Alle Ausgaben / 2011 Andacht von Carola Ritter

Eine Schwäche für Gott

Andacht zur Jahreslosung - aus Sicht der Seligpreisungen

Von Carola Ritter


Arm, traurig, hungernd, bedrückt. Die in den Seligpreisungen beschriebenen Menschen zählen nicht zu den heutigen Gewinnertypen. Bei einem Casting – zu welchem Star auch immer – kämen sie über die erste Runde wohl nicht hinaus. Und in börsennotierten Unternehmen hätten sie kaum Aufstiegschancen.

Gehören sie somit zu den Schwachen, vom Zeitgeist salopp als „Looser“, von der Soziologie als prekär definiert? Oder wächst gerade aus dieser vermeintlichen Schwäche die Sehnsucht nach Veränderung, wohnt ihr das Potential zum Protest und zu einer anderen Perspektive auf die Zuschreibungen von schwach und stark inne? Die Seligpreisungen zusammen mit der Jahreslosung 2012 zu lesen, eröffnet neue Blickrichtungen.

Blickrichtung eins: von unten
Eine der größten und berühmtesten Darstellungen der Seligpreisungen findet sich in der Kuppel des Berliner Doms. Acht Mosaike, jedes 38 Quadratmeter groß und aus Millionen von Mosaiksteinen zusammengesetzt, stellen die selig Gepriesenen dar. In allegorischer Anschauung zeigen sie die beschriebenen Charaktere. Doch sind sie in siebzig Metern Höhe, trotz ihrer Größe, schwer erkennbar. Wie verklärt wirken sie in der Licht durchfluteten Kuppel und zwischen den 16 (!) Goldtönen, die in den Mosaiken verarbeitet wurden.

Den KirchenbesucherInnen – auch den in der Kaiserloge sitzenden – bietet sich ein unnahbares, überhöhtes Bild, der irdischen Provokation dieses Textes beraubt. Von Jesus aber wird gesagt: Er stieg auf einen Berg, setzte sich auf die Erde, um mit seinen Jüngerinnen und Jüngern zu reden (vgl. Mt 5,1). So der Anfang der Bergpredigt, dem die Seligpreisungen folgen.

Blickrichtung zwei: von ferne
Was den Armen, Hungernden und Bedrückten, den Sanftmütigen, Friedliebenden, Herzensguten und Gerechtigkeits(ver)suchenden in zahlreichen Auslegungen und Darstellungen versprochen wird, sei eine Glückseligkeit im Später, im entrückten Irgendwann, nicht im Jetzt und Hier. Wieder und wieder sind die acht Seligpreisungen als apokalyptisch-vertröstende Versprechungen gelesen worden. Das Widerstandspotenzial gegen das Bestehende im konkreten Leben wird ausgeblendet. So auch in der „welt-weiten-Weisheit“ es Internets. Hier ist vom „apokalyptischen Makarismus“(1) die Rede, „der die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod einbezieht und in eine schwierige Lebenssituation hineinspricht. Hier wird derjenige Mensch selig gesprochen, dem es gerade nicht gut geht, sondern der aufgrund seiner Frömmigkeit ein schweres Schicksal ertragen muss, denn er werde einst von Gott dafür belohnt werden.“(2)
Dabei können die Seligpreisungen auch auf ganz diesseitige Weise interpretiert und gelesen werden: als Lob aus dem Munde Jesu, gesprochen zu Menschen, die ihm beherzt nachfolgen und das Reich Gottes in dieser Welt suchen. „Unter euch gibt es viele, die so leben (gemäß den Seligpreisungen, CR). Ich freue mich über euch und für euch, ihr habt das Reich Gottes schon ergriffen, ihr seid Teil davon geworden.“(3)

Blickrichtung drei: mit Matthäus
Matthäus beschreibt das Leben und Wirken Jesu als einer, der wie Jesus selbst fest in der jüdischen Gemeinde verwurzelt ist. Was Matthäus über Jesus erzählt und aus vorgefundenen Überlieferungen aufnimmt, kommt wohl 60-70 Jahre nach Jesu Tod auf Papyrus, mutmaßlich in Syrien. Noch immer herrscht dieselbe Besatzungsmacht mit unverminderter Härte. Die Abfassung des Matthäusevangeliums und mithin die Komposition der Bergpredigt als erster großer Rede Jesu darin ist zu denken in einer Zeit der Bedrückung und „tagtäglichen Auseinandersetzung mit der römischen Herrschaft“.(4) Auf diesem Hintergrund wollen die Seligpreisungen verstanden werden – als Worte, die nicht an gemeinhin schwache Menschen, sondern an Unterdrückte, Ohnmächtige, „schwach Gemachte oder Gehaltene“ gerichtet sind. Die konkrete Situation der Verfolgung und Verunglimpfung, die die Gemeinde erlebt und die Matthäus vor Augen hat, klingt in Vers 10 und 11 an. Das Schicksal seiner Schwestern und Brüder wird mit dem Schicksal der Prophetinnen und Propheten des Volkes verbunden und erfährt daher einen Sinn, eine Deutung: Seht her, euer Leiden an den Verhältnissen bleibt nicht unbemerkt – bei Gott nicht und auch nicht bei den Menschen. Darum muss es weitergesagt und aufgeschrieben werden. Denn in den Gemeinden lebt die Sehnsucht nach Befreiung weiter, glimmt noch der Funke des Widerstandes, lohnt sich der täglich neue Versuch, die eigene Identität als Judenchristen zu bewahren.

Auch von vielen Christinnen und Christen der DDR wurden die Seligpreisungen auf dem Hintergrund täglich erlebter Bedrängnisse als Worte der Hoffnung und Bestätigung gelesen. Aus den Worten Jesu sprach Ermutigung, in ihnen begründetet sich gewaltloses politisches Handeln und die Bewahrung der eigenen christlichen Identität – etwa im Friedensengagement. Die Botschaft der Ökumenischen Versammlung von 1989 drückt aus, was viele geglaubt haben als Begründung für ihre Entscheidung, den Wehrunterricht an Schulen und den Wehrdienst mit der Waffe zu verweigern: Jesus „preist ‚Sanftmütige' selig (vgl. Mt 5,5), also jene, die auf den Gebrauch der Gewalt verzichten. Söhne Gottes nennt er jene, die Frieden stiften (vgl. Mt 5,9).“(5)

Blickrichtung vier: mit Thora und Koran
Wer ist schwach? Die Frage ist schwer zu beantworten, und es gibt reichlich Klischees. Aber eins ist deutlich: Wer gemeinhin schwach ist, wurde es oft nicht aufgrund eigenen Unvermögens. Vielmehr werden Menschen arm und schwach „gehalten“. Das war und ist immer noch die wirksamste Methode der Mächtigen, sich ihre Macht zu sichern.

Aus dem Exodusbuch erfahren wir von der Bedrückung des Volkes Israel in der ägyptischen Sklaverei und der Befreiung Gottes, der das geliebte Volk aus diesen Verhältnissen herausführt und rettet. Neben dem biblischen Zeugnis zu dieser Geschichte lese ich – angeregt durch das Gespräch mit muslimischen Frauen – in der 28. Sure des Koran. Hier findet sich die Geschichte des Mose, der als Gesandter Gottes das Volk herausführt. Gott spricht: „Wir trachteten aber danach, den Schwachen im Lande (denen, die für schwach gehalten wurden) Wohltat (Gnade) zu erweisen und sie zu großen Vorbildern zu machen und sie zu Erben zu machen.“(6) Die Kommentatoren des Koran sind sich einig, dass es Gottes Plan war, das Volk Israel zu schützen, solange es schwach ist. Das arabische Verb bedeutet „für schwach halten“ oder „zu Schwachen erklären“. Vermutlich wird es hier verwendet, um auszudrücken, dass Gott bereits die Stärkung der vermeintlich Schwachen plante.

Die Befreiung der Schwachen, so berichten das biblische Exodusbuch und die 28. Sure übereinstimmend, geschieht durch Gottes Handeln an seinem Volk in der Welt und eben nicht im Jenseits. Von solch Befreiten kann in Anlehnung an die Seligpreisungen gesagt werden: Selig, die nach Befreiung dürsten, sie werden sicher geleitet. Selig die Sanftmütigen, sie werden zu Erben gemacht werden.

Blickrichtung fünf: mit zwei Frauen
Bärbel Wartenberg-Potter schreibt: „An den acht Seligpreisungen wird deutlich: Jesu Weisungen sind eine einzige große Bekräftigung: So wie ihr sein könntet, so ist Gott: Gott füllt die leeren Hände, Gott tröstet, Gott ist ohne Gewalt, Gottes Wesen ist Gerechtigkeit, ist Barmherzigkeit. Gott ist heilig, Gott stiftet Frieden auf Erden, Gott tröstet, die verfolgt werden um seiner Gerechtigkeit willen.“(7)

Dieser Blick eröffnet mir eine ganz große Einladung voller Freiheit und Leichtigkeit: Die Seligpreisungen fordern erst einmal überhaupt nichts. Ganz im Gegenteil, sie verlocken mich, mich von vorn herein und ganz letztendlich auf Gott zu verlassen. Bei allem, was ich tue. Gottes Zuneigung allein genügt! Insofern darf ich schwach sein. Diese Schwäche ist, so gesehen, eine große Offenheit, ein Platzhalter für Gottes Kraft, eine Schwäche für Gott. Es geht darum, Gottes Kraft, IHREM Wirken in meinem Leben den vornehmsten Platz in der Seelenkammer einzuräumen und diesen nicht zu verstellen durch etwas, was ich für meine Stärke, mein Vermögen halte.

Zugleich darf ich stark sein, darf diese Hoffnungssätze der Seligpreisungen als Aufforderung lesen, dass Gott mich brauchen will, an einer gerechten Zukunft, am Reich Gottes mitzuarbeiten. Die Seligpreisungen als Weisung für meinen Lebensweg zu lesen bedeutet, ihren Zuspruch mit vielen anderen Schwestern und Brüdern, die im Reich Gottes ein Glück sehen, anzunehmen: „In Trauer, Angst, Hunger und Sehnsucht, wisst: einmal wird es anders sein! Einmal gibt es Fülle in Gottes Nähe, die nichts entbehrt. Ich stelle euch Wegweiser auf für euren Lebensweg, wenn ihr ihnen folgt, werdet ihr den Weg zu Gott finden. Das wird euer Glück sein.“(8) Aus diesem Glück heraus können wir stark sein, können wir eintreten für die Gerechtigkeit Gottes.

Dieses Eintreten für Gerechtigkeit hat die Sozialarbeiterin und „Mystikerin der Straße“, Madeleine Delbrel, mit ihrem Handeln an den Ärmsten auf den Pariser Straßen praktiziert: „Brot für die Armen und Erlösung für die Reichen sind zwei untrennbare Imperative der christlichen Gerechtigkeit. Allein der Hunger nach Gerechtigkeit um Gottes willen kann die Kraft geben, den beiden Imperativen und den von ihnen geforderten Entscheidungen gerecht zu werden.“(9)

Die Seligpreisungen machen uns stark, uns diesen Hunger einzugestehen. Diese elementare Empfindung kann Quelle ungeahnten Erfindungsreichtums und enormer Energie sein. Sie lässt uns die Erfahrung schmecken, dass Gerechtigkeitsarbeit und Friedenswirken mehr Erfüllung und Freude schenken als die Glücksversprechungen der Konsumwelt. Gottes Hunger nach Gerechtigkeit kann in uns und durch uns mächtig wirken in der Welt, kann uns selig, glücklich machen.

Carola Ritter, geb. 1963 in Potsdam, hat zwei erwachsene Töchter. Sie arbeitet als Leitende Pfarrerin der EFiM in Halle. Davor war sie in der Mädchen- und Frauenarbeit, dann als Studienleiterin für Familienbildung im AKD der EKBO tätig.

Anmerkungen:
1 makarios ist griechisch und bedeutet selig
2 http://de.wikipedia.org/wiki/Seligpreisungen (Seite zuletzt am 20. Juni 2011, 04.20 geändert)
3 Bärbel Wartenberg-Potter, Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Die Bergpredigt lesen. Mit dem Text der „Bibel in gerechter Sprache“, Freiburg i. Br. 2007, S. 21
4 Martina S. Gnadt, Das Evagelium nach Matthäus. Judenchristliche Gemeinden im Widerstand gegen die Pax Romana. In: Kompendium Feministische Bibelauslegung, hg. von Luise Schottroff und Marie-Theres Wacker, Gütersloh, 2. Korr. Auflage 1999,
S. 485
5 Orientierung und Hilfen zur Entscheidung in -Fragen des Wehrdienstes und der vormilitärischen Ausbildung. Biblisches Zeugnis in: Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung 1989, nachzulesen unter www.klimawandel-lebenswandel/Theologisches
6 Sure 28, Vers 5 in: Der Koran. Übersetzt von Adel Theodor Khoury, Gütersloh 1987, S. 292
7 Bärbel Wartenberg-Potter, a.a.O., S. 63.
8 ebd., S. 21
9 Madeleine Delbrel, Gott einen Ort sichern. Texte, Gedichte, Gebete. Herausgegeben von Annette Schleinzer, Ostfildern 2. Auflage 2003, S. 98

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