied vielleicht neu, wo die Geliebte den Geliebten bittet:

Lege mich an deinen Arm, wie ein Siegel an dein Herz. (Hld 8,6) (…)
aus:
Die Körpersymbolik der Bibel
© 2005 by WBG, Darmstadt
Lizenzausgabe für das Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh

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