Alle Ausgaben / 2010 Artikel von Christine Hoffmann

Entrüstet euch!

Ein Plädoyer wider den Krieg

Von Christine Hoffmann


Krieg ist für uns medialer Alltag und ungreifbar zugleich geworden. Dabei haben wir alle Mütter oder Großmütter, die Krieg erlebt und erzählt haben, was Krieg bedeutet.

Seit 1990 sprechen wir von Friedenseinsätzen, wenn die Bundeswehr sich an Auslandseinsätzen beteiligt. Ob der seit neun Jahren andauernde Einsatz in Afghanistan Krieg ist oder nicht, wurde zuletzt in der Bundesregierung salomonisch entschieden: „Umgangssprachlich“ kann Verteidigungsminister zu Guttenberg den Soldat/innen, die ihren Alltag im Afghanistan-Einsatz als Krieg erleben, nur zustimmen.

Die Bundeswehr ist also an einem Krieg beteiligt. Das Mandat dazu erteilt der Deutsche Bundestag. Auch die Kirchen beteiligen sich an der – viel zu geringen – öffentlichen Auseinandersetzung über diesen Krieg. Neujahr 2010 predigt Margot Käßmann: „Nichts ist gut in Afghanistan. … Wir brauchen Menschen, die … ein klares Friedenszeugnis in der Welt abgeben, gegen Gewalt und Krieg aufbegehren und sagen: Die Hoffnung auf Gottes Zukunft gibt mir schon hier und jetzt den Mut von Alternativen zu reden und mich dafür einzusetzen. … Ich bin nicht naiv. Aber Waffen schaffen offensichtlich auch keinen Frieden in Afghanistan. Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen.“

Kurze Zeit später fordert der pax christi-Präsident und Bischof von Fulda, Heinz Josef Algermissen, auf zum „Mut zur Wahrheit“.(1)  In seiner Erklärung heißt es: „Aus der vorgesehenen Schutzfunktion der Bundeswehr für Maßnahmen zum zivilen Aufbau des Landes sind direkte Kampfhandlungen geworden – mal mit ‚Aufstandsbekämpfung' begründet, mal mit der Eindämmung des internationalen Terrorismus. Die Kombination von zivilem Wiederaufbau und dem Einsatz von Stabilisierungskräften hat in Afghanistan nicht wie erhofft solide staatliche Strukturen und eine starke Zivilgesellschaft geschaffen, sondern die Zerrissenheit der afghanischen Gesellschaft und die Gewalt im Lande stetig vergrößert. … Der Terror wurde in Afghanistan nicht beseitigt, sondern neue gewalttätige Gruppierungen haben sich gebildet und Unterstützung gefunden.“

Gleichzeitig sind auch ganz andere kirchliche Stimmen zu hören. Der als Seelsorger in Kundus bei den im Einsatz befindlichen Soldat/innen tätige evangelische Militärdekan, Karsten Wächter, greift in einem Offenen Brief an Margot Käßmann die Diskussion auf, ob in Afghanistan Krieg sei oder nicht. Er hält es „für geboten, sehr behutsam mit dieser Vokabel umzugehen. Vor allem muss man sehen, dass ein diametraler Unterschied zwischen den Erfahrungen unseres Volkes mit dem letzten Krieg und dem ‚nichtinternationalen bewaffneten Konflikt' hier in Afghanistan besteht.“ Er habe den Eindruck, „dass wir zu wenig gegen diese Gewalt tun und ihr nichts entgegensetzen. Wir sind auf dem besten Wege, das Vertrauen der Zivilbevölkerung zu verlieren, weil ISAF der Zivilbevölkerung keinen Schutz bietet. Hier kommt für mich das in der Friedensdenkschrift der EKD ausgesprochene Prinzip der ‚Rechtserhaltenden Gewalt' zum Tragen. Die Anwendung militärischer Gewalt ist in dieser Situation m.E. sehr wohl mit christlichem Verständnis vereinbar und möglicherweise sogar geboten.“

Die Frage, ob die internationalen Truppen in Afghanistan mehr Schaden anrichten, wenn sie bleiben und mit veränderter Strategie kämpfen oder mit einem schnellen Abzug, ist heute selbst unter Friedensforscher/innen umstritten.(2)  Die Bundesregierung orientiert sich an der Führungsmacht der NATO und hofft auf weiteres Stillhalten von mittlerweile zwei Dritteln der Bevölkerung, die sich bei Umfragen für einen Abzug der Bundeswehr aussprechen. Aber so funktioniert Demokratie nicht. Wir Bürger/innen müssen uns eine Meinung bilden. Dazu gehört ein Blick auf allgemeine ethische Prinzipien, auf deren Basis die Entscheidung für oder gegen den Einsatz militärischer Gewalt getroffen werden kann.

Konkret gefragt: Gibt es Rechtfertigungen für den Einsatz militärischer Gewalt? Gibt es den „gerechten Krieg“? Woher kommt diese uns heute so fremd anmutende Formulierung? Führt die NATO in Afghanistan einen gerechten Krieg? Kämpfen deutsche Soldat/innen am Hindukusch für gerechten Frieden? Und wie könnte der erreicht werden?

Gerechter Krieg?

Die so genannte Lehre vom gerechten Krieg wurde von Aurelius Augustinus (354-430) unter Rückgriff auf Überlegungen aus der Antike entwickelt. Er benannte darin Kriterien für eine ethische Beurteilung möglicher Kriegserklärungen und Kriegshandlungen aus christlicher Sicht. Thomas von Aquin (ca. 1225-1274) griff diese Gedanken auf und systematisierte sie. Beiden ging es darum, so etwas wie einen ethischen Kompass zu formulieren, der den Krieg eindämmt. Kern der Idee war, „dass Kriege grundsätzlich nur um des Friedens willen geführt werden dürften“.(3)  Als Frieden galt dabei die „Wiederherstellung des Rechts“.(4)  Als Bedingungen für einen gerechten Krieg wurden festgelegt:(5)
– Die staatliche Autorität erklärt den Krieg.
– Es muss ein gerechter Grund (ius ad bellum), d.h. ein zugefügtes Unrecht vorliegen, das nicht anders als durch Krieg ausgeglichen werden könnte (ultima ratio). Diese Bedingung spitzte Thomas von Aquin später auf nachweisbare Schuld der Gegenseite zu.
– Im Krieg müssen allgemeingültige Rechtsgrundsätze eingehalten werden (ius in bello).
– Die Verhältnismäßigkeit der Mittel und Opfer zur Erreichung des Zieles muss gegeben sein.(6)

Jedoch hat die weitere Diskussion das Gewicht der Debatte verlagert – und zwar von der Gerechtigkeit der strittigen Sache immer mehr hin zu einer Legitimierung der Kriegsführenden. Die Lehre vom gerechten Krieg als „ethischer Kompromiss“(7)  mit dem Ziel der Eindämmung von Kriegen wurde mehr und mehr im Sinne einer „Kriegsrechtfertigungslehre“ angewandt.(8)

Humanitäre Intervention?

Ein ähnlicher Prozess ist seit 1945 zu beobachten bei den Bestrebungen zur Verhinderung von Krieg in der Charta der Vereinten Nationen hin zur Argumentationslinie der „Verantwortung zum Schutz“(9) , die das Recht auf humanitäre Intervention begründet.

Mit der leidvollen Erfahrung zweier Weltkriege formulieren die Staaten bei der Gründung der Vereinten Nationen in der Präambel zum Gründungsdokument das Ziel, „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“. Betont werden die Verantwortung für den Weltfrieden und der Weg, Konflikte durch Verhandlungen beizulegen.

Eine neue Argumentationslinie der Verantwortung für den Schutz ist nach dem Kosovo-Konflikt und dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien entwickelt worden. Die Auseinandersetzung neigt dabei stark zur Rechtfertigung militärischer Intervention – und begründet dies als Konsequenz aus der Erfahrung, dass beim Völkermord in Ruanda die Weltöffentlichkeit ohne einzugreifen zugeschaut hat. Die NATO nahm sowohl die Problematik der zerfallenden Staaten auf dem Balkan als auch die Terrorangriffe islamistischer Akteure zum Anlass, eine neue Begründung ihrer Existenz und in der Folge eine neue Strategie zu entwickeln. Seit 1990 verband sie die Neuformulierung ihrer Aufgaben mit einer neuen Begrifflichkeit: Nun sollte es nicht mehr um die Abwehr militärischer Bedrohungen gehen, sondern um „humanitäre Interventionen“. Damit trug die NATO maßgeblich zur Militarisierung des sicherheits- und außenpolitischen Denkens und Handelns auch in Deutschland bei. „Pflicht“ und Bereitschaft zur „Übernahme von Verantwortung“ für so hohe Güter wie Menschenrechte, Schutz von Minderheiten, Demokratie und Gleichberechtigung von Frauen wurden als Ziele militärischer Interventionen propagiert. Dies führte zu einer politisch-moralischen Aufwertung der militärischen Gewalt als akzeptables Mittel zur Wahrung höchster Werte und zur Durchsetzung edler Ziele. Zugleich wurde die eigene (potenzielle) militärische Gewaltanwendung im öffentlichen Diskurs bagatellisiert und beschönigend-verschleiernd dargestellt.(10)

Aus meiner Sicht wären die Erfahrungen mit dem Einsatz der NATO in Afghanistan geeignet, das Mittel des Krieges zum Schutz von Menschenrechten ein für alle Mal zu verwerfen. In neun Jahren hat sich die Sicherheitslage dort verschlechtert statt verbessert. Es hat Zehntausende ziviler Opfer gegeben, ein Ende der Kämpfe ist nicht in Sicht. Afghanistan gehört zu den ärmsten Ländern der Welt mit extrem hoher Arbeitslosigkeit und fehlender Perspektive auf Ausbildung und Berufstätigkeit für junge Menschen. Die in der Verfassung festgeschriebenen Rechte können Frauen nur schwer einklagen, weil es trotz neun Jahren Aufbauhilfe an Rechtsstrukturen und dem Zugang dazu mangelt. Korruption breitet sich aus, Kriegsverbrecher sitzen in der Regierung, die ausländischen Truppen werden zunehmend als Besatzer gefürchtet. Die in Afghanistan handelnden zivilen Organisationen haben der zivil-militärischen Zusammenarbeit längst ein denkbar schlechtes Zeugnis ausgestellt. Meine Konsequenz lautet: Deutschland – und die NATO – müssen die Kampfhandlungen in Afghanistan beenden, Waffenstillstände fördern und sofort mit einem strukturiert geplanten dem Abzug der Truppen beginnen. Die zivile Hilfe muss ausgebaut und in den kommenden Jahrzehnten fortgesetzt werden. Für die Unterstützung der Afghan/innen beim Aufbau ihres Staates behält Deutschland eine dauerhafte Pflicht.

Nein zum Krieg!

Mit Blick auf Afghanistan und generell kann es für mich nur ein Plädoyer geben: „Nein zum Krieg! Er ist niemals ein unabwendbares Schicksal. Er ist immer eine Niederlage der Menschheit.“ 

Wir wissen aus eigener alltäglicher Erfahrung, wie in Konflikten eskaliert oder Frieden gestiftet wird. Keine Sorge: Diese Herangehensweise ist definitiv alles andere als naiv. Der Träger des Alternativen Nobelpreises 2009, der Neuseeländer Alyn Ware, wird nicht müde, seine Erfahrungen als Kindergärtner(!) ins Feld zu führen und weiterhin mit Schulklassen und Kindergruppen an Konflikten zu arbeiten, wenn er nicht gerade für die Internationale Gruppe der Parlamentarier/innen für nukleare Abrüstung in New York, Berlin oder Moskau ist. Was wir hier tun, wenn wir uns anschauen, warum es beim Streit geht, wenn wir die gegenseitigen Interessen und Bedürfnisse erfragen, gleich wichtig nehmen und daraus eine Lösung und einen Kompromiss entwickeln – so erklärt Alyn Ware Kindern und Jugendlichen – ist genau dasselbe, was die Politiker/innen bei den Vereinten Nationen und in Regierungen auch tun. Es geht um Interessenausgleich statt um Interessendurchsetzung.

Christine Hoffmann, geb. 1961, ist Generalsekretärin von pax christi – Deutsche Sektion.

Anmerkungen:
1 Erklärung des Präsidenten der deutschen Sektion von pax christi vom 19.01.2010 siehe www.paxchristi.de/Erklaerungen
2 Vgl. Christiane Fröhlich, Margret Johannsen, Bruno Schoch, Andreas Heinemann-Grüder, Jochen HIppler (Hg.): Friedensgutachten 2010, Berlin 2010, S. 4
3 Hertz, Anselm, Die Lehre vom „gerechten Krieg“ als ethischer Kompromiss, in: Ders. u.a. (Hgg.), Handbuch der christlichen Ethik, Bd 3, Freiburg/Gütersloh 1982, S. 429; zitiert nach: Henriette Engels: nicht veröffentliche Magisterarbeit an der Universität Bonn „Zur sicherheitspolitischen Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland 1979–1987 – Der Beitrag der katholischen Kirche“, 1990
4 Hertz, S. 430
5 Vgl. Engels, S. 35
6 Diese Bedingung fügte Francisco de Vitoria (1483 oder 1493-1546) hinzu.
7 Vgl. Hertz, S 425 f
8 Vgl. Engels, S. 36
9 „Responsibility to protect“ – Bericht der International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS)
10 vgl: Für eine Zukunft ohne NATO. Erklärung der deutschen Sektion von pax christi zum 60-jährigen Bestehen der NATO; 26.03.2009, Berlin
11 Papst Johannes Paul II. im Jahr 2003 angesichts des drohenden Irak-Krieges

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