Ausgabe 2 / 2005 Material von Ute Gerhard

Empfang bei der Kaiserin

Von Ute Gerhard


Gestern Vormittag um halb 12 Uhr empfing die Kaiserin eine Abordnung des Frauenweltbundes. Neben dem Vorstande und den Ehrenpräsidentinnen waren die Präsidentinnen der 19 Nationalverbände geladen, ferner vom  Berliner Lokalkomitee Frau Hedwig Heyl, Frau Oberbürgermeister Kirschner und Frau Wenzel-Heckmann. Frau Marie Stritt vertrat den Bund deutscher Frauenvereine.
Die Kaiserin empfing die Damen, umgeben von ihrem Hofstaat, im blauen Pfeilersaal. Frau Heyl übernahm die Vorstellung, mit der jetzigen Bundespräsidentin Lady  Aberdeen beginnend, und nannte dabei das Arbeitsgebiet jeder Dame. Die Kaiserin zeigte sich gleich orientiert wie interessiert und unterhielt sich mit jeder der Damen längere Zeit, durch ihre Fragen überall ein lebhaftes Interesse bekundend. Die Ausländerinnen wurden in ihrer eigenen Sprache angeredet, und die Kaiserin gab dabei ihrer  Freude Ausdruck, dass der Kongreß Verbindungen zwischen den deutschen Frauen und ihren ausländischen Schwestern anknüpfe. Helene Lange wurde von der  Kaiserin in ein längeres Gespräch gezogen, auch abonnierte sich die hohe Frau auf die von dieser Führerin heraus gegebene Zeitschrift „Die Frau“.
Ganz reizend gestaltete sich die Unterhaltung zwischen der Kaiserin und Miß Susan B. Anthony. Die Kaiserin reichte ihr die Hand, die die Amerikanerin nicht küßte, sondern kräftig schüttelte. Die Kaiserin ließ dann für die alte Dame einen Lehnstuhl herbeibringen und bat sie niederzusitzen, und die offenherzige Republikanerin ließ sich ungeniert nieder und benutzte die gute Gelegenheit, der deutschen Kaiserin ein Privatissimum über die Frauenbewegung zu halten. „Sie müssen dies dem Kaiser sagen, sie müssen das dem Kaiser sagen“, klang es alle Augenblicke aus ihrem Munde. „Die Herren wollen aber nicht immer alles hören!“ entgegnete die Kaiserin mit feinem Lächeln. „O, Ihr Kaiser und unser Roosevelt, das sind zwei so prächtige Männer, sie werden schon hören wollen!“ sagte darauf Miß Susan Anthony mit begeisterter Überzeugung. Auch mit Marianne Harnisch, der liebenswürdigen Vertreterin Österreichs, unterhielt sich die Kaiserin lebhaft. Hocherfreut verließen die Frauen um 1 Uhr das kaiserliche Schloß. Besonders die deutschen Frauen hatten die Empfindung, daß ihr Streben nun um einen guten Schritt vorwärts gekommen sei. 
aus der Pressemappe des Helene-Lange-Archivs

aus: Unerhört (c) Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH Reinbek bei Hamburg 1990

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