Alle Ausgaben / 2012 Andacht von Hildegund Niebch

Es blieb nicht lange gemütlich im Stall

Weihnachtliche Andacht zu Matthäus 2,13-15

Von Hildegund Niebch


Eines haben Thomas Mann, Jesus von Nazareth und seine Eltern, Neda Soltani aus dem Iran, Bertolt Brecht, Melina K. aus Somalia, Hilde Domin, die zeitweise in der Dominikanischen Republik lebte, und Frau Müller gemeinsam: Sie alle sind Flüchtlinge.

Diese Geschichte hat die alte, fast 90-jährige Frau Müller1) schon öfter erzählt: Es war im bitterkalten Januar 1945, als ihr die junge Frau das tote Kind in den Arm legte. Frau Müller war selbst gerade 22 Jahre geworden und hielt sich damals zur Ausbildung im sogenannten Warthegau – heute Polen – auf. Auf Befehl des Gauleiters, der sich schon davon gemacht hatte, sollte Frau Müller in der Nacht zum 20. Januar 1945 mithelfen, die letzten Deutschen aus Kosten – heute Koscian, circa 45 kam südlich von Poznan, dem damaligen Posen – zu evakuieren. Der Geschützdonner der russischen Front war schon zu hören. Auf den Straßen spielten sich in völliger Dunkelheit schreckliche Szenen ab. Von den voll beladenen Wagen der großen Trecks aus dem Osten musste Gepäck abgeladen und Menschen aus der Kleinstadt Kosten mussten aufgeladen werden. Die verzweifelte Traurigkeit der Mutter, die ihr das erfrorene Kind anvertraute, hat sie bis heute nicht vergessen. Am nächsten Tag war die Front schon an Kosten vorbeigerückt. Frau Müller hat nur deshalb überlebt, weil ein polnischer Feuerwehrmann sie und drei andere junge Frauen auf abenteuerlichen Wegen durch den Wald bis an die deutsche Grenze gebracht hat. Bis heute bedauert sie, dass sie weder Name noch Adresse dieses „Engels“ weiß. Sie hätte sich gerne bei ihrem Lebensretter bedankt.

Im August 2009 besteigt Meline K. zusammen mit ihrem Mann und 80 weiteren Flüchtlingen aus Somalia ein Boot in Libyen. Meline ist schwanger. Dennoch wagt sie die gefährliche Fahrt übers Mittelmeer, um in Europa Schutz vor dem seit 20 Jahren tobenden Bürgerkrieg zu finden. Doch statt der versprochenen acht Stunden irrt das Boot fünf Tage und Nächte auf dem Mittelmeer umher. Die Vorräte reichen nur für zwei Tage. Als sie schließlich Malta erreichen, sind sie fast verdurstet. In Malta kommen Meline und ihr Mann ins Gefängnis. Ihre Schwangerschaft wird übersehen, sie erleidet eine Fehlgeburt. Sie blutet stark, tagelang. Über Umwege gelingt es ihnen schließlich nach Deutschland zu kommen. Hier beantragen die beiden Asyl und erhalten Schutz.2)

Psalm 69
Der Psalm (VV 2-4.14-19a.30b) ist hier in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache vorgeschlagen. Natürlich kann auch die Lutherübersetzung (EG 732) genommen werden. Beide Fassungen sind für AbonnentInnen als Kopiervorlage unter www.ahzw-online.de / Service zum Herunterladen vorbereitet.

Gebet in zwei Gruppen:
Befreie mich, Gott!
Wasser sind gestiegen – bis an meine Kehle.
Ich bin versunken im Schlamm des Abgrunds, es gibt kein Halten.
Ich bin in Wassertiefen geraten, die Flut reißt mich fort.
Müde bin ich von meinem Rufen, mein Hals ist heiser.
Matt sind meine Augen geworden beim Warten auf meine Gottheit.
Ich aber – mein Gebet geht zu dir, Lebendige, zur rechten Zeit.
Gott, in deiner großen Güte
antworte mir mit der Zuverlässigkeit deiner Befreiung.
Reiß mich aus dem Morast heraus, dass ich nicht versinke,
dass ich gerettet werde vor denen, die mich hassen – und aus Wassertiefen.
Dass mich die Wasserflut nicht fortreißt,
der Abgrund mich nicht verschlingt,
der Brunnen seinen Mund nicht über mir verschließt.
Antworte mir, Lebendige! Wie gut ist deine Freundlichkeit!
Weil dein Erbarmen groß ist, wende mir dein Angesicht zu!
Verbirg dein Angesicht nicht vor mir. Ich gehöre zu dir.
Mir ist angst. Schnell, antworte mir.
Sei mir nahe, mach meine Kehle frei!
Deine Befreiung, Gott, gebe mir -Sicherheit.

Flucht und Vertreibung sind -Menschenerfahrungen – schon immer.

Bildbetrachtung:
Ein Bild der Installation „ZusammenBruch“ (ohne die Bildunterschrift; s. S. 30) wird in die Mitte gelegt, allen ausgeteilt oder per Beamer für alle sichtbar gemacht. (Kopiervorlage für AbonnentInnen unter www.ahzw-online.de / Service zum Herunterladen) – Assoziationen sammeln, eigene oder gehörte Lebensgeschichten von Flucht und Vertreibung miteinander teilen. Einen weiteren Impuls kann die Leiterin durch Vorlesen der Bildunterschrift geben.

Wie wird es Maria gegangen sein, als Josef ihr sagte, sie solle packen, sie müssten nach Ägypten fliehen? Eben noch hatten die „Weisen aus dem Morgenland“ dem neugeborenen Jesus – überwältigt von Freude – ihre Geschenke gebracht und waren vor ihm niedergekniet. Und dann dies:

„Kaum waren sie aufgebrochen, seht, da erscheint Adonajs Engel dem Josef im Traum und sagt: ‚Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter, flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir etwas anderes sage. Denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten.' Da stand Josef auf, nahm noch in der Nacht das Kind und dessen Mutter, und sie flohen nach Ägypten. Dort blieben sie bis zum Tod des Herodes, damit sich erfüllte, was Adonaj durch den Propheten gesagt hat: Aus Ägypten habe ich mein Kind gerufen.“
Mt 2,13-15, Bibel in gerechter Sprache

Maria – sicher war sie voller Angst und Zweifel: Wie soll das gehen? Das Kind ist doch gerade erst geboren und dann eine so beschwerliche Reise? Nach Ägypten? Da kennen wir doch niemanden. Wer wird uns helfen?

Vielleicht hat sie sich auch an die vielen alten Geschichten erinnert, die im Familienkreis erzählt wurden: von Abraham und Sarah, von Josef, den seine Brüder nach Ägypten verkauft hatten, von dessen altem Vater Jakob, der ihn, Josef, schließlich dort wiedertraf. Sie alle fanden Aufnahme in Ägypten. Und ganz sicher hat Maria die Verheißungen gekannt, an die sich die nach Ägypten Flüchtenden immer gehalten hatten:

„Gott sprach zu Jakob: ‚Ich bin Gott, der Gott deines Vaters; fürchte dich nicht, nach Ägypten hinab zu ziehen; dann daselbst will ich dich zum großen Volk machen. Ich will mit dir hinab nach Ägypten ziehen und will dich auch wieder hinaufführen …'“
1.Mose/Gen 46,3 und 4

Ob das Maria Trost genug war, um sich auf die Reise zu machen? Oder hat sie Josef für verrückt erklärt? Vielleicht hat sie ihn zur Rede gestellt: „Mit wem hast Du gesprochen? Wer hat dir diesen Floh ins Ohr gesetzt, dass wir fliehen sollen? Ein Engel?“

So war es immer. Das Alte und das Neue Testament sind voll von diesen Gottgesandten. Sie sind Fremde, Ratgeber, Wegweiser. Kann man ihnen trauen? Josef tut es. Er verlässt sich auf die Worte des Engels, um sein Kind zu schützen. Und er tut gut daran. So wie auch Frau Müller, die dem polnischen Feuerwehrmann getraut hat, obwohl er doch in den damaligen Kategorien ihr Feind war. Sie hat sich darauf verlassen, dass er sie und die anderen in Sicherheit bringt.

An den Wegkreuzungen des Lebens, an den Schnittstellen von Zusammenbruch und Neuanfang sind es oft andere – Engel – die Auswege weisen, die durchtragen.

So muss es auch für Neda Soltani gewesen sein. Die Professorin für Anglistik verlässt im August 2009 den Iran, wo sie ihres Lebens nicht mehr sicher ist. Freunde verhelfen ihr zur Flucht. Über Griechenland gelangt sie schließlich nach Gießen in Hessen und beantragt im dortigen Flüchtlingslager Asyl. Hier trifft sie auf Katja, eine Mitarbeiterin der Evangelischen Kirche, die ihr beratend zur Seite steht und ihr einen Rechtsanwalt vermittelt. Über Katja lernt sie auch Caroline Schmidt kennen, eine ältere Dame, die sich ehrenamtlich dort engagiert und sie oft zu sich nach Hause einlädt, sie ermuntert, nicht aufzugeben.3)

Je größer die Not, desto mehr müssen wir uns offensichtlich auf andere verlassen. Aus vielem kommen wir alleine nicht heraus.

Vertiefung:
Zum Bild der Installation „ZusammenBruch“ wird eine Rose gestellt.
Impulsfragen: Wo und wann habe ich mich an Wegkreuzungen meines Lebens anvertraut und verlassen? Wer war es, der oder die mich durchgetragen hat? Die mir Mut gemacht, der mir den Rücken gestärkt hat? – Zeit, um in Stille darüber nachzudenken; anschließend eventuell Erfahrungen des Vertrauens miteinander teilen.

Josef und Maria verlassen sich auf die Worte des Engels. Und sie tun gut daran, denn Herodes fürchtet Machtverlust und Konkurrenz. Deshalb will er sicher gehen, dass dieser Jesus nicht überlebt. Und so ordnet er an, alle kleinen Kinder in Bethlehem und Umgebung zu töten. Er hat die Macht – und die zeigt er auch.
(Mt 2,16-18)

Weil sich Josef und Maria auf den Engel verlassen, wird Jesus geschont. Vorerst. Aber Elend, Krieg und Leid bleiben in der Welt. Andere Familien kommen nicht so glimpflich davon. Etwa die 54 Flüchtlinge, deren Tod im Mittelmeer der Jesuiten-Flüchtlingsdienst in einer Pressemitteilung vom 11. Juli 2012 beklagt und bessere Such- und Bergungssysteme fordert. Die Jesuiten schreiben: „Die Opfer kamen auf dem Weg von Libyen nach Italien ums Leben. Wie das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) berichtete, habe der einzige Überlebende der Tragödie, ein Mann aus Eritrea, gesagt, alle übrigen Insassen des Boots seien während der 15-tägigen Reise qualvoll verdurstet. Das Boot verließ Tripolis Ende Juni und erreichte einen Tag später Italien. Durch starke Winde wurde es aber gezwungen, auf die hohe See zurückzukehren. Kurz danach erlitt das Schlauchboot einen Schaden und begann Luft zu verlieren. Der Mann wurde später auf den Überresten des Boots treibend gefunden. Mehr als die Hälfte der Toten waren Eritreer.“

Jesus wird verschont – vorerst. Um es mit dem Schweizer Pfarrer und Schriftsteller Kurt Marti, zu sagen:
„Nicht Ägypten ist der Fluchtpunkt der Flucht.
Das Kind wird gerettet für härtere Tage.
Fluchtpunkt der Flucht ist das Kreuz.“

Jesus überlebt die Flucht und verlässt Ägypten wieder, nachdem Herodes gestorben ist (Mt 2,19-23). Und wieder ist es ein Engel, der die junge Familie ermuntert, das Exil hinter sich zu lassen und heimzukehren. Und sie setzen sich in Bewegung – nur auf ein Wort hin gehen sie los.

Genau dieser Jesus, mit der Fluchterfahrung im Gepäck und im Familiengedächtnis, wird bei Matthäus derjenige sein, der sich mit den Fremden und Flüchtlingen solidarisiert: „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“ (Mt 25,35) Und er ist derjenige, der die tiefste Verlassenheit und Einsamkeit selbst erfahren hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mt 27,46) Da war kein Engel mehr, niemand, der ihn gestärkt hätte. Da stand ihm das Wasser bis zum Hals – so wie den Flüchtlingen auf dem Boot im Mittelmeer. So wie den Beterinnen und Betern des Eingangspsalms:

Reiß mich aus dem Morast heraus,
dass ich nicht versinke,
dass ich gerettet werde vor denen, die mich hassen – und aus Wassertiefen.
Dass mich die Wasserflut nicht fortreißt,
der Abgrund mich nicht verschlingt,
der Brunnen seinen Mund nicht über mir verschließt.

Können wir an diesen Gott glauben, der sich uns in Jesus so ohnmächtig am Kreuz zeigt? Wünschten wir uns ihn nicht oft, dass er eine Schneise durchs Mittelmeer schlüge – so wie damals beim Roten Meer – und alle Flüchtlinge trockenen Fußes in Sicherheit ankämen? Hätten wir nicht lieber den Helden als das Kind in der Krippe, danach auf der Flucht und später elend am Kreuz?

Weihnachten fordert uns heraus, die Allmacht und Ohnmacht Gottes zusammenzudenken. In einem Brief hat Dietrich Bonhoeffer das am 16. Juli 1944 so formuliert: „Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt, und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.“ Nicht Mächte und Gewalten sind es, die Gerechtigkeit bringen und unsere Sehnsucht nach Heilwerden stillen. Der geschundene Gott, der zusammengebrochene Jesus helfen uns, das Risiko der Liebe und des Vertrauens zu wagen, die Engel zu sehen, den Fremden zu trauen und das Unrecht zu benennen.

Gebet
Gott, du bist Flüchtling gewesen
in dem kleinen Kind aus der Krippe
auf dem Weg nach Ägypten.
Wir bitten dich für alle,
die auf der Flucht sind vor Verfolgung,
vor Not und Hoffnungslosigkeit.

Gott, du hast dein Volk 40 Jahre
durch die Wüste geführt.
Wir bitten dich für alle,
die in den Wüsten ausgesetzt werden,
die verloren gehen
im Niemandsland zwischen den Grenzen.

Gott, du hast die Väter und Mütter
zum Aufbruch gerufen
in ein neues, gesegnetes Land.
Wir bitten dich für alle,
die den Mut haben
aufzubrechen in ein neues Land,
in dem sie Zukunft finden wollen.

Gott, du herrschest über das ungestüme Meer,
du stillst seine Wellen,
wenn sie sich erheben.
Wir bitten dich für alle,
die hilflos auf den Meeren treiben
und in den Wellen versinken.
Gott, du zerteiltest das Meer
und ließest das Volk hindurchziehen
und stelltest das Wasser fest wie eine Mauer.
Wir bitten dich für alle,
für die Meer voller Mauern ist,
weil wir sie nicht hindurchziehen lassen.

Gott, du hast uns die Flüchtlinge
als unsere Nächsten anbefohlen.
Wir bitten dich für uns alle,
die wir für sie Verantwortung tragen.

Amen4)


Lied
Weil Gott in tiefster Nacht erschienen (EG 56)


Anmerkungen

1 Name geändert
2 Meline Ks Geschichte ist aus: „Flüchtlinge im Labyrinth. Die vergebliche Suche nach Schutz im europäischen Dublin-System“, Mai 2012, Hg.: Diakonisches Werk in Hessen und Nassau, Diakonie Bundesverband, Pro Asyl
3 Neda Soltani hat ihre Flucht- und Rettungsgeschichte in einem Buch veröffentlicht: „Mein gestohlenes Gesicht“, München 2012
4 aus: Kirchenamt der EKD: Kein Raum in der Herberge Europa? Zur Menschenrechtslage an den Außengrenzen der Europäischen Union, Materialheft für einen Gottesdienst zum Tag der Menschenrechte am 10. 12. 2010, Hannover 2010 / Download unter: http://www.ekd.de/download/tag_menschenrechte_2010.pdf


Hildegund Niebch, Jg. 1957, ist Referentin für Flüchtlinge und Migration im Diakonischen Werk in Hessen und Nassau. Die Religionspädagogin und Sozialarbeiterin ist seit über 25 Jahren in der Flüchtlingsarbeit tätig.


Zum Weiterlesen
Sophia Wirsching: Wertegemeinschaft Europa? Bewährungsprobe Flucht und Migration, in: ahzw 1-2012, 56-61 Flüchtlinge im Labyrinth. Die vergebliche Suche nach Schutz im europäischen Dublin-System, Mai 2012, Hg.: Diakonisches Werk in Hessen und Nassau, Diakonie Bundesverband, Pro Asyl – zum Herunterladen: http://www.proasyl.de/fileadmin/proasyl/fm_redakteure/Broschueren_pdf/Broschuere_Dublin_April_2012_WEB.pdf

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