Sie ist die älteste der fünf Töchter des Zürcher Pfarrherrn Johann Ludwig Spyri, ihm, der die Kanzel bald schon mit dem Rednerpult des Politikers vertauschen und ins Direktorat einer Eisenbahngesellschaft hinüberwechseln wird, bleibt das Mädchen fremd. Zu phantasiebegabt, zu eigenwillig, zu beweglich. Dergleichen Persönlichkeitsmerkmale, meinte er, stünden eigentlich nur Männern an. Bei Weibern schlügen sie allzu oft ins Negative um, brächten sie auf dumme Gedanken, ließen sie nur zu schnell vorwitzig und störrisch werden. Also nimmt er seine Erstgeborene beizeiten aus der Schule. Züchtig im Haushalt waltend, soll sie des Mannes harren, der ihr die Hand zur Ehe reichen wird.
Er lässt nicht lange auf sich warten, heißt Kempin, ist aber leider nur ein besitz- und stellenloser Jungpfarrer. Schlimmer noch: Sohn eines 1848 in die Schweiz geflüchteten deutschen Revolutionärs! Spyri senior, der von reichen, angesehenen Schwiegersöhnen träumt, verwirft ihn. Als sich Emily dennoch für ihn entscheidet, verweigert er dem Paar die Mitgift.
Züchtig, wenn auch kirchmausarm, waltet sie fortan im eigenen Haushalt. Doch abends büffelt sie Latein und Mathe, erreicht die Hochschulreife, will partout Juristin werden. Jetzt wendet sich der alte Spyri endgültig von ihr ab. Und Johanna Spyri, die Lieblingstante Emilys und Verfasserin der weltbekannten „Heidi“-Bücher, fühlt sich gar bemüßigt, in Briefen an eine Freundin heftigst gegen diese „Scheinweiber“ zu polemisieren, die „über alle natürlichen Grenzen springen“, mit ihrem „übertriebenen Studieren alles häusliche Behagen zerstören und verderben“.
In ihrem 34. Lebensjahr promoviert das inzwischen Mutter von drei Kindern gewordene „Scheinweib“ mit magna cum laude. Ihr Vater bringt dieweil im Zürcher Kantonsrat das Projekt einer Frauenbadeanstalt zu Fall. „Aus moralischen und ästhetischen Gründen“, wie er sagt. Wenig später weigert dasselbe Hohe Haus der jungen Rechtsgelehrten sowohl die Zulassung zu den Gerichten als auch das Recht, als Privatdozentin tätig zu werden. Der Beruf des „Fürsprech“, heißt es in der Begründung, müsse den stimmberechtigten Aktivbürgern, kurz, den Männern vorbehalten bleiben …
Da emigrieren die Kempins nach Nordamerika. Er schweren Herzens, sie im festen Glauben an das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. Kaum in New York, beantragt Emily die Zulassung zur dortigen Universität. Wieder ist sie die erste, die solch ein Ansinnen stellt, und wieder tut man sich mit der Entscheidung schwer.
Als den Kempins das Geld auszugehen droht, eröffnet diese erstaunliche Frau, unterstützt von Damen der Gesellschaft, eine juristische Beratungsstelle sowie eine nun eben private Rechts-Schule, beide ausschließlich für Frauen. Sie gerät damit so rühmlich in die Schlagzeilen, dass der Senat der Universität New York schlicht nicht mehr anders kann, als ihr die ersehnte Dozentur zu geben. Er wird damit Zeichen setzen. Ein von Emily ebenfalls speziell auf die Bedürfnisse von Frauen zugeschnittenes Vorlesungsprogramm wird bis in die 40er Jahre dieses Jahrhunderts hinein aktuell bleiben und Generationen von amerikanischen Juristinnen prägen.
Ihr Mann? Er hat sich als Journalist versucht, ist gescheitert, schrumpft, dieweil sie wächst, wird krank, pflegt sein Heimweh, steckt die Kinder damit an, entfremdet sie der Mutter, fährt, gerade als sie ihren Durchbruch schafft, mit zweien in die Schweiz zurück.
Der Zwiespalt, in den er sie damit stürzt, zerreißt sie schier. Den Tod im Herzen verzichtet sie auf New York, folgt den Kindern, bittet den Zürcher Magistrat, der ihre amerikanischen Erfolge säuerlich zur Kenntnis nimmt, zum zweiten Mal um die Venia legendi, das Recht, zu lehren. Zum zweiten Mal und mit Zweidrittelmehrheit wird der Antrag abgeschmettert – gegen die Empfehlung des Senats der Universität. Nun liegt die Entscheidung beim Erziehungsrat. Der gewährt der Frau Doktor gnädigst eine Probevorlesung. „Ausnahmsweise“. Gröhlende Burschenschaften stören sie. Dennoch bringt sie die Wende. Doch wie viel Kraft dies alles kostet …
Von der juristischen Prominenz Deutschlands und vom Deutschen Frauenverband wird sie nach Berlin, Dresden und Leipzig eingeladen, hält Vorträge, schreibt ein vielbeachtetes Buch über „Die Rechtsstellung der Frau nach den zur Zeit in Deutschland gültigen Gesetzesbestimmungen“.
Den Anklang, den es findet, ermutigt sie zur Gründung einer eigenen Kanzlei. Deren Adresse: Berlin, Unter den Linden 40. Eröffnet wird sie übrigens just zum Zeitpunkt, da Möbius, ein Leipziger Nervenarzt, sein Pamphlet „über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ erscheinen lässt. Dessen Credo: Das „schwache Geschlecht“ eigne sich schon deshalb nicht für intellektuelle und sonstige „höhere“ Berufe, weil das durchschnittliche Frauenhirn weniger als das eines männlichen Idioten wiege …
Wenn wenigstens die Familie zu ihr stünde … Doch ihr Mann, der einst als Pfarrer für unentgeltliche Krankenpflege und für Kinderferienlager eintrat, hat seine Leidenschaft für Spekulieren mit Aktien entdeckt und geht auch sonst seit langem seine eigenen Wege. Was ihn freilich nicht daran hindert, immer mal wieder Geld von ihr zu nehmen. Hinzu kommt Kummer mit einer Tochter. Es wird zuviel; Emily flüchtet sich in einen Nervenzusammenbruch. Sie wird in eine Berliner Nervenklinik eingewiesen.
Wer seine Seele mit Statistik und seine Menschenliebe mit der Börse vertausche, so klagt sie, gelte als normal. Wer es umgekehrt mache, sei ein „Spinner“ …
15 Monate später überführt man sie in die Basler Irrenanstalt Friedmatt, wo sie entmündigt wird. Obschon sie immer zu Äußerungen fähig ist, die alles andere als „spinnert“ sind, wird ihr auch der Doktortitel aberkannt. Um aus der Kritik herauszukommen, bewirbt sie sich bei einem Baseler Pfarrer um die Stelle der Haushälterin.
Sie schreibt: Wie sich ihr Mann von ihr getrennt habe, ihre erwachsenen Kinder „in der Welt herum zerstreut“ seien und die übrige Verwandtschaft ihres Studiums der Jurisprudenz wegen und weil sie mit „extremen Frauenrechtlerinnen“ sympathisiere, nichts mehr von ihr wissen wolle, sei sie „zu diesem Zeitpunkt vollkommen existenzlos“. So biete sie denn ihre Dienste für monatlich zehn Franken an, wäre notfalls sogar bereit, zeitweise auch umsonst zu arbeiten.
Erhalten bleibt dieser erschütternde, exakt ihre Lage schildernde letzte Brief aus ihrer Hand, weil er vom Anstaltsdirektor einbehalten wird. Weder er noch Emilys eigentümliche Zürcher Verwandtschaft möchte, dass sie je wieder aus der geschlossenen Abteilung heraus und unter die Leute kommt. Ist sie ihnen immer noch zu phantasiebegabt, zu eigenwillig, zu beweglich …?
Am 12. April 1901 stirbt Frau Dr. Kempin, die erste promovierte Juristin Europas, keine 48 Jahre alt, an einem Gebärmutter-Myom. Und wird sofort aufs gründlichste vergessen. Sie bleibt trotz ihrer unerhörten Lebensleistung während neun Jahrzehnten Unperson.
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