Alle Ausgaben / 2010 Artikel von Sophie Anca

Erlöse uns von dem Bösen

Die theologische Gretchenfrage nach der Theodizee

Von Sophie Anca


„Erlöse uns von dem Bösen“, beten ChristInnen jeder Zeit und in aller Welt zu ihrem Gott. Der Wunsch nach dem Guten, die Hoffnung auf Befreiung, auf Heil und Erlösung vereint Menschen über Zeit und Raum hinweg. Was sie trennt, ist die Antwort auf die Frage, was das Böse ist und woher es kommt.

Das Böse hat viele Gesichter. Es macht Angst und fasziniert. In Buch und Film ist das Böse allgegenwärtig. Die Lust am Thriller und am Sonntagabendkrimi verkauft sich blendend. Hier wird uns das Böse nett verpackt und wohl dosiert vor Augen geführt.

Das ungreifbare, unbestimmbare Böse  hingegen wird als Bedrohung empfunden: „Um die Macht des Bösen zu antizipieren, um sie zu beschwören oder rechtzeitig vor ihr zu fliehen, ist es bis heute so, dass Menschen das Böse zu benennen und damit zu begrenzen versuchen.“(1) Ein Blick in die Geschichte lehrt uns, dass meistens das Andere, Fremde und Bedrohliche eine möglichst abschreckende Physiognomie erhielt und mit allem Schlechten und Bösen befrachtet wurde.(2)

Nahe liegen da einfache Dualismen von Gut und Böse. So fand in theologischen Denkmustern und kirchlichen Strukturen immer wieder eine Identifizierung des Bösen mit Frauen, mit dem weiblichen Geschlecht und dem symbolisch Weiblichen statt.(3) Eva mit dem Apfel ist nur eines von vielen Beispielen. Die Feministische Theologie hat herausgearbeitet, „dass diese Projektion des Bösen ein Mittel der Gewalt gegen Frauen darstellte und noch immer ist.“(4)

Der Glaube an das Gute

Das Böse lässt sich aber nicht so einfach identifizieren und begrenzen. Vieles, was Menschen für gut und richtig halten, entpuppt sich erst im Nachhinein oder in der Außenwahrnehmung als böse. Wer Terroranschläge verübt, will ja auch nicht das Böse um seiner selbst willen, sondern wiegt sich in Illusionen des Guten: „Der Glaube an das Gute eint die Guten wie die Bösen“.(5) Der Holocaust hat gezeigt: „Das Böse offenbart sich nicht nur in Untat, Gewalt und Verbrechen, sondern versteckt sich ebenso in bürgerlichen Tugenden (Fleiß, Gewissenhaftigkeit, Gehorsam), in Idealen, Erfolgen und wissenschaftlichen Errungenschaften.“(6) Das Böse ist hochkomplex und unbegreiflich.

Gott und das Böse

Wie aber sind dann Gott und das Böse zusammen zu denken? Wenn die Existenz eines guten, allmächtigen und allwissenden Gottes(7) geglaubt wird, woher kommt dann das Böse? Wie ist das Übel in der Welt mit Gottes guter Schöpfung zu vereinbaren? Schon der griechische Philosoph Epikur (341-270 v. Chr.) stellt sich diese Frage: „Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, dann ist er missgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl missgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein sich von Gott geziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?“(8) Im Lauf der Geschichte sind immer wieder Versuche unternommen worden, diese Frage zu beantworten: Si deus, unde malum? 

In der Neuzeit wird der Begriff der Theodizee(9) von Leibniz geprägt. Während die Reformatoren nach der Rechtfertigung der Menschen gefragt haben, fragt Leibniz nach der Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt.(10) Leibniz unterstreicht, dass unsere Welt die Beste aller möglichen Welten sei und Gott keine bessere Welt gekannt, gekonnt und gewollt habe, da dies seiner Allwissenheit, Allmächtigkeit und Allgüte widersprochen hätte. Wenn „das geringste Übel (…) fehlte, dann wäre es nicht diese Welt“, und stattdessen wäre wahrscheinlich ein größeres Übel gekommen. Faktisch versucht Leibniz, mit Hilfe der Vernunft den traditionellen Gottesbegriff zu rechtfertigen. Indem er die Allmacht und Güte Gottes ungefragt voraussetzt, stellt er nämlich keine echte Theodizeefrage, sondern sucht eigentlich nach einer Erklärung für die Menschen.

Das Erdbeben von Lissabon 1755 lässt diese vernünftige optimistische Weltsicht zerbrechen. Im Anschluss daran versucht Kant zu belegen, dass der Mensch das Verhältnis Gott – Welt nicht mithilfe der theoretischen Vernunft einsehen kann.(11) Die These von Leibniz, dass unsere Welt „die Beste aller Welten“ sei, bestreitet er, da man für so eine Aussage selber allwissend sein müsse. Für Kant ist Theodizee eine reine Glaubenssache und nicht Sache der Wissenschaft.

Eine entscheidende Neubelebung erfährt die Theodizeefrage im 20. Jahrhundert. Die Katastrophe des Holocaust hat etwa den Juden Hans Jonas dazu bewogen, der Frage nach Gottes Allmacht und seiner Liebe nachzugehen.(12) Wieso konnte Gott so ein Leiden und die Vernichtung so vieler Juden zulassen, wenn er doch allmächtig ist und das Gute will? Für Jonas hat Gott in Ausschwitz nicht deshalb nicht eingegriffen, weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte. Gott hat sich am Anfang selber beschränkt, seiner Macht entsagt, um Raum für die Existenz der Welt und deren Autonomie zu ermöglichen. Gott wird verstanden als ein werdender, leidender Gott, der sich ganz der Welt überantwortet hat. Problematisch an diesem Ansatz ist, dass Jonas an Gottes „Verstehbarkeit“ festhalten will und eine Erlösung daher nur noch von den Menschen ausgehen kann. Die Menschen haben nach Jonas die Verantwortung und die Freiheit, Gott und die Welt zu retten.

Eine atheistische Konsequenz aus der Theodizeefrage zieht Dorothee Sölle.(13) Sie entwickelt eine Theologie „nach dem Tode“ des allmächtigen Schöpfer- und Vorsehungsgottes. Sölle formuliert die göttlichen Wesensmerkmale neu. Wenn Gott Liebe ist, kann er nicht allmächtig sein. Die Leiden und Schreie der Unterdrückten lassen ihn nicht kalt, sondern machen ihn zu einem leidenden, einem mitleidenden Gott. Folgerichtig kann Gott nur durch die Menschen wirken. Für viele stellt sich hier allerdings die Frage, was wir mit einer Gottheit anfangen sollen, die ihrer Macht und Transzendenz beraubt ist.

Alle hier angesprochenen Denkansätze verbindet, dass die Allmacht, die Allgüte und die Allwissenheit Gottes mit dem Bösen kaum zusammengedacht werden können. Meistens wird daher eines der göttlichen Attribute relativiert, oder die Theodizeefrage bleibt unbeantwortet.

Überwunden in Jesus Christus

So wenig, wie das Böse aus Gott hergeleitet werden kann, so wenig kann es einfach den Menschen zugeschrieben werden. Die Frage, woher das Böse kommt, kann letztlich wohl nie befriedigend beantwortet werden.
Aber in der biblischen Überlieferung ist uns der Wille Gottes offenbart. In Jesus Christus hat Gott sich der Welt zugewendet. Aus christlicher Perspektive „ist das Böse konfrontiert mit dem trinitarisch Göttlichen, wie er/sie sich – neutestamentlich überliefert – in ‚Christos Jesus' präsentiert hat. Das heißt mit seinem Leben, in dem er sich dem Bösen widersetzt und, statt sich in Böses verstricken zu lassen und Böses zu tun, liebt, mit seinem Leiden und Sterben an der Gewalt des Bösen, sowie mit seiner Auferweckung, die zeigt, dass Gott in ihm die gewalttätige und tötende Macht des Bösen überwunden hat.“(14)

In Jesus Christus erhält das Böse eine Grenze und wird letztlich überwunden. In ihm wird uns verheißen, dass das Böse, das Leiden, Schmerzen, Tod und Tränen ein Ende haben werden.(15) Die Hoffnung auf die noch ausstehende Vollendung bedeutet Zweierlei(16): Zum einen bleibt die realistische Einsicht, dass wir den Himmel auf Erden nicht herstellen können. Zum anderen müssen wir erkennen, wo unsere Gegenwart noch durch das bereits überwundene Böse bestimmt wird und wo in ihr bereits Gottes Zukunft wirksam wird: „Solidarität mit den Leidenden und Widerstand gegen das Böse sind Ausdruck für das Gottesreich, das mit Jesus begonnen hat und auf dessen Vollendung durch Gott die Glaubenden warten.“(17)

Die Vater-Unser-Bitte um Erlösung von dem Bösen ist der Höhepunkt der Bitte um das Kommen des Reiches Gottes. Und so beten Christinnen weltweit verzweifelt, klagend, hoffend: „Erlöse uns von dem Bösen.“

Für die Arbeit in der Gruppe


Ziel
Die Teilnehmerinnen sollen sich mit ihren eigenen Vorstellungen vom Bösen und mit dem theologischen Problem des Verhältnisses von Gott und dem Bösen auseinandersetzen.

Ablauf
Hinführung
Anknüpfend an die Jahreslosung 2011 lädt die Leiterin dazu ein, sich mit dem Thema „das Böse / Gott und das Böse“ auseinanderzusetzen.

Das Böse
Im Plenum oder in Murmelgruppen tragen die Teilnehmerinnen zusammen, in welchen Erscheinungsformen „das Böse“ begegnet (Krankheit, Krieg, Mord, Erdbeben, Tod, Gewalt …). Die Begriffe werden auf A-6-Kärtchen geschrieben und in die Mitte gelegt.

Die Leiterin legt zwei größere Papierstreifen in die Mitte; auf dem einen steht „natürliche Übel“, auf dem anderen „von Menschen gemachte Übel“. Die Kärtchen werden dazu sortiert.

Gott und das Böse
Lied: EG 398, 2. Strophe

Impuls: „Wenn wir dich haben, kann uns nicht schaden Teufel, Welt, Sünd und Tod…“ – Stimmt das wirklich? Welche Fragen, Gedanken haben wir, wenn wir angesichts des Bösen an Gott denken?
In Murmelgruppen oder Plenum Fragen / Gedanken entwickeln. Diese auf andersfarbige Kärtchen schreiben und neben die gesammelten Erscheinungsformen des Bösen legen.

Kopie des Abschnitts „Gott und das Böse“ gemeinsam lesen; Kopiervorlage für AbonnentInnen unter www.ahzw.de/Service zum Herunterladen vorbereitet

Impuls: Wo ist Gott angesichts des Leids? In seinem Buch „Die Nacht zu begraben, Elischa“ erzählt Elie Wiesel vom Tod eines kleinen Jungen im KZ Auschwitz, der vor den Augen der anderen Häftlinge aufgehängt wird:
Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Und wir mußten ihm ins Gesicht sehen. Er lebte noch, als ich an ihm vorüberschritt, seine Zunge war rot, seine Augen noch nicht erloschen. Hinter mir hörte ich einen Mann fragen: „Wo ist Gott?“ Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: „Wo ist er? Dort – dort hängt er am Galgen …“

Gespräch über den Gedanken, dass Gott ein mitleidender Gott ist. – Dann Impuls: Wie können wir beten, obwohl Gott sich am Kreuz „schwach“ gezeigt hat? Evtl. dazu den Abschnitt „Überwunden in Jesus Christus“ vorlesen.

Abschluss:
Ich glaube,
dass Gott aus allem,
auch aus dem Bösesten,
Gutes entstehen lassen kann und will.
Dafür braucht er Menschen,
die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.

Ich glaube,
dass Gott uns in jeder Notlage
soviel Widerstandskraft geben will,
wie wir brauchen. …

Ich glaube,
dass Gott … auf aufrichtige Gebete
und verantwortliche Taten wartet
und antwortet.
Dietrich Bonhoeffer

Lied: Jesu, meine Freude (EG 396, 2+3) oder: Da ist ein Sehnen tief in uns

Sophie Anca, 37 Jahre, ist Pfarrerin z.A. und arbeitet zurzeit als Referentin für Theologie und Ökumene der EFiD.

Anmerkungen:
1 Angela Berlis: Historische Konstruktionen der Bösen, in: Helga Kuhlmann, Stefanie Schäfer-Bossert (Hg.). Hat das Böse ein Geschlecht? Stuttgart (Kohlhammer) 2006, S. 142f.
2 Vgl. ebd.
3 Helga Kuhlmann/Stefanie Schäfer-Bossert: Hat das Böse kein Geschlecht?, in: Siehe Anm.1, S. 8
4 Vgl. ebd.
5 Vgl. Martin Seel, Diesseits von Gut und Böse, zit. n.: Michael Bünker, Auslegung der Jahreslosung 2011, Vortrag auf der ÖAB Jahrestagung Wien, Februar 2010.
6 Christian Link: Das Rätsel des Bösen. Die Frage nach Auschwitz,  zit. n.: Michael Bünker, siehe Anm. 5.
7
Vgl. z.B. Psalm 25,8: „Gütig und gerecht ist Adonaj. Deshalb belehrt Gott die, die gesündigt haben über den Weg.“ Und in  Matthäus 28,18 sagt Jesus: „Gott hat mir alle Macht im Himmel und auf der Erde gegeben.“
8 Fr 374, überliefert bei Lactantius, De ira dei 13,19.
9 altgriech. theós „Gott“ und díke „Gerechtigkeit“ heißt „Rechtfertigung Gottes“
10 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Theodizee, in Walter Sparn, Leiden- Erfahrung und  Denken, München 1980, S. 27 – 39.
11 Vgl. Immanuel Kant, Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, in: W. Weischedel (Hg.): I. Kant. Werke in Zehn Bänden, Bd 9: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Erster Teil, Darmstadt 1975 (4), S. 105 – 124.
12 Vgl. Hans Jonas: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Suhrkamp 1984
13 Vgl. Dorothee Sölle: Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem „Tode Gottes“, Berlin 1965, S. 199ff.
14 Helga Kuhlmann, Dualismen im Verhältnis von Gott und dem Bösen – eine gendertheologische Frage?, in: Kuhlmann/Schäfer-Bossert (siehe  Anm. 1), S. 33f.
15 Vgl. Offenbarung 21.
16 Vgl.: Michael Bünker, siehe Anm. 5.
17 Ders., ebd.

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