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Einfach dasitzen

Von Barbara Kohlstruck

Wenn ich Ruhe brauche, ziehe ich mich in mein Zimmer zurück. Es hat eine schräge Decke mit einem großen Dachfenster. Setze ich mich auf das Sofa, habe ich das Fenster vor Augen und schaue in den Himmel. Ich sehe die Wolken, die vorüberziehen, manchmal einen Vogel. Hin und wieder ist entfernt ein Flugzeug zu sehen. Bis vor kurzem ragte die Spitze einer Zypresse aus dem Nachbargarten in mein Blickfeld. Meist stand sie ganz unbeweglich da, manchmal wiegte sie sich leicht im Wind. Wenn es regnete oder stürmte, bog sie sich weit zur Seite in sanften, schwingenden Bewegungen.

Viel passiert nicht, wenn ich da sitze. Ich sehe keine Menschen, keine Autos, es tut sich fast nichts.

Es ist diese nur leicht bewegte Ruhe, die mich zur Ruhe kommen lässt. Ich muss nicht reden, auf nichts reagieren. „Man muss auch die Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hinzuschauen.“ Auf diesen Satz von Astrid Lindgren stieß ich vor einiger Zeit und seine Wahrheit leuchtete mir sofort ein.

Vertane, unproduktive Zeit? Auf den ersten Blick vielleicht.

Aber wenn ich mir vergegenwärtige, wie viele gute Gedanken, Ideen, innere Klärungen auf diesem Sofa sich schon eingestellt haben, dann ist es alles andere als vergeudete Zeit.

Selbst wenn dies nicht der Fall gewesen, wenn ich ohne irgendeine Einsicht wieder aufgestanden wäre, wäre es für mich keine verlorene Zeit. Denn diese Zeit – manchmal nur zehn Minuten, gern mal eine Stunde – schafft Abstand, notwendige Distanz zu dem, was mich gerade so in Beschlag nimmt, ermöglicht einen anderen Blick oder lässt Zorn, Wut oder Aufregung abklingen.

Ich hoffe, dass der Nachbar wieder einen Baum pflanzt, der sich wiegt und meine Gedanken in diese Bewegung aufnimmt.

aus:
Bei Zeiten: Spirituelle Anregungen für alle Tage
Hg. von Jörg Hinderer, Michael Lipps und Johanna Renner
Edition Quadrat, 2009

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