Alle Ausgaben / 2016 Artikel von Heike Witzel

Ein Paket aus Sinneseindrücken

Was sich aus der Biologie lernen lässt oder: Geschmack wird im Gehirn gemacht

Von Heike Witzel

Der Geschmacksinn ist einer der vier klassischen Sinne: Hören, Riechen, Schmecken, Sehen. Schmecken als Nahsinn war früher überlebenswichtig, da er die Nahrung auf ihre Genießbarkeit hin prüft. Süßes verheißt Energie. Salz ist wichtig für verschiedene Körperfunktionen. Umami weist auf Proteinquellen hin. Sauer hingegen zeigt unreife Früchte oder verdorbene Nahrung an. Bitter signalisiert giftige und ungenießbare Pflanzen.

Was schmecken wir?

Wissenschaftlich sind fünf Grundgeschmacksrichtungen anerkannt: süß, sauer, salzig, bitter und umami. Für diese Geschmacksqualitäten sind jeweils eigene Geschmacksrezeptoren (Reiz-Empfänger) nachgewiesen. Nur in Speichel gelöste Stoffe sind schmeckbar.

Süß
Süß schmecken Zucker und Abkömmlinge wie Fruchtzucker oder Milchzucker. Auch Eiweiße oder Alkohole können die Sinneszellen für süß anregen.

Sauer
Sauer schmecken vor allem saure Lösungen (Essig, Zitronensaft, organische Säuren). Verantwortlich für den Reiz sind die sogenannten Wasserstoff-Ionen (chemisch H+), die sich in einer wäss­rigen Säurelösung abspalten.

Salzig
Rein salzig schmeckt nur Natriumchlorid (NaCl, Kochsalz). Kaliumsalze können auch Salzempfindung auslösen, haben aber oft einen bitteren Beigeschmack.

Bitter
Bitterer Geschmack wird durch zahlreiche, sehr unterschiedlich gebaute Stoffe ausgelöst. Insgesamt gibt es etwa 35 unterschiedliche Eiweiße in den Sinneszellen, die auf bittere Geschmacksstoffe reagieren. Entwicklungsgeschichtlich lässt sich dies durch die vielen bitteren Pflanzenarten erklären, die teilweise giftig waren.

Umami (herzhaft-würzig)
„umami“ (japanisch) erinnert an Fleischbrühe. Die beiden Aminosäuren Glutamin- oder Asparaginsäure, die Bestandteil vieler Eiweiße in tierischer und auch pflanzlicher Nahrung sind, lösen den Geschmackseindruck aus. Glutamat, das Salz der Glutaminsäure, wird als Geschmacksverstärker eingesetzt.

Die Empfindlichkeit des Geschmackssinns ist an die physiologisch notwendigen wahrzunehmenden Konzentrationen angepasst. Während wir bei salzigen, sauren und süßen Stoffen relativ unempfindlich sind, reagieren wir auf Bitterstoffe in sehr niedrigen Konzentrationen. Letztere könnten ja toxisch sein. Auch das „Behalten“ des bitteren Geschmacks im Mund ist sehr viel länger als bei den anderen Geschmäckern.

Nach neueren Erkenntnissen gibt es eigene Rezeptoren, die auf Fett reagieren. Sie konnten sowohl bei Tieren wie Menschen nachgewiesen werden. Fettig wäre somit die sechste Grundqua­lität für den Geschmack. An weiteren möglichen Geschmacksqualitäten wie alkalisch, metallisch oder wasserartig wird geforscht.

Übrigens: Die Qualität scharf ist keine Geschmacksqualität, sondern eine Schmerzempfindung der Zunge, ausgelöst durch bestimmte Substanzen. So stimuliert das in Chili enthaltene „Capsaicin“ beim Essen Thermorezeptoren im Mund, die ein Schmerzsignal ins Hirn senden. Es sind dieselben Thermorezeptoren, die beim Zungeverbrennen durch zu heiße Speisen reagieren. Eukalyptus oder Menthol in Bonbons oder Zahnpasta wird ebenfalls auf der Zunge als „scharf“ wahrgenommen, weil sie die Kälterezeptoren auf der Zunge anregen.

Zum Diskutieren in der Gruppe
Fragen:
Was schmeckst du gerade?
Kann man auch nichts schmecken?

Wo schmecken wir?

Wir schmecken im Mund, und dort vor allem mit der Zunge. Doch auch im restlichen Mundraum (Gaumen, Rachen, Kehldeckel, Nasenraum und obere Speiseröhre) befinden sich „geschmackserkennende“ Zellen.

Die Zunge ist das Sinnesorgan für das Schmecken und empfindlichster Ort für die Tastempfindung. Sie ist ein extrem beweglicher Muskel, der mit einer Schleimhaut überzogen, gut durchblutet und mit vielen Nerven versorgt ist.

Die Geschmäcke süß, sauer, salzig, bitter und umami werden von allen Bereichen der Zunge wahrgenommen, wobei die seitlichen Bereiche der Zunge empfindlicher sind als die mittleren. Jede empfindliche Region der Zunge bildet alle gustatorischen Qualitäten ab, wenn auch mit kleinen Differenzen. An der Zungenspitze wird etwas stärker Süßes wahrgenommen, Bitteres hingegen vorwiegend im hinteren Zungenbereich. Letzteres ist anscheinend eine Schutzfunktion, damit giftige oder verdorbene Stoffe rechtzeitig ausgespuckt werden können, bevor sie in den Rachen gelangen und geschluckt werden.

Auf der Zunge kann man ihre raue Oberfläche erkennen. Sie wird durch eine Besonderheit der Schleimhaut hervorgerufen. Sogenannte Papillen bilden zahlreiche kleine warzenähnliche Erhebungen.

Die Geschmackspapillen vergrößern die Oberfläche der Zunge um ein Vielfaches. So können die Geschmacksqualitäten verstärkt wahrgenommen werden. In den Papillen sind mehrere Geschmacksknospen mit Sinneszellen eingelagert. Nach der Form unterscheidet man drei Papillen-Typen: Pilzpapillen (200 bis 400 auf den vorderen zwei Dritteln der Zunge) Blätterpapillen (am hinteren Seitenrand der Zunge: circa 20, pro Papille ca. 50 Knospen) und Wallpapillen (an der Grenze zum Rachen, 7-12 Wallpapillen mit je ca. 100 Geschmacksknospen)

Womit schmecken wir?
Die Geschmacksknospen sind das eigentliche Geschmacksorgan mit zahlreichen Sinneszellen. Jede Knospe beherbergt 20 bis 50 Sinneszellen, die sich wöchentlich erneuern. Die Form gleicht einer Blumenknospe oder einer Orange. Die meisten Knospen befinden sich in den Papillen.

Wie schmecken wir?
Die gelösten Geschmacksstoffe kommen über die Öffnung der Knospe (Porus) mit der Oberfläche der Sinneszellen in Kontakt. Hier sitzen die Rezeptoren für die Geschmacksstoffe. Jede Sinneszelle ist mit Nervenbahnen verbunden. Die Geschmacksinformationen werden über Nervenfasern dreier verschiedener Nerven ins verlängerte Rückenmark geleitet. Von dort gehen sie über den Thalamus zur primären Geschmacksrinde (Insel, stammesgeschichtlich alter Teil des Gehirns). Hier erfolgt die bewusste Geschmackswahrnehmung. Von dort geht ein Teil der Informationen in die sekundäre Geschmacksrinde (orbitofrontaler Kortex). Hier treffen die Geschmackseindrücke auf die Riecheindrücke und hier entstehen die Aromen. Ein anderer Teil wandert in Teile des Hirns, die mit Emotionen zu tun haben (Hypothalamus und Amygdala, stammesgeschichtlich ebenfalls alte Gehirnteile).

Schmecken und Riechen

Der Geruchssinn ist einer unserer ältesten Sinne. Auch er dient der Beurteilung von Nahrung. Wir können an die 10.000 Gerüche unterscheiden. Für das Geschmackserlebnis ist der Geruchssinn mitentscheidend. Erst durch das Zusammenspiel der beiden Sinne Riechen und Schmecken entsteht das Aroma eines Lebensmittels. Bei einem gestörten Geruchssinn (z.B. Schnupfen) ist meist auch die Geschmackswahrnehmung beeinträchtigt.

Flüchtige Bestandteile gelangen zum einen über die Atemluft in die Nasenhöhle, zum anderen im Mund beim Kauen über den Rachen zur Nasenhöhle. Dort senden die Rezeptorzellen der Riechschleimhaut Signale ins Gehirn.

Beide Sinne sind direkt mit Zentren im Gehirn verschaltet, die für Grundbedürfnisse wie Hunger und Durst, für Emotionen und Erinnerungen zuständig sind. Das erklärt, dass zum Beispiel ein schlechter Geschmack oder Geruch Erbrechen und Übelkeit hervorrufen kann. Oder dass appetitlich empfundene Aromen uns das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen.

Zum Ausprobieren und Diskutieren:
Testpersonen trinken mit verbundenen Augen eine Tasse heißes Wasser, gleichzeitig wird Kaffeeduft im Raum verbreitet durch wirklich gekochten Kaffee.
(Das Ergebnis einer Studie sagt dazu: Die Teilnehmenden waren überzeugt, Bohnenkaffee zu trinken.)

Geschmack und Geschmack

Das was wir allgemein unter „Geschmack“ verstehen, ist im Grunde ein Paket aus Sinneseindrücken. Außer dem Geruch fließen auch Informationen wie Temperatur, Konsistenz oder Schmerz ein.

Auch Optik und eigene Erwartungen beeinflussen die Geschmackswahrnehmung. Das zeigen verschiedene Studien:
– Die unterschiedliche Etikettierung eines identischen Weines als Tafelwein und Gran Cru ließ den vermeintlich Höherwertigen bei der Bewertung auch besser abschneiden.
– Die Blindverkostung ein und desselben Weißweines als Weiß- und Rotwein (mit geschmackloser Lebensmittelfarbe eingefärbt) ergab in der Beschreibung für den Weißwein typische Weißwein- und dem angeblichen Rotwein typische Rotweinaromen.
– Ein roter Gelee aus Roter Bete mit zugesetzter Weinsäure schmeckt unter der Ankündigung „Schwarzer Johannisbeergelee“ gut, unter der Ankündigung Rote-Bete-Gelee wird er als ekelhaft abgelehnt.

Zum Selbstausprobieren und Diskutieren:
Testpersonen essen Gummibärchen verschiedener Farben, denen verschiedene Geschmacksrichtungen zugeschrieben sind. Danach essen sie die Gummibärchen mit verbundenen Augen und bestimmen ebenfalls die Geschmacksrichtung.

Genetische Unterschiede

Jeder Mensch schmeckt anders. Die Sensibilität für die Wahrnehmung von Geschmacksreizen ist genetisch bedingt und individuell unterschiedlich. Sie nimmt bei Menschen im Laufe des Alters ab.

Menschen unterscheiden sich in der ­Anzahl von Geschmackszellen auf der Zunge. Es wird unterschieden zwischen Superschmeckern (durchschnittlich etwa 425 Geschmacksknospen pro cm²), Normalschmeckern (etwa 180) und Nichtschmeckern (etwa 100).

Etwa die Hälfte der Weltbevölkerung zählt zu den Normalschmeckern, jeweils 25 Prozent zu den anderen beiden Gruppen. Die Superschmecker nehmen Geschmacksreize wesentlich intensiver wahr, vor allem Bitterstoffe.

Geschmacksprägung

Das gustatorische (schmeckende) und olfaktorische (riechende) System entwickelt sich beim Fötus bereits im Frühstadium der Schwangerschaft. Die Zunge mit den Geschmacksknospen entsteht im zweiten Schwangerschaftsmonat. Ab dem dritten Monat nimmt das Ungeborene den Geschmack des Fruchtwassers wahr. Schon vor der 28. Woche reagiert es nachweislich positiv auf süße Geschmacksreize und negativ auf Bitteres. So trägt die Mutter über das Fruchtwasser schon vor der Geburt zur Geschmacksprägung des Kindes bei.

Diese Prägung setzt sich in der nachgeburtlichen Stillzeit fort. Muttermilch enthält Milchzucker und Eiweiß, schmeckt also süßlich und umami. Diese Präferenz ist bei Neugeborenen nachweislich vorhanden. Gleichzeitig lässt sich eine angeborene Aversion gegen Bitteres und Saures beobachten (mimischer Abwehrreflex). Erst nach etwa zwei Jahren beginnt die Akzeptanz von Saurem in geringen Konzentrationen. Eine Vorliebe für Salz wird erst mit dem Heranwachsen entwickelt.

Die subjektive Bewertung einer Speise, die im Hirn erfolgt, ist angeboren, kann aber durch Lernvorgänge beeinflusst werden.

Oder haben Sie als Kind schon „bitteren“ Kaffee gemocht?

Heike Witzel, geb. 1962, ist Mikro- und Mole­kularbiologin, Betriebswirtin (IWW) und hat einige Semester Medizin studiert. Sie ist seit Anfang der 1990er Jahre in der Jugend- und Erwachsenen­bildung in verschiedenen Positionen tätig, aktuell in der Evangelischen Erwachsenenbildung Sachsen-Anhalt in Halle an der Saale.

Literatur
Michael Gekle, Erhard Wischmeyer, Stefan Gründer, Marlen Petersen, Albrecht Schwab u.a., Taschenlehrbuch Physiologie. Georg Thieme Verlag Stuttgart 2015
Speckmann, Hescheler, Köhling, Physiologie. Elsevier München 2008

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