Alle Ausgaben / 2002 Bibelarbeit von Andrea Richter

Ein Mensch sieht, was vor Augen ist

Von Andrea Richter

(Auszug)

Möchte ich, dass man mir ins Herz schaut? Mich durchschaut? Wünsche ich mir, erkannt zu werden? „Was weißt du schon von mir?“ „Du kennst mich ja gar nicht!“ „Ich bin nicht so, wie du denkst!“ Solche Worte offenbaren eine große Sehnsucht danach, verstanden und das heißt: erkannt zu werden. Andererseits gibt es auch eine große Furcht davor. Wir leben zwischen dem Wunsch, dass uns ins Herz geschaut wird und der Furcht davor. Gott sieht das Herz an. Gott sieht das Wesen des Menschen, blickt bis auf den Grund, sieht den Kern an, das Innerste, dasjenige, was die Empfindungen beherbergt – von der Traurigkeit (Joh 16,6) bis zur Freude (Joh 16,22), von der Liebe (1 Sam. 18,1) bis zum Hass (Lev / 3. Mose 19,17). Das Wollen und Planen ist im Herzen zu Hause (Spr 16,9, Apg 5,4), die Weisheit wohnt hier (1 Kön 3,12) und die Hoffnung (Ps 37,4), aber auch die Torheit (Spr 22,15) und die Bosheit (Lk 6,45). Beschlüsse werden im Herzen gefasst (1 Kor 7,37), und hier wird der Mensch im eigentlichen Sinne getroffen (Apg 2,37). Das Herz – das ist der Kern der Person, ihr Zentrum. Es kann hart, aus Stein, finster, klein, traurig, verschlossen, schwach sein oder weich, aus Fleisch, rein, groß, fröhlich, offen, fest und stark. Dieses Herz also kann Gott ansehen und seine Beschaffenheit erkennen, während der Blick des Menschen an der Oberfläche hängen bleibt und nur sieht, was vor Augen ist, aber nicht weiter. Beispielhaft zeigt das die Erzählung von der Berufung des jungen David zum König (1 Sam 16,1-13).

 

Wahlprüfstein „Herz“

 

Stellen wir uns vor, wir träten in die Fußstapfen Gottes und prüften das Herz der Politikerinnen und Politiker, ehe wir sie wählten. Wie sollten wir das tun? Nicht ansehen, was vor Augen ist: nicht den Armani-Anzug, nicht die Trachtenjacke, nicht die Redegewandtheit, nicht die starke Stimme, nicht die guten Beziehungen zur Wirtschaft, sondern das Herz ansehen. Wie groß ist es? Für wen schlägt es? Ist es mutig? Und auch nicht eitel? Fraglich ist, ob unser Blick durchdringend genug wäre.

Keiner der prächtigen sieben Söhnen des Isai hält der Prüfung des Herzens stand. Aber mehr sind nicht da! Doch, da ist noch der jüngste. Den hat Isai gar nicht erst mitgebracht. Der ist noch nicht kultfähig – noch nicht konfirmiert sozusagen – und kommt also sowieso nicht infrage.

Das Motiv des auserwählten Jüngsten kennen wir aus dem Märchen. Es sind die jüngsten Geschwister – diejenigen, die noch nichts können, zu nichts Gescheitem taugen, ein wenig töricht sind, in der Rangordnung der Familie die Niedrigsten – , die ein Königreich gewinnen. Was qualifiziert sie dazu? Sie beachten die Kleinen, Unscheinbaren, sie teilen ihr Brot mit den Geringen, sie hören auf die Stimmen der am Rande Stehenden, sie sind aufmerksam und schenken Beachtung. Das alles bringt aber kein „Ansehen“ vor der Welt, die anderen machen sich lustig über so ein Verhalten und schauen nicht mehr hin. Über David wird hier explizit nichts dergleichen berichtet, aber das muss wohl auch nicht sein, denn die Zuhörerinnen und Zuhörer wissen, dass es immer so ist in Geschichten, die vom Jüngsten der Geschwister handeln.

Diesem David, dessen Herz Gott angesehen hat und der mit dem Geist Gottes begabt ist, werden später die Worte des 139. Psalms in den Mund gelegt: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne, wie ich's meine.“ (Vers 23) Der Psalmbeter weiß: Gott kennt mich nicht nur besser als andere Menschen mich kennen können, er kennt mich auch besser als ich mich selbst kenne. Gott sieht nicht nur tiefer in mich hinein als andere, sondern auch tiefer als ich selbst in mich hinein sehen kann. Wer das begriffen hat, kann dann sagen: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“ (Vers 5) Ich bin kein Nichts, ich kann nicht untergehen. Ich bin getragen, gekannt und geliebt. Hier im Psalm ist die Antwort auf die Erkenntnis, dass ein Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber das Herz ansieht.

Also: Gott fordert Samuel auf, die göttliche Sichtweise zu übernehmen, hinter das zu sehen, was vor Augen ist, tiefer zu sehen, das Äußere zu durchdringen und zum Kern vorzudringen. Dann wird er zu sehen bekommen, was im Menschen steckt, wird die Möglichkeiten erkennen, die ein Mensch hat. Dieser Blick ist nicht entlarvend, stellt nicht bloß. Dieser Blick ist kein kalter Blick, sondern ein warmer Blick, ist der Blick der Liebe, ist ein Blick, der hilft, den richtigen Platz im Leben zu finden. In Samuel sind wir angesprochen, Gottes Sichtweise zu übernehmen und somit einander zum richtigen Platz im Leben zu verhelfen.

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