Alle Ausgaben / 2010 Andacht von Luise Metzler

Ein Kind ist uns geboren

Adventliche Andacht zu Gen 4,25-26

Von Luise Metzler


Advent – wir erwarten wieder das Wunder, dass die Geburt eines Kindes Hoffnung für die Welt ist. Wir hören wieder den Chor in Händels „Messias“ singen: „Denn es ist uns ein Kind geboren, uns zum Heil …“.

Menschen zur Zeit Jesu haben sich von dieser Hoffnung gegen alle Vernunft erzählt, allen voran die Hirtinnen und Hirten auf dem Felde: „Sie breiteten das Wort aus, dass ihnen von diesem Kinde gesagt war.“ (Lk 2,17) Den unter der Gewalt Roms Leidenden half es, nicht aufzugeben, sondern am Gott Israels und dessen Verheißung festzuhalten. Denn in der Bibel Israels, der Tora, war es oft ein neugeborenes Kind, das Licht in hoffnungsloser Zeit war.

Es beginnt schon in den ersten Kapiteln der Bibel. Nicht im Garten Eden, in
dem Eva und Adam mit Gott spazieren gehen. Aber dann, in der Zeit, die mit der ersten Sünde der Menschheit, dem Mord Kains an seinem Bruder, beginnt. Das Blut Abels schreit zum Himmel. Gott hört den Schrei des Opfers, selbst dessen tote Stimme. Kain hat Todesangst: Wer mich findet, wird mich töten! (Gen 4,14) Doch Gott widerspricht. Kain darf leben, auch als Mörder. Aber sein Leben ist zerstört. Nie mehr wird er sich auf Erden zuhause fühlen. Unstet, einsam, ein Flüchtling wird er sein, von seinem Verbrechen getrieben. Die Tat zerstört auch den Täter, die Täterin, selbst wenn er, wenn sie physisch überlebt.

Und doch schützt Gott das Leben des Täters. Gott will nicht, dass Menschen auf Gewalt mit Gewalt antworten. Jedes Leben ist Gott schützenswert, selbst das Leben des Mörders. Gott lässt sich nicht vom Bösen überwinden – wie die Jahreslosung 2011 mahnt: Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern besiege Böses mit Gutem. (Röm 12,21)

Gilt der zweite Teil des Satzes auch für Gott? Besiegt Gott Böses mit Gutem? Wo ist Gottes Reaktion, die das Opfer ins Recht setzt? Ist eine Gemeinschaft tragfähig, wenn der Mörder frei herumläuft, während die Stimme des Opfers zu Gott schreit? Wo steht Gott? Und: Wo stehen wir?

Todesspirale des Bösen

Trotz Gottes Schutz eskaliert das Böse nach dem Brudermord. Es gebiert neue Gewalt, wirkt weiter in die nächsten Generationen. Unter den Nachkommen Kains, die als Erz- und Eisenschmiede den technischen, aber auch den militärischen Fortschritt symbolisieren, ist Lamech. Er prahlt vor seinen Frauen:

Ada und Zilla, hört meine Stimme! Ihr Frauen Lamechs, vernehmt meinen Spruch: Einen Mann töte ich für meine Wunde, ein Kind für meine Strieme. Wenn Kain siebenmal gerächt wird, so Lamech siebenundsiebzigmal. (Gen 4,23f.)

Welch grausame Preissteigerung in der Vergeltung! Menschenleben als Zahl in einer Rechnung, die weiteren Tod gebiert. Wer würde den Impuls zur Vergeltung nicht von sich selbst kennen:
– wenn wir von brutalen Bankräubern lesen und von Albträumen, die die misshandelten Angestellten noch Jahre später quälen;
– wenn wir von der Frau hören, die der neuen Freundin ihres früheren Partners auflauert und sie so zusammenschlägt, dass ihr das Becken bricht;
– wenn wir vom sexuellen Missbrauch am eigenen Kind, am uns anvertrauten Kind erfahren;
– wenn wir mitbekommen, wie Kinder andere Kinder überfallen, verprügeln, ausrauben.

Der Ruf nach Vergeltung, gar nach Lynchjustiz wird laut: „Wenn das mein Kind, mein Mann, meine Frau wäre!“ Klagen werden laut, dass die Angeklagten fast ungeschoren davonkämen. Verständliche Stimmen – denn die Folgen der Gewalt greifen tief in das Leben der Betroffenen ein. Sie verändern es, ja, sie haben die Kraft der Zerstörung bis hin zum physischen Tod.

Gott tötet Kain nicht. Aber reicht es, den Mörder zu schützen? Wo bleiben die Opfer? Wo bleibt Abel, dessen Blut von der Erde schreit? Wo bleiben die Menschen, deren Verzweiflung zum Himmel schreit? Wo die misshandelten Kinder, die vergewaltigten Frauen, die geprügelten oder erschlagenen Männer? Mag die Zahl der Opfer noch so unermesslich groß sein: Es ist jedes Mal wieder wie bei dem ersten, bei Abel: Ein Leben mit all seinen Möglichkeiten ist vernichtet. Eine klaffende Lücke bleibt bei denen zurück, die diese Frau, dieses Kind, diesen Mann lieben und brauchen.

Lebenskraft des Guten

Die Bibel antwortet zweifach – mit der Antwort Evas und mit der Antwort Gottes. Im Windschatten dieses brutalen Geschehens und der lauten Prahlworte ereignet sich fast unbemerkt etwas Neues. Wir hören Gen 4,25-26:
25Adam erkannte seine Frau noch einmal; sie gebar einen Sohn und gab ihm den Namen Set, „denn seht, Gott hat mir einen anderen Nachkommen gesetzt anstelle Abels, denn Kain hat ihn getötet.“
26Und auch dem Set wurde ein Sohn geboren, dem gab er den Namen Enosch. In jener Zeit wurde begonnen, den Namen Adonajs (so heißt Gott) anzurufen.

Eva und Adam beweisen viel Mut – trotz des Holocaust (wie der jüdische Gelehrte Martin Buber das nennt, was ihre Familie heimgesucht hat), trotz der bitteren Erfahrungen mit ihren Söhnen Kain und Abel. Sets Zeugung und Geburt wird zu einer Tat des Glaubens. Sie widerspricht dem Augenschein, das Leben sei sinnlos angesichts von Mord, Gewalt und Größenwahn. Sie lässt sich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiegt Böses mit Gutem: mit der Geburt eines Kindes. Set – Setzling – ist ein Neuanfang, eine neuer Same, der Beginn eines neuen Weges.
Im Reich Lamechs war keine Rede von Gott. Eva wendet das Gottverlassen der Menschen zurück zu einem Leben mit Gott: denn seht, Gott hat mir einen anderen Nachkommen gesetzt anstelle Abels, ein Kind, durch das sie sich mit Gott im Bunde weiß. Set wird an Abels Stelle gesetzt, ist Stellvertreter für den ermordeten Sohn. Aber er ist kein Ersatz. Abel bleibt einmalig. Die Vergangenheit ist nicht ausgelöscht. Sie wird auch nicht verschwiegen. Sets Name wird in einem Atemzug mit seinen Brüdern genannt. Täter und Opfer werden beim Namen genannt. Abel wird nicht auferweckt. Aber für ihn, den Schwächeren, wird eine neue Pflanze gepflanzt. Ein Neuanfang ist möglich – gegen die Gewalt und unter der Gewalt.

Sets Geburt ist der Protest des lebendigen Gottes gegen Gewalt und Tod. Eva weiß es und bekennt es. Ohne Set würden wir alle von Kain abstammen. Die Menschheitsgeschichte wäre unwidersprochen eine Geschichte der Sieger, die über Leichen gehen. Kain wollte Abel ausradieren, aber Gott schreibt dort weiter, wo Kain abgebrochen hat. Dafür braucht Gott Menschen wie Eva und Adam, die diesen Mut in die Welt tragen. Braucht Eva, die ein Kind austrägt.

Und es geht weiter. Auch dem Set wurde ein Sohn geboren, dem gab er den Namen Enosch. Enosch – das heißt „Menschlein“. Von Enosch ist auch in Psalm 8 die Rede: Was ist der Mensch (dort steht Enosch: das Menschlein), dass Du seiner gedenkst? Die Geburt eines Kindes – Enosch, Menschlein – wird zum Anlass, der Zukunft einen Namen zu geben. Die biblische Zukunft heißt: Menschlein. Unter all den großen und berühmten Männern, unter den Nachfahren Kains, soll ein Mensch leben und überleben können. Diese Einsicht, dass es um Menschlichkeit, um Geschwisterlichkeit und Solidarität geht, wird von der Bibel mit der Erkenntnis Gottes verbunden. Wir lesen: In jener Zeit wurde begonnen, den Namen Adonajs (so heißt Gott) anzurufen. „Menschlein“ überlebt trotz der Gewalt im Bund mit Gott.

Flut der Gewalt

Doch die Gewalt reißt nicht ab. Gott muss mit ansehen, dass die Bosheit der Menschen auf der Erde groß war, jede Verwirklichung der Planungen des menschlichen Herzens durch und durch böse war, Tag für Tag. (Gen 6,5) Und einmal lässt Gott sich von diesem Bösen besiegen. Gott tut es leid, den Menschen geschaffen zu haben, und mehr noch: Es schmerzte Gott mitten im Herzen. (Gen 6,6) Die Flut kommt, jene furchtbare Verzweiflungstat Gottes angesichts der Flut von Unrecht und Gewalt auf Erden. Nur Noah und seine Familie überleben, dazu einige Tierpaare.

Und nach der Flut? Sind die Menschen jetzt besser geworden? Haben sie gelernt? Happy End, Friede auf Erden, Gott und den Menschen ein Wohlgefallen? Gott gibt sich da keiner Illusion hin. Auch Noah und seine Familie garantieren keine gerechten Verhältnisse, selbst wenn sie Nachkommen von Set und Enosch-Menschlein sind.

Dämme des Rechts

Muss, wird es also eine neue Flut geben? Gott will es anders! Jetzt versucht Gott, Böses mit Gutem zu besiegen und zeigt uns den Weg dazu. Der Flut der Gewalt stellt Gott als Deich das Recht entgegen. Zum ersten Mal in der Bibel lesen wir Vorschriften, die das Zusammenleben regeln sollen. (Vgl. Gen 9,1-7) Im Zentrum steht: Nicht töten! Auch keine Tiere, außer, sie dienen zur Nahrung. Die Verantwortung für die Einhaltung dieser Gesetze legt Gott ein für allemal in die Hand der Menschen. Nicht Faustrecht, sondern Gottesrecht! Nicht blinde Vergeltung, die immer vor allem Unschuldige trifft, sondern Suche nach den Schuldigen und Bestrafung im Rahmen des Rechts.

Die Welt ist nicht besser geworden, weder durch die Geburt von Menschlein noch durch die Sintflut. Damit es aber eine Welt bleiben kann, in der „Menschlein“ – du, ich, jede und jeder – überleben kann, brauchen wir Orientierung, brauchen wir Gottes Weisung, das Recht. Nicht Vergeltung oder Zorn, sondern eine angemessene Reaktion auf das Unrecht, so schwer es auch ist, sie zu finden.

Das Opfer hat einen Anspruch darauf, dass die Gesellschaft angemessen auf das erlittene Unrecht reagiert. Dies braucht den Blick auf beide, auf die Verursacher und die Opfer. Nur eine Seite im Blick zu haben, wäre fatal, denn Rechtsprechung zielt immer darauf, sich einer Wiederholung in den Weg zu stellen.

Das ist nicht leicht. Eine Staatsanwältin erzählt von einem Mädchen, das Opfer eines Sexualmordes war. „Ihr Vater saß an allen zehn Verhandlungstagen im Gericht. Wir haben ihm geraten, sich zu schützen und wenigstens bei den Gutachten hinauszugehen. Er wollte nicht: ‚Das bin ich meiner Tochter schuldig!' Ich habe nie vergessen, wie er nach der Urteilsverkündigung (10 Jahre) verbittert sagte: ‚So wenig ist das Leben einer Elfjährigen wert!'“
So verständlich die Reaktion des Vaters ist: Menschenleben ist niemals gegen Menschenleben aufzurechnen. Der Wert von Leben ist unberechenbar. Weder das „so wenig“ des Vaters darf vor Gericht gelten, noch darf Lamechs maßlose Vergeltung regieren. Um Gottes Willen brauchen wir einen Rechtsstaat, der Folter und Vergeltung verbietet. Wir brauchen unabhängige Gerichte, die um gerechte Urteile ringen.

Nach der Flut legt Gott die Rechtsprechung in unsere Hände. Gottes Begründung lautet: Denn als Bild Gottes sind die Menschen gemacht. (Gen 9,6) Lasst uns versuchen, Gottes Willen zu tun! Unsere Welt ist wunderschön. Der Bogen in den Wolken – Zeichen dafür, dass Ja Gottes Ja zur Schöpfung und zu den Geboten ewig gilt – leuchtete Noah und den Seinen und leuchtet uns bis heute. Unser kleiner blauer Planet mit Bergen, Wäldern, Tieren, mit neugeborenen Kindern wie Set, wie Jesus, wie die vielen Kinder überall: Gott hat sie geschaffen, diese sehr gute Welt. Und jedes neugeborene Kind steht als Zeichen dafür, dass Gott das Vertrauen in die Menschen noch nicht verloren hat.(1)
Hören wir auf das, was Gott uns gesagt hat, und orientieren wir uns daran, wie es das Lied singt:

Gott gab uns Atem, damit wir leben,
Gott gab uns Ohren, dass wir versteh'n.
Gott will nicht diese Erde zerstören.
Gott schuf sie gut, Gott schuf sie schön!
Gott will mit uns die Welt verwandeln.
Wir können neu ins Leben geh'n.

Lassen Sie uns Gott segnen für jeden Neuanfang, jetzt im Advent besonders für die neugeborene Hoffnung, die durch Maria in die Welt kam: für Jesus, den Messias, der uns auf den Weg des Gottes Israels mitnimmt. Lassen sie uns mit Maria singen von Gottes Heil in unsrer Zeit. Uns trägt die Hoffnung, die du trugst. Es kommt der Tag, der uns befreit.(2)

Der Friede Gottes, auf den wir in der Adventzeit immer wieder neu hoffen, segne unser Beten und Singen.

Gebet:
Gott, Du schaffst neues Leben, neue Hoffnung jeden Tag.
Du willst, dass Menschen in guten Beziehungen ohne Gewalt und Herrschaft leben.
Du willst Shalom für alle.
Hilf uns, Gewalt zu überwinden und der Hoffnung zu trauen, dass ein neuer Anfang immer wieder möglich ist.

Segen:
Der Segen des Gottes, dem Eva vertraut,
der Segen des Sohnes, den Maria zur Welt gebracht hat,
und der Segen der heiligen Geistkraft, die über uns wacht wie eine Mutter über ihre Kinder,
sei um uns alle.

Luise Metzler, Jahrgang 1949, arbeitet – nach vielen Jahren im Beruf als Lehrerin und dann in Familie und Ehrenamt – an einer Dissertation über Rizpa (1 Sam 21). Sie ist Mitglied im Redaktionsbeirat ahzw und zuständig für deren Marketing.

Anmerkungen:
1 So ein bekanntes Zitat des indischen Philosophen Rabindranath Tagore
2 aus: Durch Hohes und Tiefes. Gesangbuch der Evangelischen Studierendengemeinden Deutschlands, hg. v. Eugen Eckard, Friedrich Kramer, Uwe-Karsten Plietsch (abgedruckt S. 40)

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