Ausgabe 1 / 1993 Frauen in Bewegung von Regine Bienert

Elisabeth Gnauck-Kühne

Einsatz mit Herz und Verstand

Von Regine Bienert

Elisabeth Gnauck-Kühne ist bekannt geworden durch ihre Stellung in der Frauenbewegung, die sie sich erworben hat durch eigene Erfahrungen, umfassende Studien und ihren vollen Einsatz mit Herz und Verstand.

Geboren wurde sie am 2. Januar 1850 in Vechelde bei Braunschweig in einem evangelischen Elternhaus. 1856 wurde der Vater als Staatsanwalt nach Blankenburg im Harz versetzt.

Schon als Achtjährige brachte sie aus Freude am Lehren Kindern das Vaterunser und Einmaleins bei. Mit vierzehn Jahren durfte sie das Lehrerinnenseminar im sächsischen Kallenberg besuchen. Nach dreijähriger Ausbildung war sie Erzieherin bei einem Deutsch-Amerikaner in Sachsen, Paris und London. In Blankenburg gründete sie fünfundzwanzigjährig eine Mädchenbildungsanstalt. Ihr Erziehungsheim genoss bald hohes Ansehen.

Sehr überraschend entschloss sie sich mit achtunddreißig Jahren, den Nervenarzt Dr. Gnauck zu heiraten. Sie liebte ihn und hatte in ihrer Weltfremdheit nicht erkannt, dass er nur ihr beachtliches Vermögen für seine Schulden wollte. Von seinen laufenden Liebesabenteuern wusste sie nichts. Bald nach der Hochzeit flüchtete sie nach Blankenburg. Bei der Scheidung wurde Dr. Gnauck als allein schuldig erklärt. Sie war zutiefst verwundert von der Unerfüllbarkeit ihres Wunsches nach einem eigenen Kind. Wie konnte sie aus dieser Verstörung zu sich selbst finden?

Völlig abgeschieden von der Umwelt studiert sie bis zur Erschöpfung zwei Jahre lang. Sie versteht sich als Frauenrechtlerin und sucht Verbindung mit der allgemeine Frauenbewegung. Ihr Ziel ist das Universitätsstudium, das Frauen in anderen europäischen Ländern erlaubt, in Deutschland aber verschlossen ist. Der 1865 von Luise Otto-Peters gegründete Allgemeine deutsche Frauenverein u.a. haben deshalb wiederholt dem Reichstag Bittschriften vorgelegt, auch 1891 noch ohne Erfolg. Im gleichen Jahr widerlegt Elisabeth Gnauck-Kühne in ihrer Schrift „Über das Universitätsstudium der Frau“ die Einwände dagegen als „offenbare Verkennung des Wesens und Willens Christi“. Sie erreicht, dass Prof. Schmöller, führend in der historisch-ethischen Richtung der Nationalökonomie, sie an seinen Seminaren teilnehmen lässt. Sie versteht die Frauenfrage als Teil der sozialen Frage. Die Frauenbewegung ist das notwendige Streben nach Besserstellung. Darin erkennt sie ihre Aufgabe in der Zeit vielfältigen sozialen Wandels.

1894 gründete sie die evangelische soziale Frauengruppe Berlins. Sie arbeitet drei Monate unerkannt in einer Berliner Kartonagenfabrik, um die Last der Frauen zu erleben, die sich täglich elf Stunden hier plagen müssen. Sie begreift, wie sehr die bürgerliche Bildung versagt hat, den Blick für die soziale Wirklichkeit zu öffnen. In der Schule wurde „jeder Erdteil beschrieben – nur die Welt in der nächsten Nähe nicht.“

Aufsehen erregt Elisabeth Gnauck-Kühne auf dem 6. Evangelisch-sozialen Kongress 1895 in Erfurt, an dem u.a. die Theologen Adolf von Harnack und Adolf Stoecker, der Sozialpolitiker Friedrich Naumann und der Volkswirtschaftsprofessor Adolf Wagner teilnehmen. Sie spricht über die soziale Lage der Frau und ist damit die erste Frau aus christlichen Kreisen, die dies Thema behandelt.

Die Zuhörer applaudieren ihr stehend. Die Presse aller Parteien würdigt ihre Rede. Sie steht damit in einer Reihe mit Führerinnen der Frauenbewegung wie Helene Lange, August Schmidt u.a. Adolf von Harnack urteilt danach: „Der Vortrag ist ein epochemachendes Ereignis für den Kongress und für unser ganzes öffentliches Leben.“ Nach diesem Erfolg in Erfurt wird Elisabeth Gnauck-Kühne in viele Städte zu Vorträgen gerufen, in denen sie die Interessen der Arbeiterinnen vom Standpunkt der Frauenbewegung aus vertritt.

Im März 1900 ist ihr Name noch einmal in allen großen Tageszeitungen zu lesen: „Die bekannte Sozialpolitikerin Elisabeth Gnauck-Kühne ist zum Katholizismus übergetreten.“ Diese Entscheidung trifft sie nach langer, gründlicher Vorbereitung. Sie findet in der katholischen Kirche die notwendige Geborgenheit, aus der sie ihre Freiheitsforderungen verantworten kann.

Sie arbeitet nun zusammen mit dem Volksverein für das katholische Deutschland, mit dem Verein katholischer deutscher Lehrerinnen, ist führend tätig im Katholischen Frauenbund. Sie bleibt aktives Mitglied des Vereins für Sozialpolitik. Auch nach ihrer Konversion behält sie die Achtung ihrer alten Glaubensgefährten.

In der „Kölnischen Volkszeitung“ und im „Hochland“ behandelt sie in Aufsätzen die politische Mitarbeit der Frau und spricht sich 1911 für das aktive Wahlrecht der Frau aus.

Ihr bedeutendestes Werk erscheint 1904: „Die deutsche Frau um die Jahrhundertwende. Statistische Studie zur Frauenfrage“. Noch heute zählt es zur klassischen Literatur der Frauenbewegung. Die Zahlen sprechen überzeugender als bloße Ansichten über die Lage der Frau. In der Studie werden die „Lebensverhältnisse des weiblichen Geschlechts in ihren Schwierigkeiten und Übelständen“ dargestellt. Die Zahlen belegen, dass um 1900 die Frauen in ihren leistungsfähigsten Jahren überwiegend als Hausmütter tätig waren, vom 50. Lebensjahr ab aber der größte Teil wieder ohne Versorger war, also wieder erwerbstätig werden musste. In der Ehe wird Schutz vor männlicher Willkür gefordert, z.B. durch Verbesserung des ehelichen Güterrechts, weibliche Zünfte sollen in der Wirtschaft vor männlicher Konkurrenz schützen. Sie empfiehlt für die Mädchen dringen die Erlernung eines Berufes. Dazu wird hauswirtschaftliche Schule für die Mädchen verlangt. Wegen der längeren Lebenserwartung der Frauen soll ihrer Altersversorgung mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Der allgemeinen Frauenbewegung wirft Elisabeth Gnauck-Kühne in der Studie vor: „Das Geschlechtsinteresse steht zu einseitig, ja ausschließlich im Vordergrunde. Man vermisst den Hinweis, dass alle Errungenschaften schließlich dem Ganzen dienen sollen… Noch ist die Frauenbewegung die Antithese zu dem Geschlechtsegoismus der Männer …“ Sinn für das Gemeinwohl will sie wecken, um den Individualismus zu überwinden. In diesem Anliegen schreibt sie für den Unterricht ihre Wirtschafts- und Bürgerkunde: „Das soziale Gemeinschaftsleben im Deutschen Reich“. Sie erlebt von 1908 bis 1928 51 Auflagen.

Elisabeth Gnauck-Kühnes Wesen war schon jung geprägt vom Streben nach Gerechtigkeit und der Überwindung der Trägheit des Herzens. Sie erkennt in der Frauenfrage ihrer Zeit sowohl die Arbeitsberaubung der bürgerlichen Frau und ihr geistiges Verkümmern als auch die Überlastung der Arbeiterin.

Kennzeichnend für ihre Bildungsarbeit ist es, dass sie Gemeinsames und Unterschiedliches von Caritas und „Sozialarbeit“ deutlich macht. „Weil die Not, die neue, um die es sich handelt, einer ganzen Klasse eigen ist, nennen wir sie kurz eine gesellschaftliche oder soziale Not, und den neuen Weg, den die christliche Liebe dahin baut, nennen wir den Weg der Sozialen Arbeit … Der soziale Arbeiter erstrebt Hilfe auf gesetzlichem Wege und durch Selbsthilfe der Arbeiterklasse.“ Zu dieser Selbsthilfe müssen die Arbeiterinnen erzogen werden. „Wer daher die Arbeiterinnen zum Zusammenschluss ruft, der tut soziale Arbeit! … Da genügt das gute Herz, der gute Wille nicht. Wir müssen uns unter allen Umständen Kenntnisse der Lage der Arbeiterinnenklasse aneignen. Das ist die erste, die unerlässliche Forderung.“ Wenig Zeit bleibt ihr für ihre dichterischen Neigungen. Ihre sozialen Märchen sind lesenswert.

Am 12. April 1917 erliegt ihr durch Kriegskost geschwächter Körper einer Lungenentzündung. „Unser persönliches Glück ist nicht die Hauptsache. Die Vervollkommnung des Ganzen durch Heilung des einzelnen ist wichtiger.“ Dazu hat sie beigetragen.

Regina Bienert (Auszüge)

 

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