Ausgabe 2 / 2018 Artikel von Kristin Flach-Köhler

Engel der Kulturen

Von Kristin Flach-Köhler

Mitte 2015 begann das, was gemeinhin als Flüchtlingskrise bezeichnet wird. Auf der Flucht vor Krisen und Kriegen in Ländern wie Syrien, Afghanistan, Albanien oder Eritrea reisten über eine Million Menschen in die Bundesrepublik ein. Das setzte die grundsätzliche Frage nach einer angemessenen Integrationspolitik und deren rechtliche Regulierung neu auf die politische Tagesordnung.

Gleichzeitig entwickelte sich ein umfangreiches bürgerschaftliches Engagement, um den ankommenden Geflüchteten Begleitung und Unterstützung anzubieten. Auch in Mörfelden-Walldorf kamen seither mehr als 600 Menschen an. Sie werden kreativ und empathisch begleitet von rund 120 freiwillig Engagierten im Netzwerk Asyl, das vom Integrationsbüro koordiniert wird.

Die Evangelische Kirchengemeinde Mörfelden hat Erfahrung mit einem Integrationsprojekt. Sie betreibt seit 1975 eine Hausaufgabenhilfe mit heute knapp 50 Kindern mit Migrationshintergrund. Ihre Familien sollten beim Aufbau eines Evangelischen Zentrums für Interkulturelle Bildung (EZIB) einbezogen werden. Für mich als Leiterin lag der besondere Anreiz darin, dass sich Kirchengemeinde und Dekanat mit der Einrichtung neu profilieren wollten. Kirche müsse sich öffnen im Sinne des biblischen Mottos: Wenn eine Fremde mit dir in eurem Land lebt, bedrücke sie nicht. Wie eine Einheimische, eine von euch, sei euch die Person, die unter euch als Fremde lebt, liebe sie als dich selbst. (Lev 19,33-34) Diesem biblischen Anspruch entspricht eine evangelische Bildungsarbeit, die sich in unserer religiös und kulturell vielfältigen Gesellschaft auf die Pluralität einlässt und Bildung als Geschehen im Dialog mit „anderen“ entwickelt. Und so besteht meine Aufgabe unter anderem darin, das EZIB als Anlaufstelle im Quartier für Begegnung und Austausch, Vernetzung und Bildung aufzubauen. Über die Kinder der Hausaufgabenhilfe gibt es inzwischen viele Kontakte zu Eltern und Familien. Mit zahlreichen Kooperationspartner*innen entwickle ich Angebote, die Menschen zusammenbringen. Es geht darum, sich neugierig und vorurteilskritisch zu begegnen und kennenzulernen, voneinander zu lernen und Gemeinsamkeiten zu entdecken, die das Leben lebens- und liebenswert machen.

Dazu passte das Kunstprojekt „Engel der Kulturen“ als Mitmach-Aktion für Mörfelden-Walldorf. Das Künstlerpaar Carmen Dietrich und Gregor Merten aus Burscheid entwickelte den „Engel der Kulturen“ mit den auf einem Kreis angedeuteten Symbolen der abrahamischen Religionen: Kreuz, Halbmond und Stern. In diesem Motiv zeigt sich eine Vision: „Wir leben in einer Welt. Wir lassen einander zu und geben uns gegenseitig Raum zur Entfaltung. Mitmenschlichkeit und Achtung vor der Schöpfung prägen die von allen gebildete Mitte. Wir sind einander verbunden und werden nur gemeinsam und friedlich die Zukunft gestalten können.“

Die Idee brachte die Pfarrerin von einem Ausflug der Evangelischen Frauenhilfe Mörfelden nach Worms mit. Sie hatte die dort verlegte Intarsie gesehen und erzählte mir davon. In der Integrationsbeauftragten der Stadt fand ich eine ambitionierte Kooperationspartnerin. Gemeinsam holten wir den Engel der Kulturen nach Mörfelden-Walldorf. Unsere Anstellungsträger hatten wir unterstützend auf unserer Seite. Wir bildeten eine Steuerungsgruppe mit Vertreter*innen der ansässigen Religionsgemeinschaften, des Stadtparlaments, zivilgesellschaftlicher Organisationen, der Vereine und Schulen. Wir lernten uns gegenseitig kennen, und es entstanden – wie erhofft – ganz neue Kontakte. In zwei öffentlichen Veranstaltungen stellten wir das Projekt „Engel der Kulturen – Miteinander für Frieden“ vor und zeigten Möglichkeiten auf, sich zu beteiligen. Am Ende engagierten sich mehr als 30 Organisationen.

Im Juni war es dann soweit. Carmen Dietrich und Gregor Merten begleiteten uns mit einem rollenden Engel auf dem Stationen-Weg von Mörfelden nach Walldorf. In Mörfelden starteten wir mit der Enthüllung eines Wandobjektes am alten Rathaus. An den Stationen wurde jeweils ein flüchtiger Engelabdruck aus Sand erzeugt. Schulen, Religionsgemeinschaften und Initiativen stellten in Form von Gedichten, Musik, kleinen Vorträgen und künstlerischen Arbeiten ihre Beiträge für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Doppelstadt vor. Ein stadtbekannter Musiker, portugiesischer Einwanderer der ersten Generation, moderierte mit Leib und Seele den Menschenzug nach Walldorf. Nach einem Friedensgebet evangelischer, katholischer, griechisch- orthodoxer, muslimischer und jüdischer Religionsvertreter*innen begann die feierliche Verlegung der Bodenintarsie in Walldorf auf dem Bahnhofsvorplatz, begleitet von Livemusik und multikulturellem Essen und Trinken. Dabei konnten die Teilnehmenden selbst Hand anlegen und so das Projekt zu ihrem machen.

Seit zehn Jahren sind Carmen Dietrich und Gregor Merten mit diesem Projekt in Europa und Asien unterwegs. Die Intarsie für Mörfelden entstand bei der vorherigen Aktion in Köln, wir brannten diejenige für die nächste Aktion in Wuppertal aus. So ist Mörfelden-Walldorf in dieses Band des Friedens mit 120 Städten von Istanbul bis Hamburg und Wittenberg, von Brüssel bis Sarajevo eingebunden. Beim Ausbrennen der Intarsien entstehen innere Formen, am Rand mit Ort und Datum der Entstehung beschriftet. Sie werden gesammelt und aufgeschichtet und 2019 in Jerusalem als Stele aufgestellt.

„Der Engel will gefunden werden. Man erkennt ihn nicht auf den ersten Blick. Aber die Entdeckung wirkt. Sich mit allen Sinnen am Projekt zu beteiligen, macht etwas mit den Menschen, es verändert sie. Sie lassen sich locken sich zu öffnen, viele kleine Schritte zu tun, heraus aus der Stadt, in die Welt, hin zu anderen Menschen, um das zu finden, was uns als Menschen in der einen Welt miteinander verbindet.“ So fasste eine Teilnehmerin unsere Erfahrung zusammen. Mit dieser Energie möchte ich den Interreligiösen Dialog in der Stadt aufnehmen und mit Leben füllen. Der Engel der Kulturen wird uns dabei begleiten.

Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit 60 min

Vielfalt wahrnehmen und miteinander gestalten

Vorbereiten    Stuhlkreis, Stifte, Engel der Kulturen auf Plakatgröße gezogen in die Mitte legen – oder mehrere (in ungefährer Anzahl der Teilnehmer*innen) im A4-Format; Engel-Kärtchen mit dem Text von Christina Brudereck in der Anzahl der TN

Ankommen    Herzlich willkommen! Bitte erzählen Sie in zwei, drei Sätzen, wo Sie gerade herkommen, was Sie zuletzt gemacht haben. – Leiter*in beginnt selbst

Ins Thema holen    So vielfältig, wie unser Zusammenkommen hier heute ist, so vielfältig ist unser Alltag überhaupt. Vielfalt wird in unseren Familien und Nachbarschaften gelebt, in Schulen und Kindertagesstätten, am Arbeitsplatz, in Jugendzentren, im Sportverein, in Kirchen und Glaubensgemeinschaften, in den vielen Organisationen, die das gesellschaftliche Leben gestalten. Überall dort, wo sich Menschen verschiedener Herkunft und Kultur begegnen. Vielfalt macht neugierig und weckt Interesse an der oder dem anderen. Vielfalt verunsichert auch und löst diffuse Ängste vor dem Unbekannten und Fremden aus. Vielfalt ist konfliktträchtig und anstrengend, fordert heraus, muss ausgehalten und immer wieder eingeübt werden. Und: Vielfalt verbindet.

Schauen    Vor uns liegt das Bild (liegen Bilder) eines spannenden Kunstprojekts: Was sehen Sie? Was können Sie erkennen? – kurzer Austausch

Vielleicht haben Sie es nicht auf den ersten Blick gesehen: Kreuz, Stern, Halbmond – die angedeuteten Symbole der drei abrahamischen Religionen auf einem Kreis. Darin die Figur eines weißen Engels. – kurze Erläuterung zum Projekt aus dem Erfahrungsbericht und der Internetseite www.engel-der-kulturen.de 1


Assoziieren    Welche Assoziationen zu „Vielfalt“ haben Sie? Welche Situationen, Ereignisse und auch Emotionen verbinden sich für Sie mit Vielfalt? – Schreiben Sie ein für Sie wichtiges Stichwort in den (die) Engel hinein.

Lassen Sie unsere Mitte mit dem Engel (den Engeln) und Ihren Einfügungen auf sich wirken. Wer mag, kann etwas dazu sagen.

Vielfalt leben – Gesellschaft gestalten    Gute Lösungen für den Umgang mit Vielfalt zu finden: Dieser Aufgabe widmet sich der Reinhard Mohn Preis 2018. Die Bertelsmann Stiftung hat dazu eine lesenswerte Aufsatzsammlung herausgegeben.2  Liz Mohn betont in ihrem Vorwort: „Für das gelingende Zusammenleben in Vielfalt bleibt eines ausschlaggebend: die Begegnung „face to face“! … Diese bietet jeden Tag die Chance, auf der Basis von Gemeinsamkeiten – als Nachbarn, Eltern, Sport- oder Musikbegeisterte – in Austausch und Dialog auch über kulturelle Unterschiede zu treten. Kulturelle Vielfalt ist heute Teil unseres Alltags, und wir alle sind gefordert, das Zusammenleben gemeinsam mit unseren Mitmenschen zu gestalten. Damit dies gelingt, ist es wichtig, dass wir in unserem Gegenüber stets den Menschen – und nicht nur den Fremden – sehen und uns mit Offenheit, Empathie und Respekt begegnen.“ All das trage dazu bei, dass wir besser miteinander in den Dialog kommen, auch über vermeintliche Unterschiede hinweg. „Erst lernt man sich kennen; daraus erwächst Respekt und Zuneigung – und so entstehen schließlich Freundschaften.“

Austausch    Sich persönlich begegnen, offen, mitfühlend und respektvoll: An welchen Orten in der Gemeinde, in der Kommune, im eigenen Lebensumfeld gibt es diesen Austausch und Dialog? Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie damit? Haben Sie erlebt, dass Sie Menschen kennenlernen durften und Respekt und Zuneigung gewachsen sind? Wie ist das passiert? Was haben Sie gebraucht, damit Sie sich öffnen und auch über sehr persönliche Dinge – etwa Ihren Glauben – sprechen konnten?

Lied    „Schlag mir die Tür nicht vor der Nase zu, / sonst verpasst du eine Chance, / sonst verlierst du die Balance! / Schlag mir die Tür nicht vor der Nase zu, denn ich könnt‘ ein Engel für dich sein…“ WGT 2013 (evtl. von CD einspielen) – oder: Weißt du, wo der Himmel ist

Abschließen    Wenn wir beginnen, von uns selbst und über unseren Glauben zu sprechen und in diesen Begegnungen miteinander teilen, was uns ganz wichtig ist, dann entsteht eine besondere Nähe und Sensibilität. Unterschiede dürfen sein. Der Engel der Kulturen will zum interreligiösen Dialog einladen und inspirieren. Die Geschichten unseres Glaubens – wie wir dazu gekommen sind und was er uns bedeutet – können ganz verschieden sein. Aber es gibt wesentlich Verbindendes. Und das ist, nicht zuletzt, die Einzigartigkeit eines jeden Menschen. Christina Brudereck3  formuliert das als Bitte: Lass mich nie vergessen, dass ich wichtig bin.

Diese Bitte richtet sich an ein Du.
Das kann ein Gegenüber sein.
Das kann Gott sein, die Lebendige, der Ewige, Allah oder das große Um-uns-herum.
Wir können die Bitte in den weißen Engel hineindenken und dann auch hineinschreiben.
Sie wird gehalten durch den äußeren Rahmen, den Erdenkreis, und durch Glauben und Liebe in Vielfalt. Sie füllt den Engel mit der Vielfalt der einzigartigen Leben aller.Die Bitte ermutigt mich, mich selbst mit meiner Geschichte wichtig zu
nehmen – und alle anderen gleichermaßen auch.

Sprechen wir diese Bitte nun vielstimmig miteinander.

Kopien des Engels der Kulturen mit dem Text „Dass ich wichtig bin“ verteilen und gemeinsam sprechen – kurze Stille

Wenn Sie mögen, legen Sie diese Karte zuhause auf den Frühstückstisch und nehmen Sie den Gedanken mit in Ihren Alltag in Vielfalt. Denn die Welt braucht uns alle, dich und mich und Gott, die Eine in allem.

Amen!

Dass ich wichtig bin
Lass mich nie vergessen, dass ich wichtig bin.
Einen Unterschied mache.
Eine Stimme habe.
Und Fähigkeiten.
Eine Geschichte, die sonst niemand hat.
Lass mich nie vergessen,
dass du mich brauchst.
Meinen Glauben. Meine Liebe.
Dass diese Welt auf mich wartet.
Auf meinen einzigartig schönen Beitrag.

Christina Brudereck

Über das Projekt
Der Ring mit den Symbolen der drei abrahamischen Religionen bringt den Wunsch der Mehrheitsgesellschaft nach Zusammeleben in Gleichberechtigung und friedlicher Verbundenheit zum Ausdruck. Als Kunstaktion wirkt es so rechtsextremen, fremdenfeindlichen, antisemitischen und islamophoben Tendenzen entgegen. www.engel-der-kulturen.de

Quellenangaben
1) Neben vielen anschaulichen Informationen zum Projekt finden Sie auf engel-der-kulturen.de auch didaktisches Material zur vertiefenden Arbeit mit dem Thema.
2) Bertelsmann Stiftung (Hg.): Vielfalt leben, Gesellschaft gestalten. Chancen und Herausforderungen kultureller Pluralität in Deutschland, Gütersloh 2018 3 Christina Brudereck: Dass ich wichtig bin, in: Worte meines Herzens, Gebete für Frauen, Neukirchen 2016

Kristin Flach-Köhler ist Diplompädagogin und Interkulturelle Trainerin. Bis 2015 war sie Bildungs- und Verbandsreferentin der Evangelischen Frauen in Hessen und Nassau. Seitdem ist sie Leiterin des Evangelischen Zentrums für Interkulturelle Bildung in Mörfelden.

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