Mütter, die ihre Kinder getötet haben, sind keine neuen Erscheinungen unserer Zeit und Gesellschaft. Das 18. Jahrhundert, das als „Jahrhundert des Kindstötung“ traurige Berühmtheit erlangte, bringt die Problematik denn auch als literarisches Thema zur Sprache: Heinrich Leopold Wagner verfasste 1776 das Drama „Die Kindsmörderin“, 1781 schrieb Gottfried August Bürger die Ballade „Des Pfarrers Tochter von Taubenheim“.
Verführung eines bürgerlichen Mädchens durch Adlige, die die gewordene Mutter ins totale und ausweglose soziale Abseits stößt, Gewissenlosigkeit und Zynismus der beteiligten Männer, aber auch das engherzige Ehrgefühl bürgerlicher Wohnstuben im Zusammenspiel mit erbarmungslosen Moralnormen in Justiz und Kirche sind der Inhalt dieser Werke. Und bis heute hat sich m. E. nichts daran geändert, dass eine Gesellschaft, in der Frauen es psychisch nötig haben, zu diesem allerletzten Mittel zu greifen, sich eine Hinterfragung ihrer strukturellen Integrität gefallen lassen muss. Wer aber sollte die leisten, wenn nicht wir: Frauen, die sich solidarisieren mit ihren Geschlechtsgenossinnen, weil sie auf anderen Ebenen wahrscheinlich alle irgendwann die Erfahrung der Arroganz und Ignoranz des patriarchalen Systems gemacht haben, in dem wir nach wie vor leben.
Kindstötung mag in früheren Zeiten auch ein Mittel der nachträglichen Familienplanung gewesen sein, da Verhütungsmittel heutiger Art nicht zur Verfügung standen. Die dabei angewandten, nicht nachweisbaren Methoden der Tötung Neugeborener hatten zur Folge, dass diese Fälle in keiner Gerichtsakte auftauchten. Bis heute gelingt es immer wieder, eine Kindstötung geheim zu halten, manchmal über sehr lange Zeit. Im Fall des neunfachen Babymordes in Brieskow-Finkenheerd muss das erste „Ereignis“ ja mindestens zehn Jahre unentdeckt geblieben sein. Und es gibt die nie aufgefundenen toten Kinder inhaftierter Mütter. Immer wieder ist es möglich, eine Totenstille – im wahrsten Sinn des Wortes – über eine solche „Geschichte“ zu breiten. Als wäre nichts geschehen…
Die Kindsmörderinnen und –misshandlerinnen tauchen immer nur als kurzlebige Sensation auf ersten Zeitungsseiten auf, aber nicht in der Alltagswelt. Niemand redet von ihnen. Und sie selbst sprechen nicht über sich. Sie sind Schattenfiguren. Ganz Stille, Zurückhaltende, Angepasste. Auch am Sonderort Gefängnis. Und es gibt guten Grund dazu, denn wer sich an Kindern vergriffen hat, steht am untersten Ende der Hierarchieleiter der Delinquentengesellschaft und wird von Mitgefangenen sehr hart behandelt.
„Sie gehörte eher zu den Stillen“, wurde über die mutmaßliche neunfache Kindstöterin von Finkenheerd geschrieben. Und genauso erlebe ich es in meiner Arbeit im Frauengefängnis: diese obwohl Mutter-Gewordenen nicht Mutter-Seienden melden sich zu keinem Gespräch an. Sie ziehen es vor, mit sich allein zu bleiben, gefangen in sich selbst der Gefangenschaft in der Gefängniswelt ausgeliefert. Sie leben damit wohl nur so weiter wie bisher. Gefangen und ausgeliefert waren sie schon lange: an Rollen- und Normenerwartungen der Gesellschaft, an feste Moralvorstellungen der Umgebung, an das Alleinsein mit übermächtigen Problemen. Und der schonungslose Ausbruchsversuch aus ihrer ausweglosen Lebenswelt, der Mord am eigenen Kind, hat sie nun auch an den äußerlich ausweglosen Ort, das Gefängnis „weiter“ gebracht. Nun stimmen Außen und Innen überein. Dieser Ort bestätigt ihnen ihr Selbstbild, damit werden sie nun leben. Was sollte es da noch zu reden geben?
Monster, Mörderin, Wahnsinnige, Sadistin, Psychopathin, Gefühlskalte. So werden sie im Zeitungsjargon genannt, und das Volk redet es nach. Zuschreibungen, die sich leicht verteilen lassen, weil unsere Fassungslosigkeit über solch eben auch Menschen-Mögliches ihr Ventil braucht und lautes Urteilen uns allemal vor stillem Nachdenken bewahrt. Andere zu bezeichnen schützt uns ja auch davor, Eigenes beim Namen nennen zu müssen. Und je Schlimmeres andere tun, desto rechtschaffener kann ich mich fühlen.
Sie leben mit uns zusammen in einer Welt, und unsere Gesellschaft schreit immer dann sehr laut auf, wenn etwas so Furchtbares wie ein Kindsmord passiert ist. Bis dahin jedoch ist sie merkwürdig still. Sieht, hört und sagt nichts. Es klafft ein tiefer Riss zwischen moralischem Anspruch und der Bereitschaft, sich konkret für die Einhaltung eben dieses Anspruchs einzusetzen. Diese Doppelgesichtigkeit unserer Gesellschaft lässt sich in vielen (Straf-) Biografien inhaftierter Frauen finden, lange bevor es zu einer Kindstötung kommt.
Die wegen Kindesmisshandlung verurteilte Frau Y. erlebe ich als verantwortungsbewusste und präsente Mutter ihrer sechs Kinder, die sich ständig engagiert, um ihren Kontakt zu ihnen zu erhalten und zu verbessern. Nach ihrer Adoptionskindheit mit körperlichen und psychischen Gewalterfahrungen sowie sexuellen Übergriffen, die Suizidversuche nach sich ziehen, ist die Verbindung mit einem sie und die Kinder prügelnden Alkoholiker als Ehemann vorprogrammiert. Zwei weitere Ehen bedeuten gesteigerte Brutalität. Anzeigen bei der Polizei und Flucht in Frauenhäuser werden von den jeweiligen Männern ausgehebelt. Ihre Verstrickung in Gewalt-Abhängigkeiten ist so groß, dass sie ihren Kindern nicht mehr helfen kann, ohne alles für sie und sich selbst noch schlimmer zu machen. Vor Gericht wagt sie aus Scham nicht, über diese Dinge auszusagen. Und das Gericht ist nicht an ihrer Geschichte interessiert, sondern verurteilt sie zu mehreren Jahren Haft, die den Kindern die Mutter nimmt.
Eine andere sehr junge Frau ist glücklich, dass sie ihren einjährigen Sohn bei sich in der Haft haben kann. Er ist endlich eine Hoffnung in ihrem kaputten Leben, das aus Kinderprostitution, Suizidversuchen und problematischen Männerbeziehungen bestand. Da sie viele „Erziehungsfehler“ an dem Kleinen begeht, wird er ihr weggenommen und auf ihre Verzweiflung gibt es auch keine seelsorgerlichen Antworten mehr.
Für die nicht wenigen Schwangeren in Haft wird neben der Entbindung im Krankenhaus auch gleich die Weitergabe des Neugeborenen organisiert und damit die Trennung von Mutter und Kind.
Wer sind diese Frauen?
Am ehesten sind sie solche, die zu sich selbst nie eine stimmige Beziehung aufbauen konnten und ihre natürlichen Bedürfnisse nicht kennen. Sie sind nicht zum menschlichen Da-Sein eingeladen worden und wissen nicht, wie sie angemessen für sich und ihre Kinder sorgen können.
Und sehr Einsame sind sie. So einsam, dass niemand, auch nicht im engsten Familienkreis, ihre Schwangerschaft als Tatsache registriert. So einsam, dass Entbindungen ganz allein stattfinden, oft nur im Zimmer nebenan. Babyleichen werden im Haus und der unmittelbaren Umgebung verborgen, ohne dass jemand etwas merkt. Was sind das für menschliche Beziehungen? Diese Frage stellt sich besonders im Blick auf die beteiligten Männer, die entweder gar nicht erst belangt oder aber freigesprochen werden.
Anderen wirklich begegnen zu können setzt ein möglichst ehrliches Verhältnis zu sich selbst voraus. Ich kann einer Kindsmörderin oder –misshandlerin nur gegenüber treten, wenn ich mir meiner eigenen dunklen Mutter-Seiten bewusst bin. Und die Kommunikation zwischen ihr und mir muss sehr achtsam geführt werden, weil es bei der Täterin tiefste Verletzungen und bei mir tiefste Verdrängungen zu bedenken gilt.
Begegnung kann heißen: Fragen stellen und Geschichten anhören, voller Achtung und Würdigung der jeweiligen Person und ihrer Mitteilung. Da hätten dann auch die Geschichten meiner eigenen „Ich-bin-Mutter“-Erfahrung Platz, an die ich nicht gern erinnert werde: Geschichten von Überforderung, Ungeduld, Gewalt, Entscheidungsunfähigkeit, Ohnmacht, von erbärmlicher Einsamkeit, allmächtigen Erwartungen, unauflösbaren Abhängigkeiten…
Es könnte sein, dass wir bei solchem Nachspüren nicht mehr die verurteilungswürdige Kindsmörderin vor uns haben, sondern eine Frau entdecken, die schwesterliche Züge trägt und uns näher ist, als uns lieb ist. Es könnte sein, dass wir merken, warum wir uns so laut empören mussten: um den Schock über eigene Unfähigkeiten zu übertönen. Und dann können wir uns vielleicht irgendwann neben diese andere Mutter setzen und mit ihr gemeinsam trauern über Kindheitsverletzungen und Mutterversagen, um die Kinder dieser Welt, die millionenfach misshandelt und umgebracht werden.
Zeit:
etwa zwei Stunden
Material:
für die Gestaltung der Mitte im Stuhlkreis: großes rotes Tuch, Babypuppe darauf, evtl. Zeitungsüberschriften von Kindermordberichten, Papierstreifen, dicker Stift;
großes schwarzes Tuch, Stuhl darauf, von verschiedenen Stimmen besprochene Tonkassette (Texte im Materialanhang), Schreibpapier, Stifte, Briefumschläge;
großes weißes Tuch, dicke weiße Kerze darauf, Teelicht pro Teilnehmerin;
CD-Player, ruhige Musik
Ablauf:
Erika Müller, Jahrgang 1951, ist Pfarrerin und arbeitet als Seelsorgerin in der Frauenabteilung der Justizvollzugsanstalt Chemnitz.
Texte für die Tonkassette
Körpermeditation
Nimm dich wahr, wie du auf deinem Platz sitzt
stell dann deine Füße breit auf und nimm Kontakt zur Erde – lass deine Fußgelenke los und lockere Waden, Knie und Oberschenkel – richte dich auf in deinen Sitzhöckern
richte deine Wirbelsäule auf – Wirbel für Wirbel nach oben – sitz frei, ohne anzulehnen – lass deine Schultern locker herabfallen – und richte Nacken und Hals hoch auf – und trage deinen Kopf wie eine Krone
lege deine Hände auf deinen Bauch
lass deinen Atem fließen und spür, wie er kommt und geht – spür den Atem, der dich lebendig macht
wenn du willst, mach die Augen zu
spür dich, wie du da bist als Frau – lass dich nieder in deinem Schoß – atme tief und ruhig
spür nun noch einmal zu deinen Fußsohlen und lass dich tief in den Boden ein – spür über die Fersen – die Waden – die Oberschenkel hin zu deinen Hüften
spür die Schale, den Hohlraum deines Beckens – schau hinein in deine Beckenhöhle – spür den Raum, in den die Gebärmutter und die Eierstöcke hineingehören – spür hinein, ob sie nun da sind oder ob sie dir genommen wurden – spür hinein in die Höhle deines Bauches mit dem Labyrinth deiner Gedärme
atme tief zum Grund deines Beckens hin – geh mit deinem Atem den Weg durch dich hindurch
nimm jetzt den Raum des Sonnengeflechts wahr zwischen Bauch und Brust – spür dann dein Herz – wie es schlägt – spür, wie warm es dir ums Herz ist
spür den Raum deiner Brüste, und wenn es dich schmerzt, nimm wahr, was ist
spür deine Brüste und beschreibe in Gedanken eine Acht vom Brustbein aus nach oben gehend um die linke Brust – wieder zur Mitte und um die rechte Brust – und wiederhole dies noch zweimal – und lass deinen Atem fließen – lenke dann deine Aufmerksamkeit auf deinen Hals – löse deine zugeschnürte Kehle und atme tief ein durch Nase und Lungen – hinein in deinen Bauch – und atme aus durch Nase und Unterleib. Lass den Atem fließen auch durch deine Beine bis hin zu den Zehen
und lenke nun dein Bewusstsein auf deinen Kopf – spür hin zum Labyrinth der Hirnwindungen – zur Stirnhöhle – zu den Augen – zur Nase – zum Mund – spür die Ohrmuscheln und deine Gehörgänge
nimm nun auch die Breite deine Schultern wahr – deine Arme und Hände – deine Hände auf deinem warmen, weichen Bauch
spür, wie du da – wie du in dir selbst ruhst – wie du ruhst in deinem Schoß – spür die Wärme und deine Kraft – und nenne dich bei deinem Namen – still für dich
Herta Leistner, Doris Moser, Helga Rafalski, Elisabeth Schweizer, Bibelarbeit: Maria aus Magdala, in: Eva v. Harrach, Gesine Hefft (Hgg.), Sehet die Frauen. Informationspapier Nr. 70-71/1987 der DEAE, Karlsruhe 1987, S. 50
Literatur
Rebecca Reim: Mord, Totschlag und die Folgen, Druck- und Verlagsgesellschaft Marienberg mbH 2002
Katrin Panier: Die schlimmsten Gitter sitzen innen, Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag GmbH, Berlin 2004
Brigitte Biermann: Frauen vor Gericht, Ch. Links Verlag, Berlin 2001
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