Alle Ausgaben / 2011 Artikel von Mechthild v. Luxburg

Eine starke Frau

Frieden mit den eigenen Schwächen machen

Von Mechthild v. Luxburg


Hanne ist eine starke Frau. Als Sozialpädagogin, die auf einer halben -Stelle mit Familien in einem sozialen Ballungsraum arbeitet, wird sie täglich mit den verschiedensten Problemlagen konfrontiert. Sie ist An–sprechpartnerin für überforderte Mütter, hört zu, ermutigt, greift ein und gibt Hilfestellung, wo sie kann. Auch außerhalb ihrer Arbeitszeit ist sie fast immer erreichbar, besonders, wenn Gewalt im Spiel ist.

Seit über 20 Jahren ist Hanne mit Lutz verheiratet, einem Verwaltungsjuristen, der Wert auf einen gepflegten Haushalt legt, sich aber aus beruflichen Gründen wenig in Familie und Haushalt einbringen kann. Für die Erziehung der beiden Kinder, die 15 und 17 Jahre alt sind, ist vorrangig Hanne zuständig. Sie ist froh, dass sie ihre beruflichen Termine über den Tag verteilen kann. So kann sie für die Kinder da sein, ihnen das Essen richten, Gespräche mit Lehrern führen, den älteren Sohn zum Cellounterricht und die jüngere Tochter zum Fußballtraining fahren und zwischendurch den Haushalt erledigen. Die Einkäufe erledigt sie auf den Fahrten zu „ihren“ Familien. Das alles, sagt Hanne, muss zwar straff durchorganisiert werden, dann ist es aber zu schaffen. Und Hanne schafft das, schon seit vielen Jahren. Sie ist eine starke Frau.

Wenn es mal richtig eng wird, wenn sich die beruflichen Termine häufen oder bei Erkrankungen der Schwiegermutter auch noch deren Wäsche übernommen werden muss und sich die Rückenschmerzen einmal wieder heftig bemerkbar machen, dann strengt sie sich eben noch mehr an, plant noch ein bisschen genauer. Und schiebt schnell einen Massagetermin ein, um „alles wieder besser in den Griff zu bekommen“.

Seit einigen Monaten leidet Hanne allerdings unter Schlafstörungen. Sie wacht nachts auf und hat oft Alpträume. Tagsüber fühlt sie sich häufig deprimiert und reagiert den Kindern gegenüber gereizt. Zu ihrer Freundin sagt sie, dass es vermutlich das Schlafdefizit sei, das auf ihre Stimmung drückt. Sie werde es mal mit einem leichten Schlafmittel versuchen. Als sie kurz darauf einen schweren Bandscheibenvorfall bekommt, der sie mit heftigen Schmerzen ins Bett zwingt, hadert sie mit ihrem Schicksal und ärgert sich darüber, dass sie nun die Dinge, die sie schon fest eingeplant hatte, nicht erledigen kann. Immerhin kann sie telefonisch Kontakt zu den betreuten Familien halten. Sie will alles tun, um möglichst schnell gesund zu werden.

Erst, als sich Hannes Zustand so gar nicht bessern will und ihr die Schmerzen immer stärker zusetzen, lässt sie in ihren Aktivitäten nach. Unfähig, sich viel zu bewegen oder etwas in ihrem Haushalt zu tun, fällt sie in ein tiefes Loch. Sie fühlt sich ohnmächtig und verzweifelt und beginnt zu grübeln. Hat der „Vorfall“ mit ihrer derzeitigen Lebenssituation zu tun? Hat sie sich zu viel aufgeladen, zu wenig auf sich selbst geachtet? Sie beginnt sich einzugestehen, wie belastet sie mit den Aufgaben im Beruf und zuhause ist. Zeit, um mit Freundinnen einen Einkaufsbummel zu machen, in die Sauna zu gehen oder auch einfach einmal eine halbe Stunde nichts zu tun, hat sie schon lange nicht mehr. Von ihrem Mann fühlt Hanne sich allein gelassen. Sie ist tieftraurig und wütend zugleich. Wie soll es nun weitergehen? Sie weiß es nicht. Nur eines ist gewiss: So kann und will sie nicht mehr weitermachen!

Powerfrauen angesagt

Was ist hier eigentlich passiert? Hanne hat schon seit langer Zeit über ihre Verhältnisse gelebt, sich zu viel aufgeladen, sich überfordert und eigene Bedürfnisse zurückgedrängt. Warnsignale wie Schlafstörungen und Rückenschmerzen hat sie mit Medikamenten bekämpft. Schwäche zeigen war nicht ihr Ding, brachte ihr doch ihr Ruf als starke Frau, die alles schafft, belastbar ist, Beruf und Familie auf die Reihe bringt, viel Anerkennung ein. Manchmal sogar Bewunderung, von ihrem Mann und auch von ihrem Arbeitgeber. Auch das Maulen ihrer Kinder hielt sich in Grenzen, wenn sie auf deren Wünsche einging. Die Schwiegermutter war ihr dankbar für alle Hilfe. Und überhaupt: Wer will schon schwach sein?

Stärke ist heute gefragt, nicht nur bei Männern. „Powerfrauen“ wie Hanne sind angesagt. Frauen, die alles spielend schaffen. Im Beruf erfolgreich, oder doch mindestens zufrieden, erledigen sie die Hausarbeit ganz nebenbei, kümmern sich um die Kinder, bringen abends ein gutes Essen auf den Tisch und pflegen im Zweifelsfall die alten Eltern. Sind sie nicht berufstätig, engagieren sie sich im Elternbeirat oder in der Kirchengemeinde. Dabei achten sie auf ihr Äußeres, sind geduldig, liebevoll, einfühlsam, diszipliniert und hilfsbereit, denn das sind ja die besonderen Stärken von Frauen. Ungeduld hingegen, Abgrenzung, Eigensinn, Unzufriedenheit und Durchsetzungsfähigkeit sind weniger erwünscht.

Krise als Chance begreifen

Aber nun ist Hanne – ausgelöst durch ihre Krankheit – in eine Krisensituation geraten, die sie daran hindert, ihren Alltag weiter wie gewohnt zu leben. Vielleicht ist es ihre Chance. Wenn sie sich auf ihre „Schwachheit“ einlässt und auf die Gefühle, die nun frei werden, kann sie möglicherweise einen anderen Blick auf ihr bisheriges Leben werfen. Sie kann neu dem nachspüren, wer sie wirklich ist und was sie braucht, um mehr im Einklang mit sich selbst zu leben.

Auch darum geht es aus psychologischer Sicht, wenn es in der Jahreslosung heißt: „Lass dir meine Zuneigung genug sein. Gerade in den Schwachen lebt meine volle Kraft.“ (2 Kor 12,9) Den Prozess des sich selber Findens bezeichnete der Psychoanalytiker C.G. Jung als „Werden, der/die du selber bist“. Er sah darin die eigentliche Lebensaufgabe des Menschen: die Suche nach seelischer Ganzheit und Vollständigkeit. Nach Jung gehören zur Ganzheit und Vollständigkeit jedoch nicht nur unsere „Stärken“, das heißt, diejenigen Wesenszüge, Fähigkeiten und Eigenschaften, mit denen wir uns unmittelbar identifizieren, mit denen wir ganz einverstanden oder die gesellschaftlich geschätzt sind. Vielmehr gilt es, gerade auch das Unvollkommene in uns wahrzunehmen, uns auseinander zu setzen mit Wesenszügen, die wir ablehnen, als unerwünscht beurteilen und am liebsten verstecken würden.

„Werden, die ich selber bin“ heißt: mich selber immer besser kennenlernen und mich annehmen mit allem, was mich ausmacht. Mit meinen Fähigkeiten, mit meinem Versagen, mit meinen Ängsten, meinen Sehnsüchten und Wünschen, mit all meiner Bedürftigkeit. Mit all meinen Stärken und Schwächen und gerade auch mit den Anteilen, die ich bisher nicht sehen wollte und nicht gelebt habe. Wir müssen diese Anteile nicht unterdrücken, nicht ständig gegen sie ankämpfen, sondern sollen und dürfen ihrem Sinn für unser Leben nachspüren. Das macht uns reifer und gelassener und auch aufmerksamer und verständnisvoller im Kontakt mit anderen Menschen. „Lass dir meine Zuneigung genug sein, gerade in den Schwachen lebt meine volle Kraft“.

Eine leichte Aufgabe ist das nicht.
Sie erfordert die Bereitschaft, uns und unser Verhalten immer wieder zu reflektieren. Im Alltag bleibt diese Bereitschaft jedoch oft auf der Strecke. Vielen Frauen geht es dann so wie Hanne: Sie müssen erst in eine Krise geraten, um sich wieder besser wahrzunehmen und näher zu sich selbst zu kommen.

In jedem Leben gibt es Krisen, seien es Krankheiten, Erschöpfung, Probleme mit Kindern oder Familienangehörigen, Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, Arbeitslosigkeit, das Zerbrechen der Partnerschaft, das Ende einer Freundschaft oder auch der Tod eines nahen Menschen. Mögen sie mehr oder weniger existenziell bedrohlich sein: Krisen unterbrechen die Kontinuität des Lebens, lassen uns herausfallen aus den Sicherheiten des gewohnten Alltags. Und manchmal werfen sie uns sogar aus der Bahn. Immer aber setzen sie Veränderungen in Gang.

Die Psychoanalytikerin Verena Kast nennt solche Krisen daher auch „Lebensübergänge“, aus denen wir verändert hervorgehen. Solche Lebensübergänge lösen zunächst Unsicherheit aus. Sie sind mit Stress, Anspannung und auch Angst verbunden. Je stärker das kritische Ereignis das gewohnte Leben verändert, umso größer sind Unsicherheit und Angst. Die Unsicherheit, wie das Leben weitergehen wird, die Angst, der neuen Situation nicht gewachsen zu sein, die Kontrolle über das Geschehen zu verlieren, zu versagen, sich zu blamieren, nicht mehr geliebt und anerkannt zu werden.

Erste Antworten auf eine Krisensituation sind daher häufig Abwehrreaktionen. Obwohl wir innerlich spüren, dass etwas in unserem Leben nicht stimmt, halten wir am Gewohnten und Vertrauten fest. Nichts soll sich verändern, alles soll so bleiben wie es ist. Die unguten Gefühle kann man verharmlosen, kann sie mit Aktivitäten überdecken oder das, was geschieht, „nicht wahr haben wollen“. Vermehrte Anstrengungen und stärkere Kontrolle sind oft die hilflosen Versuche „wieder alles in den Griff“ zu bekommen. Bei Hanne konnten wir das gut beobachten. Statt ihre Rückenschmerzen und ihre Schlafstörungen als Warnsignale wahrzunehmen, geht sie darüber hinweg. Mit besserer Planung, Medikamenten und ein paar Massagen versucht sie, die Probleme abzuwenden. Ähnliche Reaktionen können wir etwa auch bei Trennungssituationen in Partnerschaften beobachten. „Unsere Ehe war doch gut, wir müssen einfach mehr miteinander reden“, heißt es dann oft. Die Hoffnung, der Partner werde doch nicht gehen oder bald zurückkommen, wird nicht losgelassen.

Grenzen akzeptieren

Hanne hat während ihrer Krankheit viel mit ihrer Freundin telefoniert und ihr erzählt, was ihr alles durch den Kopf gegangen ist. Eigentlich ist sie schon seit Jahren unzufrieden, weil immer alles an ihr „hängen bleibt“. Der Haushalt, die Berge von Wäsche, das ständige Aufräumen, wenn die Kinder alles stehen und liegen lassen, die Kämpfe um Hausaufgaben und Schulnoten, die spätabendlichen Anrufe der von ihr betreuten Familien mit den Familien – eigentlich hängt ihr das alles zum Hals heraus. Aber schon als Kind konnte sie nicht nein sagen, wenn die Mutter etwas von
ihr forderte, hatte Angst, dass die dann nicht mehr mit ihr reden würde. Überhaupt tut sie sich schwer, Hilfe anzunehmen. Sie fühlt sich dann, als würde man ihr nichts zutrauen oder als hätte sie versagt.

Zugleich sehnt Hanne sich nach Zeit, um sich zurückziehen zu können und ganz allein und in Ruhe ihre Lieblingsmusik zu hören. Früher hat sie so Kraft getankt. Auch die Saunabesuche mit ihrer Freundin wird sie wieder aufnehmen. Das wird schon gehen – seit Hanne krank ist, haben ihr Mann und ihre Kinder, wenn auch zunächst widerstrebend, Verantwortung für den Haushalt übernommen. Die Handtücher werden nicht mehr so oft gewechselt und die Fenster sind leicht angestaubt, aber das befürchtete Chaos ist nicht eingetreten. Zu ihrem größten Erstaunen macht es der Tochter Spaß, mit dem Papa einkaufen zu gehen – er sei dann viel lockerer als sonst. Und überhaupt hätten sie und ihr Bruder beschlossen, ihre T-Shirts ab sofort ungebügelt anzuziehen.

Auf einem guten Weg

Hanne ist auf einem guten Weg. Sie hat erkannt, dass sie sich in der Rolle der „starken Frau“ selbst verleugnet. Dass sie durchgehalten hat aus Angst, nicht anerkannt und nicht geliebt zu werden, wenn sie nicht alles schafft und perfekt erledigt. Ihr Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung, ihre Freude an der Musik und auch ihre Wünsche nach Abgrenzung und Alleinsein hat sie ignoriert. Die Wünsche und Bedürfnisse konnten erst wieder zum Vorschein kommen, als Hanne nicht mehr in der Lage war, die Kontrolle aufrecht zu erhalten. Nun macht sie die Erfahrung, dass ihre Kinder und ihr Mann durchaus bereit sind, sie zu entlasten – auch wenn sie manches anders machen als Hanne. Erst hat sie das gestört, jetzt muss sie darüber manchmal sogar lachen. Irgendwie ist die Stimmung zuhause inzwischen recht entspannt, und Hanne gesteht sich ein, dass sie als Mutter wohl oft etwas „übermächtig“ war. Denn eine Mutter, die alles kann und alles richtig macht, lässt ihren Kindern wenig Raum für eigenes Versagen.

Auch über ihre Einstellungen zu „ihren Problemfamilien“ denkt Hanne nach. Ein bisschen schämt sie sich dafür, wie kritisch sie oft geurteilt hat. Mit ihrer eigenen Schwäche und Überforderung konfrontiert, kann sie sich nun besser in die Situation von Müttern einfühlen, denen alles zu viel ist. In Zukunft wird sie dafür mehr Verständnis haben und sie besser unterstützen können. Hanne ist bewusst, dass sie auch nach ihrer Erkrankung weniger belastbar ist als bisher und dass sie die Rückenschmerzen wohl nie mehr ganz loswerden wird. Sie hat das akzeptiert und sich vorgenommen, die Ansprüche zurückzuschrauben und keine Energie mehr darauf zu verschwenden, sich selber unter Druck zu setzen. Die Rückenschmerzen werden sie daran erinnern.

Könnten wir Hanne fragen, was ihre Krankheit in ihr ausgelöst hat, dann würde sie vielleicht sagen: „Ich kann nicht behaupten, dass diese Erfahrung toll gewesen ist, aber ich bin freier geworden und auch toleranter. Ich weiß nun besser, wo meine Grenzen sind, und damit bin ich sehr zufrieden. Und: ich habe gelernt, Hilfe anzunehmen. Das war fast das Schwierigste!“

Für die Arbeit in der Gruppe


– Hannes Geschichte wird geschildert. Es darf nachgefragt und kommentiert werden. Anschließend bilden jeweils zwei oder drei Frauen eine Flüstergruppe und tauschen sich aus:
Was hat Hannes Geschichte in mir angestoßen? Welche Erfahrungen habe ich selbst mit Stärken und Schwächen?

– Nach 15 Minuten bekommt jede Frau eine Karte mit dem Losungsspruch: „Lass dir meine Zuneigung genug sein. Gerade in den Schwachen lebt meine volle Kraft.“ Dazu werden Zettel und Stifte ausgeteilt. Die Frauen werden gebeten, die Karten mit der Jahreslosung noch einmal in die Hand zu nehmen und den Spruch, jede für sich, einige Male still zu lesen und zu überlegen: Was hat mich besonders angesprochen, was war mir wichtig, worüber möchte ich weiter nachdenken?
Das Ergebnis wird auf einen oder auch auf mehrere Zettel geschrieben.

– Zum Abschluss stellt die Gruppenleiterin einen Korb in die Mitte. Sie lädt die Frauen ein, alles in diesen Gedankenkorb zu legen, was sie bewegt hat.

Die Zettel werden vorgelesen, aber nicht kommentiert und bewertet. Frauen, die sich nicht mitteilen möchten, können auch leere Zettel in den Korb legen. Alle Anwesenden hören zu und haben so Anteil an dem Inhalt des Korbs, können hineinlegen, was sie wollen, und herausnehmen, was sie gerne nach Haus tragen möchten.

Gebet zum Abschluss:
Guter Gott,
du hast dein Ja mir zugesprochen,
mich angenommen wie ich bin.
Nicht ein Entwurf bin ich,
vielmehr:
geliebt zum Leben
so wie ich bin.
Du hast dein Ja gesagt
und mich gemeint.
Amen

Mechthild v. Luxburg, Jahrgang 1945, ist Diplom-Psychologin und hat bis zu ihrer Pensionierung viele Jahre im Diakonischen Werk Augsburg gearbeitet. Sie ist Mitglied im Kuratorium des Frauenwerks Stein, seit 2008 als Vorsitzende, und
im Präsidium der EFiD.

Literatur
Brigitte Dorst: Lebenskrisen, Walter Verlag 2010
C.G. Jung: Zur Empirie der Individuationsprozesse. In GW 1934/1950
Verena Kast: Lebenskrisen werden Lebenschancen, Herder Verlag 2003

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