Ausgabe 1 / 2023 Artikel von Dagmar Althausen, Margot Papenheim und Elisabeth Raiser

Erst mal zuhören

Ein Leitfaden zur Annäherung an schwierige Themen

Von Dagmar Althausen, Margot Papenheim und Elisabeth Raiser

Waffen für die Ukraine? Coronamaßnahmen beenden? Israel-Palästina, Gender, Geflüchtete, Transsexuellengesetz, Rassismus und so weiter. Wo bestimmte Reizwörter fallen, gehen die Wogen schnell ganz hoch. Da krachen Meinungen und Positionen ungebremst aufeinander. Da werden bald keine Argumente mehr ausgetauscht, da kochen nur noch Empörung und gegenseitige Verachtung und Verdächtigungen über. Auch, aber nicht nur in den Kommentarspalten des Internets. Auch in Deutschland, und leider auch in den Kirchen, ist bei vielen Themen kaum noch ein Gespräch darüber möglich, das nicht in kürzester Zeit eskaliert. Wenn denn überhaupt noch miteinander gesprochen wird.

Nun sind gegensätzliche Meinungen zu wichtigen politischen und gesellschaftlichen Fragen und die Diskussion und ja, auch der heftige Streit um die richtigen Antworten nichts „Schlimmes“. Sie sind Grundlage einer funktionierenden Demokratie. Und ohne das bisweilen zähe Ringen um die Positionen ging und geht es auch in den Kirchen nicht. Aber: Wie können wir uns – wieder – so auseinandersetzen, dass das Gespräch nicht aufhört? Oder, wenn es schon passiert ist, wieder aufgenommen werden kann?

Wir haben es selbst ausprobiert und dabei festgestellt: Es kann sehr helfen, wenn wir nicht damit anfangen, uns an einer gemeinsamen Positionierung zu versuchen – oder eben der Feststellung, dass wir unterschiedlicher Meinung bleiben.

Erzählen wir einander doch zunächst einmal davon, wann und wie wir mit dem Thema eigentlich zum ersten Mal in Berührung gekommen sind. Üben wir uns bewusst darin, einander zuzuhören. Intensiv zuzuhören, ohne bereits in der Tasche die Faust zu ballen. Ohne im Kopf schon die Gegenargumente zu sortieren, während die oder der andere redet. Denn: Zu verstehen, was uns selbst und die andere oder den anderen bei diesem Thema im Tiefsten beschäftigt und zum Engagement motiviert, ersetzt nicht den Austausch von sachlichen Argumenten. Aber es bereitet den Boden dafür, sich – bei Bedarf auch hart – inhaltlich auseinanderzusetzen. So an ein konfliktträchtiges Thema heranzugehen, hat Potenzial.1

Leitfaden für Moderator*innen

I Voraussetzungen schaffen

Wenn möglich, sollten die Gespräche in Präsenz stattfinden. Voraussetzung dafür ist ein genügend großer Raum an einem Ort, an dem auch Kleingruppen (mit zwei bis maximal vier Teilnehmer*innen) circa anderthalb Stunden lang ungestört arbeiten können.

Grundsätzlich ist das Gespräch auch online möglich, wenn alle TN über ein geeignetes Endgerät und Internetzugang verfügen. Zudem muss die oder der Moderator*in (oder ein Mitglied der Gruppe) einen stabilen virtuellen Konferenzraum zur Verfügung stellen und für die Kleingruppen verschiedene Konferenzräume (breakout sessions) organisieren können.

II Veranstaltung durchführen

1. Laden Sie die TN in der für Sie gewohnten Form ein. Machen Sie in der Einladung deutlich, dass es bei diesem Treffen um einen persönlichen Austausch zum Thema xy gehen wird – nicht um eine Informations- und Diskussionsveranstaltung.
2. Begrüßen Sie die TN, ggf. verbunden mit einer kurzen Vorstellungsrunde.
3. Führen Sie kurz in das Treffen ein und weisen Sie darauf hin, dass die folgenden Gespräche vertraulich sind.
4. Laden Sie jetzt die TN ein, sich Zeit zu nehmen zum Nachdenken und Erzählen: Wie bin ich persönlich eigentlich zuerst mit Thema xy in Berührung gekommen? Was hat mein Interesse daran geweckt? Welche persönlichen Erfahrungen haben meine Gefühle, Gedanken und Sichtweisen geprägt?
5. Erläutern Sie kurz die Regeln, die für dieses Gespräch gelten (siehe unten „Für Ihr Gespräch in der Kleingruppe“) und verteilen Sie die Kopien.
6. Bilden Sie Kleingruppen von zwei bis maximal vier TN und weisen ihnen die Räume zu. Weisen Sie darauf hin, wieviel Zeit für die Kleingruppen zur Verfügung steht.
7. Im anschließenden Plenum bitten Sie die TN um eine kurze gemeinsame Reflexionsrunde zu den Fragen: 1. Mit welchem Gefühl bin ich aus dem Gespräch in meiner Kleingruppe hierhin zurückgekommen? 2. Kann ich mir im Moment vorstellen, dass sich aufgrund unseres Gesprächs etwas an meiner bisherigen Sicht auf das Thema xy verändert? 3. Welchen Gedanken nehme ich heute mit nach Hause?
8. Klären Sie mit Ihrer Gruppe: Wollen wir (in einem weiteren Treffen!) am Thema xy inhaltlich weiterarbeiten? Welche konkreten Fragen würden wir dann gerne besprechen? Was brauchen wir dafür: Literatur? Eine Referentin? Wer würde bei der Vorbereitung mitmachen?
9. Beenden Sie das Treffen in der bei Ihnen üblichen Form.

Für Ihr Gespräch in der Kleingruppe

Einigen Sie sich auf eine Person dieser Kleingruppe, die auf die Zeit achtet und darauf, dass alle sich an die vereinbarten Regeln halten.
Nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit, um in Stille nachzudenken und für sich einige Stichworte zu den Fragen zu notieren:
– Wo und wie bin ich persönlich zum ersten Mal mit Thema xy in Berührung gekommen?
– Was hat mein Interesse daran geweckt und wachgehalten?
– Welche persönlichen Erfahrungen haben meine Gefühle, Gedanken und Sichtweisen geprägt?

Erzählen Sie anhand Ihrer Stichworte – reihum oder in beliebiger Reihenfolge; jede*r hat dafür etwa 10, maximal 15 Minuten Zeit.

Für jede*n gelten dabei ?folgende Gesprächsregeln:

– Dieses Gespräch ist vertraulich. Das heißt: Jede*r von Ihnen verpflichtet sich dazu, die Erzählungen der anderen Teilnehmer*innen nicht weiterzuerzählen – es sei denn, einzelne stimmen dem ausdrücklich zu.
– Während des Berichts eines Teilnehmers oder einer Teilnehmerin wird diese*r von den anderen nicht unterbrochen.
– Nach jedem Bericht gibt es maximal 15 Minuten Zeit für Reaktionen aus der Gruppe. Zunächst können eventuelle Verständnisfragen geklärt werden.

Danach gibt es Rückmeldungen:

Kommentare und gegebenenfalls Mitteilungen über ähnliche Erlebnisse oder Erfahrungen wie die der Person, die gerade erzählt hat. ALLE Rückmeldungen werden mit Respekt vor der Erzählerin oder dem Erzähler und ihren bzw. seinen Erfahrungen geäußert, auch wenn sie den eigenen Erfahrungen widersprechen. Das heißt: Die Gruppe urteilt nicht über das Gehörte. Es wird weder Lob noch Verwunderung, weder Tadel noch Kritik geäußert. Jeder Bericht hat seinen eigenen Wert und ist Eigentum der Erzählerin oder des Erzählers.

Wenn alle zu Wort gekommen sind, beenden Sie Ihre Kleingruppe mit einer kurzen Auswertung:
Wie habe ich die Gesprächsatmosphäre empfunden?
War dieses Gespräch für mich sinnvoll?

Anmerkungen
1) Den – hier in verallgemeinerter Form vorgestellten – Leitfaden „Über Israel-Palästina sprechen lernen“ haben die Autorinnen zur Vorbereitung auf den WGT 2024 im Ökumenischen Forum Christlicher Frauen in Europa entwickelt. Er wird im Original vom ÖFCFE herausgegeben; Download unter https://www.oekumeneforum.de/material/#news_35438

Dagmar Althausen ist ev. Theologin und Pfarrerin der Ev. Kirchengemeinde Rosenthal-Wilhelmsruh in Berlin. Zuvor war sie Leitende Pfarrerin der Ev. Frauenhilfe in Deutschland, ehrenamtlich engagiert sie sich als Vorsitzende der Frauen* in der EKBO.

Margot Papenheim ist katholische Theologin und Redakteurin der leicht & SINN.

Dr. Elisabeth Raiser ist Historikerin und Linguistin. Sie war Mitglied im Vorstand des Präsidiums des DEKT, 2003 evangelische Präsidentin des ersten Ökumenischen Kirchentags in Berlin und 2010-2015 Vorsitzende der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste.

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