Ausgabe 1 / 2021 Bibelarbeit von Klara Butting

Ein kleines Wörtchen mitreden

Biblische Assoziationen zu überLEBEN (Jes 40-55, Ps 90)

Von Klara Butting

Etty Hillesum war 26 Jahre alt, als die Truppen des nationalsozialistischen Deutschlands im Mai 1940 die Niederlande überfielen, die nach der Bombardierung Rotterdams innerhalb von fünf Tagen kapitulierten. Wie überall in Europa folgte dem Überfall und der Besatzung die systematische Schikane der in Holland lebenden Juden*, ihre Deportation und Ermordung.

Etty Hillesum setzt sich in Tagebuchaufzeichnungen mit dem Terror der Besatzungsmacht auseinander und macht sich ganz bewusst an die Arbeit mit sich selbst. Sie möchte – so schreibt sie – ein erwachsener Mensch werden „mit der Fähigkeit, anderen Sterblichen auf dieser Erde in ihren Schwierigkeiten beizustehen“ (20)2. Sie will in sich gegen Hass und Angst um Menschenliebe kämpfen und so eine neue Zeit vorbereiten, ein neues Europa ohne Hass und Gewalt. Dabei wächst in ihr die Gewissheit, „dass man unsere totale Vernichtung will“ (124) und sie bereitet sich darauf vor, wie so viele andere europäische Juden* durch die deutsche Gewalt getötet zu werden. Im Juli 1942 bekommt sie eine Stelle beim Judenrat und wird auf eigenen Wunsch nach Westerbork versetzt, das holländische Durchgangslager für die Deportationen der Juden* gen Auschwitz. Aus Westerbork schreibt sie an Freund*innen in Amsterdam: „Wenn wir diese Zeit unversehrt überleben, körperlich und seelisch unversehrt, aber vor allem seelisch, ohne Verbitterung, ohne Hass, dann haben wir auch das Recht, nach dem Krieg ein Wort mitzureden. Vielleicht bin ich eine ehrgeizige Frau: Ich möchte ein sehr kleines Wörtchen mitreden.“ Doch ihre Hoffnung, diese Zeit zu überleben, hat sich nicht erfüllt. Im September 1943 werden Etty, ihre Eltern und ihr Bruder nach Auschwitz abtransportiert. Laut Mitteilung des Roten Kreuzes ist sie am 30. November 1943 in Auschwitz umgekommen.

Etty Hillesum hat dieses Ende kommen sehen und war doch überzeugt, dass die Mörder ihr Leben in Würde und Solidarität mit ihrem Volk nicht zerstören können. Angesichts der wachsenden Gewissheit, dass die Deutschen die Vernichtung des jüdischen Volkes wollen, schreibt sie jene Sätze, die für mich zum überLEBEN unbedingt und unvergesslich dazugehören: „Ich möchte so gerne am Leben bleiben, um all die Menschlichkeit, die ich trotz allem, was ich täglich mitmache, in mir bewahre, in diese neuen Zeiten hinüber zu retten.“ (157) Doch „wenn mir das nicht vergönnt ist, nun, dann wird ein anderer mein Leben von dort an weiterleben, wo das meine unterbrochen wurde, und deshalb muss ich es so gut und so überzeugend wie möglich weiterleben bis zum letzten Atemzug, so dass derjenige, der nach mir kommt, nicht ganz von neuem anfangen muss und es nicht mehr so schwer hat“ (124).
Überleben – Leben aus der Treue anderer
Etty Hillesums Wunsch, ein Wörtchen mitreden zu wollen, ist wie ein Ruf, der mich bei der Stange hält und zum Durchhalten herausfordert, wenn ich Mut und Orientierung verliere. Gerade in Zeiten von Angst und Ohnmacht verlangt er nach Arbeit an mir selbst und so etwas wie geistiger Disziplin, um schwierige Situationen mitzutragen, um ein erwachsener Mensch zu werden „mit der Fähigkeit, anderen Sterblichen auf dieser Erde in ihren Schwierigkeiten beizustehen“ (20). Dieser Ruf aus der Vergangenheit ist zugleich eine Triebfeder meines theologischen Nachdenkens: Was passiert hier eigentlich? Und wie erzähle ich davon?

Eine Auseinandersetzung im Zuge einer Bibeltagung über diese Fragen möchte ich hier anhand des zweiten Teil des Jesajabuches (Kap. 40-55) teilen. In dieser Schriftensammlung aus der Zeit des jüdischen Exils in Babylon kommen Frauen und Männer zu Wort, die die Macht Babylons schwinden sehen und die Rückkehr der Juden* aus dem Exil nach Jerusalem ankündigen – was ein Großteil der Exilgemeinde nicht glauben konnte. Im berühmten Kapitel 53 bekennt die Mehrheitsgemeinde, dass durch ihre Gleichgültigkeit und vielleicht auch durch ihre Denunziation einer aus der Gruppe der Prophet*innen zu Tode gekommen ist: „Er wurde ermordet wegen unserer Treulosigkeit“ (53,5) und „Man gab ihm ein Grab unter den Verbrechern“ (53,9). Wir dachten – so beschreiben sie die Geschichte – er wäre von Gott geschlagen. Doch im Rückblick müssen sie erkennen, dass er sein Leben aufs Spiel setzte, da er ohne Unterlass eine Zukunft ganz Israels in Jerusalem ansagte. Als Aufruhrstifter und Verbrecher ist er dafür von den Babyloniern hingerichtet worden.

Und doch hat sich die Zukunft, von der er gesprochen hat, erfüllt: Jerusalem und die Städte Judas wurden wieder besiedelt. Das Jesajabuch behauptet nun, diese Neubesiedlung sei die „Beute“ des einen, der ermordet wurde. Sie ist sein Verdienst! „Er wird Nachkommen sehen, er wird satt werden. Die vielen [die in Jerusalem leben werden] teilt Gott ihm zu, eine Menschenmenge bekommt er als Beute“ (53,11-12).

Auf besagter Tagung drehte sich Aussprache zu diesem Textabschnitt um das Verhältnis zwischen dem Lebenseinsatz des Einen und der Zukunft der Vielen. Wie lassen sich diese Sätze verstehen: „Er wird Nachkommen sehen, er wird satt werden. Gott teilt die Vielen ihm zu, eine Menschenmenge bekommt er als Beute“? Eine Lesart kann sein: Der ermordete Prophet lebt weiter in der Zukunft seines Volkes. Wir nehmen die Gestorbenen, die uns vorangegangen sind, in unserer Erinnerung mit. Die Menschen, die plötzlich eine Chance bekommen, nach Jerusalem zurückzukehren, erschrecken im Rückblick über ihren Verrat. An der Treue des Einen wird deutlich, dass sie sich korrumpieren ließen. Nun gewinnt in ihrer Neubesinnung und Umkehr der Lebenseinsatz des Einen Lebendigkeit.

Ich möchte dieser Deutung nicht widersprechen, bin aber froh, dass das Jesajabuch es anders formuliert. Hier ist die Verhältnisbestimmung zwischen dem Ermordeten und der neuen Generation umgekehrt.

Der Ermordete ist Subjekt -„Er wird sehen und satt werden“
Entgegen der allgemeinen christlichen Lehrmeinung, dass die Hebräische Bibel von der Auferstehung aus den Toten nichts weiß, erzählt das Jesajabuch, dass der Ermordete lebendig ist. Die Zukunft seines Volkes ist der Lohn, der ihm durch eine Intervention Gottes zugeteilt wird. Nicht: Er lebt, weil sie seiner gedenken, sondern: Sie leben aufgrund seiner Treue. Das Leben der neuen Generation ist Zeichen der Lebendigkeit des Einen, der ermordet wurde. Die Vielen sind der Gewinn, den er mit seinem Lebenseinsatz erworben hat. Der Unterschied erscheint haarspalterisch, doch er ist von existenzieller Bedeutung, wenn ich an Etty Hillesum denke.

Sie sehnte sich, mitzureden, Europa neuzugestalten und wurde doch in Auschwitz ermordet. Spricht sie trotzdem in unserem Europa? Redet sie mit, weil wir ihrer gedenken, weil wir ihr Ringen um Menschlichkeit im täglichen Kampf gegen Hass und Angst weitererzählen und davon lernen? Darauf vertraue ich! Und gleichzeitig höre ich von den Menschen, die uns das Jesajabuch überliefert haben, eine andere Verhältnisbestimmung und lebe davon: „Sie wird Nachkommen sehen, sie wird satt werden. Gott teilt ihr die Vielen, die leben können, zu, die Menschenmenge ist ihr Verdienst.“ Mit anderen Worten: Es gibt dieses Europa überhaupt nur, weil Menschen wie Etty Hillesum den Kampf um Menschlichkeit aufgenommen haben und ihre Seele und ihren Geist vom Terror der Nazis nicht beherrschen ließen. Nicht: Sie lebt, weil wir ihrer gedenken, sondern: Wir leben, weil sie uns geträumt hat. Mit Gottes Hilfe hat sich ihre tägliche spirituelle Arbeit, um Hass und Angst die Herrschaft zu verweigern, mit der sie die neue Zeit in sich vorzubereiten versuchte, als stärker erwiesen als aller Terror der Nazis.

Die biblische Hoffnung auf die Auferstehung aus den Toten ist keine akademische Frage, die sich nach Abwägung aller Für und Wider mit ja oder nein beantworten lässt. Sie ist Widerstand gegen Gewalt und Mord. Sie weigert sich, die Macht der Mörder anzuerkennen und ihnen nachzusprechen: Etty Hillesum ist tot. Die Hoffnung auf die Auferstehung aus den Toten steht der Gewalt der Mörder entgegen und sagt: Etty Hillesum wurde ermordet, sie ist gestorben, aber sie ist lebendig! Ihren Kampf für Menschlichkeit konnten die Nazis mit ihrem Terror nicht zerstören. Dass wir leben, dass wir in Deutschland als Teil Europas uns für Treue und Menschlichkeit engagieren können, das ist Zeichen ihrer Lebendigkeit, das ist ihr Lohn, den Gott ihr auszahlt.

Über unserem Leben
Wenn wir uns von den Hoffnungen und der Arbeit der Vorangegangenen in Anspruch nehmen lassen, weitet sich der Horizont über unsere eigenen Erfolge und Niederlagen hinaus durch die Gewissheit, dass auch unsere Hoffnungen und Aufbrüche eine Kraft sind, von der kommende Generationen leben werden. Auch in Zeiten von Mutlosigkeit, Ohnmacht und politischer Regression ist unsere Mühe nicht vergeblich und Psalm 90 findet für diese Hoffnung wunderbare Worte.

Eine gewisse Bekanntheit hat wohl vor allem der Klageteil dieses Psalms – nämlich von Beerdigungen. Er beschreibt die menschliche Vergänglichkeit. Wie Gras sind die Menschen – am Morgen blüht es, am Abend welkt es und verdorrt. Besonders krass sind die letzten Zeilen dieser Klage, wonach alles, was wir tun um unser Miteinanderleben zu gestalten, am Ende umgekippt und sich in Leid verkehrt: „Die Tage unserer Jahre sind siebzig Jahre, und manchmal, wenn wir stark sind, achtzig Jahre. Ihr Stolz – Leid und Unheil!“

Vergeblichkeit und Vergehen zeigen sich nicht nur darin, dass wir jederzeit krank werden können, aus allem herausgerissen werden und sterben müssen, sondern auch im Misslingen von Träumen, im Scheitern von Beziehungen und politischen Aufbrüchen, in den Verletzungen, die die Liebe anrichtet. Wichtig nur – und auf Beerdigungen leider selten zu hören –, dass der Psalm damit Gottesferne beklagt, und nicht etwa die „condition humaine“ beschreibt, die es zu akzeptieren gilt, weil sie zu unserem Leben dazugehöre. Im Gegenteil: Im zweiten Teil des Psalms wird mit starken Worten dagegen Einspruch erhoben und die Hoffnung festgehalten, dass die Erde als Lebensort gestaltbar ist. Der Psalm ruft Gott zur Umkehr. Gott soll sich bekehren und in unser Leben zurückkehren.

Menschliches Leben soll nicht sinnlos und vergeblich dahingehen. Das Erreichte, auf das wir stolz sind, soll sich nicht am Ende in Mühsal und Unrecht verkehren. Der Psalm spricht damit nicht gegen unsere Endlichkeit, unser Leben hat Anfang und Ende. Doch vergeblich darf unser Leben nicht sein, ja nicht einmal vergänglich! Die Betenden formulieren, was sie glauben von Gott erwarten und hoffen zu dürfen: Gott soll aus den Fragmenten menschlichen Lebens den Himmel bauen, der sich schützend über seine Menschen wölbt. So ist die Bitte im letzten Vers:

Meines Herrn, unsres Gottes,
Zuneigung sei über uns!
Dem Tun unsrer Hände gib über uns Bestand,
dem Tun unsrer Hände, gib ihm Bestand!

(Psalm 90,17)

Zwei Mal wird diese schützende, „über uns“ erhoffte Bewegung wiederholt: Gottes Zuneigung sei über uns! Dem Tun unsrer Hände gib Bestand über uns! An der schützenden Bewegung der Zuneigung Gottes, die sich wie der Himmel über die Menschen wölbt, wollen die Betenden Anteil haben! „Dem Tun unserer Hände gib Bestand über uns!“. Die Betenden erwarten, dass ihr Tun ein Teil der Freundlichkeit Gottes wird, die das Leben aller Kreaturen der Erde behütet. Menschliche Arbeit soll in der Leben-sichernden Kraft aufgehoben werden, mit der Gott das Leben von Generation zu Generation auf dieser Erde ermöglicht.

Etty Hillesums Ruf trifft mich, wenn ich den Mut verliere und abstumpfe und diese Erfahrung hilft mir, die Worte des Psalms zu beten:

Dem Tun unsrer Hände
gib über uns Bestand,
dem Tun unsrer Hände,
gib ihm Bestand!

Anmerkungen

1 Die Übersetzungen der Bibeltexte sind eigene Versuche der Autorin im Gespräch mit Martin Buber und der Bibel in gerechter Sprache.
2 Die Seitenzahlangaben im Text sind aus: Etty Hillesum, Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943, Hamburg 1985.

Literatur
Klara Butting, Hier bin ich. Unterwegs zu einer biblischen Spiritualität, Uelzen 2011.
Etty Hillesum, Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943, Hamburg 1985

Klara Butting leitet das Zentrum für biblische Spiritualität und gesellschaftliche Verantwortung an der Woltersburger Mühle, sie ist Mitherausgeberin der Jungen Kirche und apl. Professorin an der Universität Bochum.

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