„Den Mauerfall, den gibt es nicht in ihrem Kopf. Nicht in echt, als Erlebnis, als eigenes Bild“, schreibt Carmen Böker in der heutigen Ausgabe der Berliner Zeitung. Teil 18 der – mich als gelernte Westdeutsche faszinierenden – Porträtserie über „Die Ostdeutschen. 25 Wege in ein neues Land.“
Die Rede ist von Hanna Hünniger, geboren 1984 im Weimar. In deren Kopf es den Mauerfall nicht gibt, dessen Folgen das Leben ihrer Eltern und damit auch ihres aber so massiv geprägt haben. Vier Jahre danach, 1993, entsteht Renate Quasts Radierung „Mauer im Kopf“, die wir für das Titelbild dieser Ausgabe gewählt haben; Anlass ist eine Tagung der Landeszentralen für politische Bildung in Baden-Württemberg und Sachsen: Wir sind ein Volk! Sind wir ein Volk? Hanna Hünniger ist da neun Jahre alt. Geprägt, wie sie sagt, „vom Schweigen der Erwachsenen, der Erstarrung der Älteren, dem Vergessenwerden der Kinder, dem Autoritätsverlust der allzu oft abgewickelten, hilflosen Eltern.“
Gewiss haben nicht alle Menschen in Ostdeutschland die Jahre nach der „Wende“ als eine derart traumatisierende Zeit erlebt. Der Weg „in ein neues Land“ war gleichwohl steinig, auch, oft gerade für diejenigen, die ihn mit bewundernswertem Mut in ihrer Friedlichen Revolution freigekämpft hatten, während sich für die meisten Westdeutschen kaum etwas in ihrem Alltag änderte. Größer war ihre Republik geworden, erweitert um „neue Bundesländer“. Aber ein gefühlt neues Land? Dazu hätte es größerer Veränderungen auch im Westen bedurft – einer ernsthaften Diskussion zum Beispiel über eine gemeinsam erarbeitete neue Verfassung. Nur eine von vielen vertanen Chancen, das neue Land gemeinsam zu bauen. Und nein, auch Hanna Hünniger „sehnt sich nicht nach dem Land, das es nicht mehr gibt“. Aber, schreibt Carmen Böker, „sie will Geschichten hören aus dieser Zeit. Nicht die, die aus sentimentalen Gründen erzählt und überzuckert werden. Sondern die, die dabei helfen würden, aus der Vergangenheit heraus die Gegenwart zu verstehen.“
Die Gegenwart, in der es die Mauer in den Köpfen immer noch gibt. Wie auf unserem Titelbild: nicht auf den ersten Blick erkenntlich, kaum zu greifen, gut getarnt, beweglich gar. Aber da. Und umso gefährlicher, je unsichtbarer sie erscheint. Stimmt: 25 Jahre Friedliche Revolution wären ein guter Anlass, einander Geschichten zu erzählen. Allerdings nicht nur die Ostdeutschen den Westdeutschen und die Westdeutschen den Ostdeutschen. Nach einem Vierteljahrhundert wäre es vielleicht endlich möglich und ganz sicher an der Zeit, die Illusion aufzugeben, es hätte „die“ Westdeutschen und „die“ Ostdeutschen und „die“ Geschichte jemals gegeben. Das könnte die Mauer in den Köpfen zum Einsturz bringen und tatsächlich helfen, die Gegenwart zu verstehen. Einander besser zu verstehen, anzunehmen.
„Ich reiße meine Barrikade nieder“, verspricht Antje König in Ihrem Gedicht über Mauern, die nicht schützen. Wenn viele mitmachen, dann könnten wir 25 Jahre Friedliche Revolution gemeinsam groß feiern. Und zugleich der Jahreslosung folgen.
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