Alle Ausgaben / 2008 Material von Astrid Lindgren

Es begann in Kristins Küche

Von Astrid Lindgren

Es begann in Kristins Küche, als ich ungefähr fünf Jahre alt war. Bis dahin war ich ein kleines Tier gewesen, das mit Augen, Ohren und allen Sinnen nur das in sich eingesogen hatte, was Natur war. Dass es auch Kultur gab, erfuhr ich erst, als ich auf Kinderbeinen in Kristins Küche stiefelte, wo mich überraschend ein Hauch davon streifte.

Kristin war mit unserem Kuhknecht verheiratet, und was wichtiger war, sie war Edits Mama. Diese Edit – gesegnet sei sie jetzt und allezeit – las mir das Märchen vom Riesen Bam-Bam und der Fee Viribunda vor und versetzte meine Kinderseele dadurch in Schwingungen, die bis heute noch nicht ganz abgeklungen sind. In einer seit langem verschwundenen, armseligen kleinen Häuslerküche geschah dieses Wunder, und seit jenem Tage gibt es für mich in der Welt keine andere Küche. Lese ich von einer Küche oder schreibe ich selbst etwas, das sich in einer Küche ereignet, so spielt sich dies ewig und unveränderlich bei Kristin ab … dort steht die Küchenbank, dort der Tisch, dort der eiserne Herd, und dort ist die Tür zur Stube.

Ja, gesegnet sei Kristins Küche und gesegnet sei Edit! Sie las mir auch weiterhin ab und zu etwas vor. Die Bücher kann sie sich nur in der Schule geliehen haben, denn zu damaliger Zeit hatten Häuslerkinder keine Bücher. Auch Bauernkinder nicht, zumindest ich nicht. Allmählich lernte ich selber lesen und ging auf die Jagd, um meinen wilden Lesehunger zu stillen. …

Die Zeit für unbegrenztes Lesen zu finden war freilich schwierig. Selbstverständliches Gebot war, dass man zu Hause half. Oft setzte ich mich an die Wiege, wo ich  meiner jüngsten Schwester etwas vorsingen musste, weil sie sonst nicht einschlafen wollte, und hatte ich gerade ein spannendes Buch erwischt, war das eine harte Prüfung. Aber ich wusste mir zu helfen. Ich sang ihr aus dem Buch vor, Seite auf und Seite ab. Natürlich dauerte es länger als sonst, aber es ging.

Dass ich selbst mit der Zeit Kinderbuchautorin geworden bin, liegt einzig und allein am Wetter. Hätte es an einem bestimmten Märztag 1944 in Stockholm nicht geschneit, wäre es nie dazu gekommen. Schon in meiner Schulzeit erhoben sich warnende Stimmen: „Du wirst mal Schriftstellerin, wenn du groß bist.“ Und – spöttischer – „Du wirst mal Vimmerbys Selma Lagerlöf.“
Das entsetzte mich derart, dass ich einen förmlichen Beschluss fasste: Niemals würde ich ein Buch schreiben! Diesem meinem Vorsatz bin ich bis zum März 1944 auch treu geblieben. Doch dann kam dieser Schnee, der die Straßen glitschig wie Schmierseife machte. Ich fiel hin, verstauchte mir den Fuß, musste liegen und hatte nichts zu tun. Was tut man da? Schreibt vielleicht ein Buch? Ich schrieb Pippi Langstrumpf.
1944 wurde sie gedruckt, einerseits abgelehnt, andererseits preisgekrönt, jedenfalls lag sie plötzlich in den Buchhandlungen. Manche hielten sie für „etwas Unbehagliches, das an der Seele kratzt“, andere schlossen sie seltsamerweise ins Herz. Die Kinder taten es, und für sie hatte ich ja geschrieben. Oder, richtiger gesagt, für das Kind in mir, das noch immer nach Büchern hungert. Dieses Kind  entdeckte mit Jubel – ja du liebe Zeit! -, Bücherschreiben macht ja genauso viel Spaß wie sie lesen! Und deshalb schreibe ich Kinderbücher. Alles ist nur eine Fortsetzung dessen, was einst in Kristins Küche begann.


Astrid Lindgren
aus:
Das entschwundene Land
Deutsch von  Anna-Liese Kornitzky
(c) Verlag Friedrich Oetinger
Hamburg 1977

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