Alle Ausgaben / 2004 Material von Huub Oosterhuis

Ein Psalm, ein Tischgebet

Von Huub Oosterhuis

 

Der Du die Menschen siehst wie keiner sonst,
das Gute kennst, das ohne Lohn getan wird,
die Liebe, die die Welt trägt, unbeachtet.
Der Du den stummen Mund der Sterblichen
– wir alle insgesamt – schon jetzt verstehst;
der auch das Bitten ohne Worte hört
hinter den Worten, die wir zu Dir sprechen.

Du hast uns einst geschaut: künftige Menschen –
ein jeder stand vor Deinen Augen,
aufrecht, erwachsen, keinem untertan.
Denn Du hast uns erschaffen und gerichtet
auf die Vollendung hin: auf Deine Stimme
abgestimmt, und ich bin ich geworden,
Du aber ohne Zögern unser Vater.

Du hast uns seither ohne Unterlass
gesagt, was gut ist: Recht zu tun, einander
aus Durst und Tod zu retten und zu lieben
den Fremden, der in unserer Mitte ist.
Das Wort, das Du von Anfang an
uns eingepflanzt als Weg des Lebens –
die Finsternis hat es nicht überwältigt.
Propheten, Stimmen, Kraft aus Deiner Stimme,
haben uns zugerufen, wer wir sind:
Wozu, wohin – zu Dir; und das Gewissen
erhob sich wieder: Wasser aus dem Felsen.
Und als wir durch das Tal des Todes gingen
und keinen Weg mehr sahen, da hast Du
uns Deinen vielgeliebten Sohn gegeben.

Wie dieser hat noch nie ein Mensch gesprochen.
In ihm verstanden wir den Sinn des Daseins,
warum Du diese Welt geschaffen hast,
den tiefsten Abgrund und den höchsten Himmel.
Und als Dein Name nicht mehr heilig war,
wie heute – in jener Zeit voll von Verzweiflung,
dass wir umsonst leben – da ist er gekommen.

Er war Dein Wort. Alle Gerechtigkeit
hat er vollbracht. Er war für alle da,
Brot, das die Welt nährt, und ein Becher Wasser,
jenem Geringsten unter uns gereicht.
Er rief die Toten wieder, brach den Fluch
von Nacht und Finsternis. Mit eigenen Augen
durften wir ihn sehen – er stirbt nicht mehr.

Wir, die mit allen Sterbenden der Welt
mitsterben, wir, die mit allen, die noch leben
auf den Tag hin hoffen, der uns bringt,
dass wir, in Licht gehüllt, mit Augen
Dich sehen, der Du in allen alles bist;
immer entfernter unserem Ziel, ermattet,
blind füreinander, rufen wir zu Dir.

Wo unsere Toten sind, verbrannt, verweht,
fragen wir Dich, warum denn gnadenlos
die Ärmsten dieser Welt vernichtet werden –
warum wir, die mit nur wenigen besitzen,
was vielen eigen ist, Dein Wort wohl hören,
aber nicht genug verstehen – warum wir wissen,
was leben heißt, und leben dennoch nicht?

Versprochen hast Du uns, dass wir Dein Atem
und Deine Kraft auf dieser Erde sind.
Weck' unsere Kraft, entfache Leidenschaft,
dass wir, einander haltend, einigen Herzens,
in Dir verharren. Tröste uns hier und jetzt,
gib uns den Nächsten, nimm uns an der Hand.
Du weißt doch, wie verzweifelt wir oft sind.

Du, der uns kennt, der unseren Schein durchschaut;
der Du uns suchst, wo wir noch klein und sanft
und gut und ewig sind, wir brechen auf
von diesem Ort in dieser Stunde
zu Dir. Denn Du bewegst uns, Du bist Licht,
unüberholbar Gott, lass über uns
aufgehen Deinen Namen, Deinen Frieden.

aus: Menschen vor Tag und Tau
© Herder Verlag, Wien 1978

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