Alle Ausgaben / 2005 Material von Maxie Wander

Eine Frage der Kraft

Von Maxie Wander


Liebe Mary!

Der Sonntag am Bötzsee ist gut in uns aufbewahrt, trotz Müdigkeit. Ich habe nur bedauert, daß wir uns nicht gut genug kennen, um miteinander schweigen zu können. Statt dessen hab ich mich wieder hinreißen lassen, zu reden, irgendwas, nichts, was von mir ist. Und der gute Wander ist auch wieder in eine seiner alten Rollen zurückgefallen, hat geglaubt, eine kleine Predigt liefern zu müssen. Ich will uns gar nicht entschuldigen, liebe Mary, so was ist ja ziemlich unproduktiv und fade. Am liebsten hätt ich Sie gefragt,  woran glauben Sie? Welchen Sinn hat das Leben für Sie, wo ist Ihre Mitte? Bei mir bildet sich nach und nach etwas wie ein Sinn heraus, eine Mitte, nach der ich lange gesucht habe und ohne die ich vielleicht nicht leben könnte. Benennen kann ich es noch nicht, nur in die Richtung zeigen: es ist der Glaube an eine Kraft, die in allem wohnt, ein Lebensgesetz in allem Lebendigen, das man nicht ungestraft verletzen darf. Man muß dem Leben auf die Schliche kommen und herausfinden, was es eigentlich will, man muß seine Augen und auch die Nase öffnen und das Ohr an die Bäume legen und an den Mutterleib.
Und jetzt komm ich in Bereiche, die – halbverdaut – dem andern schwer erschlossen werden können. Also lassen wir's vorläufig. Über meinem Tisch hängt etwas Wichtiges für mich, ein Zitat von Thomas Wolfe:
„Was immer ihnen bestimmt ist, die Menschen müssen das uralte Böse bekämpfen und glauben, daß es besiegt und zerstört werden kann. Es als unvermeidbar und unheilbar ansehen heißt es unvermeidbar und  unheilbar machen.“
Vielleicht, liebe Mary, vielleicht kommt es nur darauf an, sich diese menschliche Kraft zu erhalten, egal mit welchen Zaubermitteln (sei's auch durch die Religion), und wenn im Freundeskreis eine Kraft zu erlöschen droht, müssen wir sie anhauchen mit unserem Atem, behutsam, bis sie wieder flackert und brennt. Es ist alles eine Frage der Kraft, und aus welchen geheimnisvollen Quellen bezieht sie ihre Nahrung? 


aus: Tagebücher und Briefe Hg. Fred Wander
© Buchverlag Der Morgen, Berlin

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