Ausgabe 2 / 2010 Andacht von Magdalene L. Frettlöh

Ein Neuanfang, der entbindet

Andacht zur Vergebungsbitte des Vaterunsers Mt 6,12

Von Magdalene L. Frettlöh


„Alles wandelt sich. Neu beginnen
Kannst du mit dem letzten Atemzug.
Aber was geschehen, ist geschehen. Und das Wasser
Das du in den Wein gossest, kannst du
Nicht mehr herausschütten.
Was geschehen, ist geschehen.
Das Wasser
Das du in den Wein gossest, kannst du
Nicht mehr herausschütten, aber
Alles wandelt sich. Neu beginnen
Kannst du mit dem letzten Atemzug.“(1)

Was für eine Verheißung, die Bertolt Brecht uns da zumutet! Auch wenn wir nichts rückgängig machen können von dem, was wir getan, was wir versäumt, worin wir uns verfehlt haben – es gibt dennoch einen Neuanfang, selbst noch mit dem letzten Atemzug.

Hannah Arendt ist davon überzeugt: Es ist das Verzeihen, das einen solchen Neuanfang möglich macht. Denn das Verzeihen befreit uns von den Fesseln unserer Verfehlungen und Unterlassungen. Wir bleiben nicht für immer gebunden an die Schuld, in die wir uns verstrickt haben. Dabei gehört für Arendt das Vergeben zum Menschenmöglichen. „Der Mensch heißt Mensch, weil er vergibt“, könnte sie wohl mit Herbert Grönemeyer singen. Das Verzeihen ist für sie eine Selbstheilungskraft menschlichen Handelns.(2)

Anders die Vergebungsbitte des Vaterunsers: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ Unser zwischenmenschliches Vergebenkönnen ist keine Fähigkeit, die wir von Haus aus besitzen. Es ist hier vielmehr Teil der Bitte um Gottes Vergebung. Es ist buchstäblich ins Gebet genommen. Dass wir anderen (und uns selbst) vergeben können, versteht sich nämlich nicht von selbst. Das ist ein Geschenk. Jedes Vergeben(können) müssen ist darum fehl am Platz. Erzwungene Vergebung ist keine Vergebung! Unsere Fähigkeit, den Menschen zu vergeben, die an uns schuldig geworden sind, lässt sich nicht trennen von der befreienden Erfahrung am eigenen Leib, dass jemand uns die Last unserer Schuld abnimmt.

Darum bleiben wir auch in dieser Andacht nicht unter uns, sondern vertrauen darauf: Gott ist gegenwärtig.
Wir sind zusammen im Namen der göttlichen Dreifaltigkeit:
im Namen Gottes,
dessen väterliche Liebe aus dem Mutterschoß des Erbarmens aufsteigt,
im Namen des Sohnes,
der in brüderlicher Solidarität die Last unserer Verfehlungen trägt,
und im Namen der Heiligen Geistkraft,
die uns dazu befreit, die Schuld der anderen mitzutragen, statt sie ihnen
nachzutragen. Amen.

Lied: O Herr, nimm unsre Schuld
(EG 235)

Biblischer Realismus
„Meine Schuld ist zu groß, sie kann nicht getragen werden“, klagt Kain vor Gott, nachdem er seinen Bruder Abel getötet hat. Realistisch und nüchtern nimmt die Bibel von Anfang an wahr, dass Schuld Menschen zu Boden drücken kann. Die Folgen einer Tat können so schwer auf uns lasten, dass wir unter ihnen zusammenbrechen. In einer solchen Situation kommt alles darauf an, dass wir mit dieser Last nicht allein bleiben, dass wir jemandem davon erzählen können – in der Hoffnung, dass er oder sie uns diese Last abnimmt oder sie uns doch zumindest erträglich macht.

Kain verschweigt seine Schuld nicht. Was ihm unerträglich ist, klagt er Gott. Es ist nicht leicht, über Schuld zu sprechen, denn Schuld ist, wo wir sie erkennen, mit Scham verbunden. Von etwas zu sprechen, wofür wir uns schämen, setzt Vertrauen voraus und die Verschwiegenheit derer, denen wir uns anvertrauen. Unser Schuldbekenntnis soll uns ja nicht bloßstellen, sondern befreien. Darum muss ihm die Zusage der Vergebung zuvorkommen. Eingestehen, dass wir schuldig geworden sind, können wir nur, wenn uns zuvor gesagt ist, dass uns diese Last nicht für immer aufgebürdet bleibt, dass wir – was immer auch geschehen – noch einmal neu beginnen können.

Gegenseitige Vergewisserung des Neuanfangs: Je zwei Frauen wenden sich einander zu und sprechen sich gegenseitig das Brecht-Gedicht zu. Sie können die Worte mit einer berührenden Geste verbinden.

Schuldverstrickungen benennen und anschaulich machen
Keine Schuld ist so groß, dass sie nicht getragen werden kann. Keine Schuld
ist so groß, dass sie ein Leben für immer belasten wird. „Neu beginnen kannst du mit dem letzten Atemzug.“ Mit diesem Versprechen mag es uns möglich sein, wie -zaghaft und unsicher auch immer, Schuld, die uns belastet, zu benennen. Dabei wird es vermutlich nicht nur um Erfahrungen gehen, die wir in unserem persönlichen Nahbereich machen, in der Familie, mit Freundinnen und Freunden, am Arbeitsplatz … – Quälend kann ja gerade auch die Schuld sein, in die wir ohne unser eigenes Zutun verstrickt sind, weil wir in Strukturen leben, in denen es uns auf Kosten anderer gut geht.

Die Vergebungsbitte des Vaterunsers spricht die Sprache des Erlassjahres, des Schuldenerlasses in jedem siebten Jahr(3): „Erlasse uns unsere Schulden, wie auch wir sie erlassen unseren Schuldnern.“ Diese Bitte nimmt ernst, dass es nicht nur in überschaubaren zwischenmenschlichen Zusammenhängen zu Versagen kommt, mit dem wir schuldig werden, dass wir vielmehr verstrickt sind in weltweite Unrechtsstrukturen. Es gibt nicht nur ein globales Netz der Kommunikation, es gibt auch ein globales Netz der Verschuldung. Wir sind Mittäterinnen, ohne dass wir willentlich oder vorsätzlich Unrecht begangen haben. Oft genügt schon ein Blick in die Tageszeitung, um dies zu erkennen.

Schuldverstrickung sichtbar machen:
Die Frauen schneiden Zeitungsartikel aus, die schuldhafte Verstrickungen in Wort und Bild bezeugen. Sie wickeln bereit liegende Steine in diese Zeitungen ein.

Die Frauen schreiben eine persönliche Schuldgeschichte auf und umwickeln einen Stein so mit dem Blatt, dass die beschriebene Seite nach innen zeigt. Alle Steine werden mit Kordeln an den Seilen befestigt. Die Seile werden mit dem einen Ende untereinander verknüpft und mit dem anderen Ende bindet jede Frau sich das belastet-belastende Netz ans Bein (an ein Fußgelenk). In Szene gesetzt ist so eine kollektive Verstrickung. Zugleich ist keine Frau mit der Last ihrer Schuld allein.

Die doppelte Gabe der Vergebung
„Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Wie die Vergebung Gottes, um die wir bitten, ist auch unser zwischenmenschliches Vergebenkönnen eine uns geschenkte Gabe. Dass wir anderen ihre Schuld nicht länger nachtragen müssen, sondern sie ihnen abnehmen können – darum bitten wir, weil wir es nicht von uns aus können. Dass wir so frei sind, auf Vergeltung oder Bestrafung zu verzichten, dass wir Schulden nachlassen und Schuld vergeben können, das ist nicht unsere eigene Leistung. Zu einem solchen befreienden Tun müssen wir selbst allererst befreit werden.
Indem wir Gott um Vergebung bitten und damit zugeben, vergebungsbedürftig zu sein, werden wir dazu fähig, einander zu vergeben. Wir können einander die Schuld aufheben, sie auf uns nehmen und dorthin tragen, wo wir selbst mit unserer Schuld getragen sind, wo auch uns unsere Schuld abgenommen und vergeben ist. Darum lasst uns in die Vaterunserbitte einstimmen: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“

Vergebung erfahren: Eine Frau kommt von außen und befreit jede von ihrer Fußfessel.

Vergebung ist Entbindung
Vergebung ist ein Wunder, sagt Hannah Arendt, ein Wunder des Neuanfangs, eine zweite Geburt mitten im Leben. Vergebung macht es möglich, dass wir noch einmal neu anfangen können. Sie löst uns die Fesseln früheren Tuns. Unser Versagen wird uns nicht länger beherrschen, unsere Verfehlungen werden uns nicht mehr verfolgen. Wir können aufatmen, den Kopf heben. Unsere Füße sind auf weiten Raum gestellt. Wir können singen und springen.

Erfahrene Vergebung feiern: Die entbundenen Frauen lösen – eine der anderen – die Kordel mit den Steinen von den Seilen und legen jene unter das in einer Ecke des Raumes aufgestellte Kreuz. Die Frau, die die Fußfesseln gelöst hat, breitet über die Steine eine doppelte Blütendecke von Osterglocken aus. Zur Melodie von „Nun freut euch, lieben Christen g'mein, und lasst uns fröhlich springen“ (EG 341) werden aus den Fußfesseln Sprungseile, die zu befreitem Springen, Hüpfen und Tanzen einladen. Die Entbindung und Entlastung soll leibhaftig spürbar sein.
Die Osterglocken symbolisieren die Auferstehung als das Geschehen, in dem die stellvertretende Schuldübernahme Jesu von Gott in ein befreiendes Ereignis verwandelt wird – zuerst für Jesus und dann für alle Menschen. Darum muss das Kreuz leer sein. EG 341,1 kann statt instrumental zu erklingen auch gemeinsam gesungen werden.

Entbindung macht sprachfähig
Wir sind entbunden, haben Befreiung erfahren, können entfesselt hüpfen und springen.

Entbunden können wir die Schuld bekennen, die uns belastet hat: …

Entbunden können wir für die Gabe der Vergebung danken: …

Entbunden können wir für die bitten, die in unserer Schuld stehen: …

Entbindung ins Gebet nehmen: In Kleingruppen formulieren die Frauen im Rückblick auf das, was ihnen mit der Last der Steine abgenommen wurde, Gebetssätze des Bekenntnisses, des Danks und der Fürbitte. Das Gebet wird zum (geschützten) Sprachraum für die Erfahrung von Schuldverstrickung, Entbindung und Vergebungsbereitschaft.

Lied: Geh unter der Gnade, geh mit Gottes Segen(4)

Sendung und Segen:

Eigene Entbindung weitergeben:
Jede Frau wird eingeladen, eine Osterglocke mitzunehmen und diese einem Menschen zu bringen, der an ihr schuldig geworden ist. So kann die Vergebung aus der Gruppe in den Alltag ausstrahlen.

Gott segne euch mit einem geöffneten Herzen
und sei geistesgegenwärtig in euren Worten.
Gottes Erbarmen richte euch auf
und schaffe der ganzen Welt Lebensatem.
Gottes Liebe halte euch fest – bei Tag und bei Nacht.
Darum geht! Ihr seid gesegnet und werdet ein Segen sein. Amen.

Material: ein langes (Sprung-)Seil
für jede Frau, Kordel, Tageszeitungen, unbeschriebene Blätter, Stifte, handhabbare Steine, Scheren, ein Kreuz (ohne Kruzifix), mehrere Sträuße Osterglocken, ein Textblatt mit dem Gedicht von Bertolt Brecht, Melodie von EG 341 live gespielt oder auf CD

In der vorliegenden Form braucht die Andacht je nach Größe der Gruppe 60 bis 90 Minuten. Sie kann aber auch um einige der Inszenierungselemente gekürzt werden.

Dr. Magdalene L. Frettlöh, geb. 1959, ist Rektorin des Kirchlichen Fernunterrichts der Ev. Kirche in Mitteldeutschland und Privatdozentin für Systematische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum.


Anmerkungen

1 Bertolt Brecht, „Alles wandelt sich“, aus: Bertolt Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 15. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1993. Das Brecht-Gedicht hat in dieser Andacht die Funktion eines Psalms.
2 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1967/Neuausgabe 1981/71992, 231–238.
3 5Mose 15,1ff.
4 Lied 66 in: Singt von Hoffnung. Neue Lieder für die Gemeinde, hg. von der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, Leipzig 2008

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