Alle Ausgaben / 1995 Frauen in Bewegung von Susanne Graffam

Elisabeth Fry

Solidarität mit weiblichen Gefangenen

Von Susanne Graffam

Niemand im Haus Earlham wusste mehr so recht, was er mit Elizabeth Gurney anfangen sollte. Der Vater war ein frommer Mann, und die Verwandlung seiner Tochter kam ihm fremd und unheimlich vor. Sie hatte in Norwick den Quäker William Savary bei einer Predigt gehört, und seine Worte hatten sie tief getroffen.

Die Quäker, das heißt „Zitterer“, wollten nur den Heiligen Geist Gottes wirken lassen, der jeden Mensch bewegen oder „zittern“ machen konnte. Sie kannten keine höhere oder niedrigere Geistlichkeit, jeder konnte predigen und alle duzten sich.

Elizabeth wollte nach ihren Grundsätzen christlich leben. Sie ging in die umliegenden Dörfer von Earlham und versorgte die Kranken mit Lebensmitteln und richtete in einer unbenutzten Waschküche eine Schule ein. Ebenso tatkräftig lernte sie, Schutzimpfungen selbst zu spritzen, auch wenn sie damit zuerst auf manchen Widerstand bei den Eltern stieß. Aber man merkte, dass dadurch viel weniger Kinder in der Umgebung Earlhams starben als früher.

Im August 1800 heiratete  sie, zwanzigjährig, den Bankier Joseph Fry, nachdem sie seine Heiratsanträge zuvor zweimal abgelehnt hatte. Acht Kinder hatte sie zu versorgen, als sie 1813 Stephen Grellet begegnete, einem Quäker, der als erster Privatmann Londoner Gefängnisse besuchte.

Starr vor Schrecken hörte Elizabeth seinem Bericht über den Besuch im Londoner Frauengefängnis zu. Das große Gefängnis von Newgate hatte keine Fenster; sie hätten die prächtige Barockfassade des Hauses gestört. Zu Dutzenden in einem Raum eingepfercht, hausten die Frauen auf schlechtem Stroh zwischen feuchten, kalten Wänden, in Gestank und Kälte und bei ungenügendem Essen. Am schlimmsten aber traf es die Kinder, die im Gefängnis geboren oder mit den Müttern eingesperrt waren. Elizabeth ging gleich am nächsten Tag zum Gefängnis. Sie brachte Kleider, Wolldecken und Essen mit für die gefangenen Frauen. Aber man ließ sie nicht hinein.

Die Ereignisse in der Familie nahmen sie sehr in Anspruch. Finanzielle Nöte stellten sich ein und nach der Geburt ihres neunten und zehnten Kindes auch allerlei persönliche Beschwerden. Erst 1817 stand sie wieder vor den Gefängnistoren von Newgate, diesmal entschlossen, auch hineinzugehen.

„Mach Sie nur auf, ich fürchte mich nicht“, rief Elizabeth und setzte sich durch.

Elizabeth trat in die düstere Zelle. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss, wurde ein Schlüssel umgedreht. Sie war mit den gefangenen Frauen allein. Nach dem vorherigen Lärm, den man durch die Wände gehört hatte, herrschte nun plötzliche Stille. „Viele von euch sind Mütter“, sagte sie leise. „Auch ich bin eine Mutter. Ich bin besorgt um eure Kinder.“ Dabei streichelte sie einem der elenden Kinder das graue kleine Gesicht. „Können wir nicht etwas für diese Kinder tun?“
Mehrere Frauen umdrängten Elizabeth. Hier fragte ein Mensch zum ersten Mal, seitdem sie im Gefängnis waren, nicht nach ihren Taten oder ihrer Reue. Hier fragte ein Mensch nach ihrer Not.

Nach kurzer Zeit saß ein Häuflein Gefangener um die Frau, und sie schmiedeten Pläne. Eine Schule wollten sie hier im Gefängnis für die Kinder einrichten. Elizabeth wollte Putzzeug, Schulbücher, Tafel und eine Glocke mitbringen. Eine Frau, die lesen konnte, sollte die Lehrerin werden. Die Aussicht auf diese neue Aufgabe gab den Frauen eine Hoffnung, zum ersten Mal seit langer Zeit.

Elizabeth richtete in den nächsten Tagen und Wochen nicht nur eine Schule für die Gefängniskinder ein. Sie half auch den Frauen, mit der Einrichtung einer Nähstube Beschäftigung zu finden und sich saubere Kleider zu nähen. Sie ließ Fenster in die Fassaden brechen. Sie las mit den Frauen regelmäßig in der Bibel, tröstete die Verzweifelten, pflegte die Kranken und verhalf den Entlassenen zu einer neuen Arbeitsstelle. Sie lief in Amtsstuben, Pfarrhäuser und zu Fabrikbesitzern, um Geld, Arbeitsstellen oder auch nur Verständnis für die Notlage dieser Menschen zu finden. 1817 gründete sie den „Frauenverein“ zur Besserung weiblicher Sträflinge“.

Schon ein Jahr später, 1818, geschah das Unerhörte. Im englischen Unterhaus, dem britischen Parlament, sollte zum ersten Mal in der Geschichte Englands eine Frau sprechen. Viele Journalisten waren vertreten, die Minister und Volksvertreter lasen erstaunt den Namen der Sprecherin: Elzabeth Fry, Frau des Bankiers Joseph Fry, Quäkerin.

Was würden sie zu hören bekommen? Mrs. Fry sollte eine Wohltäterin besonderer Art und tatkräftig sein. Dann betrag Elizabeth den Saal. Sie begann zu sprechen. Sie sprach von den unsagbaren Zuständen in den Londoner Gefängnissen, so wie sie es mit ihren Augen gesehen hatte, von der völligen Verelendung dieser Menschen an Seele, Körper und Geist. Sie erzählte den Männern im Parlament, dass diese Menschen oft zu Verbrechen getrieben worden waren, weil sie vor Armut und Trostlosigkeit nicht mehr ein noch aus wussten.

„Und das ist nicht ihre Schuld“, rief Elizabeth Frey, „sondern unsere Schuld, die wir auf der Sonnenseite des Lebens stehen und von der finsteren Seite nichts wissen wollten!“ Klar sagte sie, was sie für nötig hielt: Gottesdienst, Unterricht und Seelsorge in den Gefängnissen, beständige Beschäftigung der Gefangenen, nur weibliche Gefängniswärterinnen für die Frauen, ausreichendes Essen und Kleidung. Abschaffung der schweren Ketten, Beschränkung der Todesstrafe auf schwerste Fälle. „Strafe darf nicht Rache sein.“

Als sie geendet hatte, herrschte atemlose Stille. Elizabeth hatte gesiegt und viele Männer für ihre Arbeit gewonnen. Königin Charlotte von England lud sie wenige Tage später zu einem Empfang ins Schloss, um sich über Elizabeths Pläne unterrichten zu lassen. Noch im gleichen Jahr reiste Elizabeth Fry nach Schottland, um dort über Verbesserungen in den Frauengefängnissen zu verhandeln.

Bald war sie im ganzen Land bekannt. „Engel der Gefangenen“ nannte man sie. Bis 1828 war viel erreicht. Gefängnisreformen waren in ganz England und in den Kolonien durchgeführt.

Elizabeth gewann mehr und mehr Einfluss auf das ganze sozialpolitische Leben Englands. Schließlich reiste sie über den Kanal auf den Kontinent. Sie war fast sechzig bei der ersten und dreiundsechzig bei der letzten großen Reise. Sie kam nach Paris und Südfrankreich, in die Schweiz, nach Belgien, Holland und nach Deutschland, wo sie überall für die Reformen in den Frauengefängnissen eintrat. Man hörte auf ihre Vorschläge. Elizabeth Fry war berühmt geworden über die Grenzen ihres Landes hinaus.

Im Jahre 1845, bei einem Kuraufenthalt in Ramsgate am Meer, starb Elizabeth Fry.


Anmerkungen
W. Graffam: Die Anfechtung der Elizabeth Fry – Laienspiel, Deutsche Theater-Verlag, Weinheim

 

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