Ausgabe 2 / 2017 Artikel von Antje Röckemann

Es geht ums Anteilnehmen

Alltagsgespräche über Religion sind noch keine interreligiösen Dialoge

Von Antje Röckemann

Als ich vor vielen Jahren als Pfarrerin nach Gelsenkirchen kam, habe ich mich auf eine internationale Stadt gefreut. Schon auf den ersten Blick war auch deutlich, dass viele Mus­liminnen dort leben – ins Ruhrgebiet kamen ja schon vor Jahrzehnten Arbeiter_innen aus muslimisch ge­präg­ten Ländern wie Tunesien, Marokko, Türkei. Ich freute mich darauf, Veranstaltungen im interreligiösen Dialog unter Frauen zu entwickeln. Tja, das war meine Idee – und sie war reichlich naiv, wie ich bald merkte. Oder, sagen wir: etwas unbedacht.

Denn zu einem Dialog gehören (mindestens) zwei, die sich gleichermaßen für ein Thema interessieren und auch auf Augenhöhe darüber in ein Gespräch kommen können. Das hatte ich einfach vorausgesetzt, ohne mich vor Ort darüber sachkundig zu machen.

Als ich selbst in Gelsenkirchen wirklich ankam, die Menschen kennenlernte, die dort leben, habe ich relativ schnell gemerkt, dass mein Interesse an einem interreligiösen Gespräch keineswegs weit verbreitet ist. Die muslimischen Frauen, mit denen ich in Kontakt kam, bewegten andere Fragen. Das fand ich – gemeinsam mit anderen – bald heraus. Auf Initiative der Gleichstellungsstelle der Stadt entstand ein „Arbeitskreis Migrantinnen“, das war um das Jahr 2000. Hierzu waren vor allem Mi­grantinnen eingeladen, die als Multiplikatorinnen wirkten, in Vereinen und Selbsthilfe-Initiativen. Hier haben wir gemeinsam überlegt: Welche Fragen und Bedürfnisse haben zugewanderte Frauen, welche Art von Angeboten, Vorträgen, Schulungen brauchen sie? Die Frage nach Wissen über (andere) Religionen tauchte dabei nicht auf.

Die Fragen der Frauen waren viel alltagsnäher, viel konkreter: Wie finde ich einen guten Arbeitsplatz? Wo werden meine Kinder gut betreut? Welche Schule ist für sie die beste? Diese Fragen waren – und sind – die vordringlichsten. Aus der Wahrnehmung dieser Fragen habe ich für meine Arbeit Konsequenzen gezogen.

Seit über zehn Jahren gibt es nun (drittmittelfinanzierte) Projekte, in denen ­Migrantinnen sich beruflich orientieren und qualifizieren können. Ich bin daher seit vielen Jahren in intensivem Kontakt mit Frauen aus aller Welt und aus vielen Religionen und Konfessionen. Der Schwerpunkt liegt dabei aber nicht auf (meinen) theologischen Fragen, sondern auf den Fragen und Bedürfnissen meines Gegenübers.

Das war hier immer so

Seit dem Sommer 2015 als viele Flüchtlinge zu uns kamen, sind wir noch internationaler, noch multikultureller und multireligiöser geworden. Es gibt natürlich die einen, die das schrecklich finden – darüber will ich hier nicht nachdenken. Denn, so nehme ich es wahr – es gibt auch jetzt, zwei Jahre später, unglaublich viele Frauen und Männer, die ehrenamtlich oder im Rahmen ihrer Berufstätigkeit ihren Beitrag dazu leisten, dass die Menschen, die jetzt zu uns geflüchtet sind, hier auch ankommen können.
Die Freiwilligen unterstützen die Neuangekommenen in vielen Alltagsfragen, sie geben Deutschunterricht, helfen bei Behördengängen, bei der Wohnungseinrichtung, der Einschulung der Kinder und vielem mehr. In Gelsenkirchen geht das ziemlich unaufgeregt. Wir sind es in dieser Stadt und Region gewohnt, dass Menschen aus verschiedenen Ländern kommen, eine andere Sprache und Kultur und auch Religion mitbringen. Das war – gefühlt – hier schon immer so.

Aus Gesprächen mit ehrenamtlich engagierten Frauen aus anderen Regionen, aus ländlichen Regionen habe ich wahrgenommen, dass die ehrenamtliche Arbeit mit Flüchtlingen für manche die erste intensive Begegnung mit muslimischen Menschen ist. Und dass das neugierig macht. Allerdings bin ich manches Mal auch irritiert, wenn einige das schon für interreligiösen Dialog halten. Denn interreligiöser Dialog braucht ein Gespräch auf Augenhöhe – und die ist zwischen Flüchtlingen und Freiwil­ligen nicht gegeben.

Ernüchterung und Ermutigung

Wenn Christinnen ihre Begegnung mit muslimischen Flüchtlingen als „Interreligiösen Dialog“ bezeichnen, hat das m.E. zwei Gründe, einen ernüchternden und einen Mut machenden.

Ich finde es ernüchternd, wenn eine Alltagsbegegnung und die notwendige Unterstützung als „Interreligiöser Dialog“ verstanden werden, denn es zeigt mir, wie neu und besonders es für viele ist, Kontakte über Religions-Grenzen hin­weg zu haben, wie wenig selbstverständlich ein Miteinander von Verschiedenen immer noch ist. Begegnungen und Gespräche zwischen christlichen und muslimischen Menschen gehören offenbar immer noch nicht zum ganz normalen Alltag, auch Wissen und Erfahrungen über muslimische Religionspraxis ist vielen Christ_innen kaum bekannt.
Ich nehme mich da durchaus mit ein. Meine privaten und beruflichen Kontakte mit muslimischen Frauen (und Männern) kann ich abzählen, nicht mehr an einer Hand, aber sie sind zählbar. Und das liegt nicht nur daran, dass ich in der Kirche arbeite. Denn obwohl ich aufgrund meiner langjährigen Arbeit in Integrationsprojekten viele Kontakte zu Mitarbeitenden in der Stadtverwaltung, in Bundesbehörden, in Bildungseinrichtungen habe: Ich begegne (auch außerhalb der Kirche) nur hin und wieder Menschen mit Migrationshintergrund, und es sind im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtgesellschaft wenige.

Und worin liegt die Ermutigung? Ich finde es großartig, dass viele ehrenamtlich Engagierte jetzt intensiver nach Religion fragen. Das hat auch damit zu tun, dass viele Flüchtlinge ihre Religion viel sichtbarer leben als wir es in Deutschland gewohnt sind. Das hat auch ganz banale Gründe: Wer hierzulande Weihnachten intensiv feiert, bewegt sich im Mainstream – und es fällt zugleich gar nicht auf, denn die Weihnachtstage sind gesetzliche Feiertage. Wer dagegen das Opferfest feiert – in diesem Jahr vom 1.-4. September – muss sich dafür Urlaub nehmen und meldet vielleicht die Kinder für einen Tag von der Schule ab. Das fällt auf. Und mehr noch der Ramadan (dieses Jahr ab 27. Mai): Einen Monat lang tagsüber nichts zu essen und zu trinken – und trotzdem zur Arbeit, zum Deutschkurs, zum Praktikum zu gehen? Das ist nicht so einfach, und kann schon gar nicht unbemerkt bleiben.

Austausch über religiöse Alltagspraxis

Im vergangenen Jahr fiel der Berufliche Qualifizierungskurs für Migrantinnen innerhalb meines aktuellen MIRA-Projektes in die Ramadan-Zeit. Ganz ohne dass wir es geplant hatten, wurde Religion also auch im Unterricht ein Thema, etwa die Hälfte der Teilnehmerinnen waren Musliminnen. Konkret wurde das so deutlich: Wir bereiteten gemeinsam eine Selbst-Präsentation des Kurses vor und dabei wurde intensiv über die Frage diskutiert, ob wir den Gästen einen Imbiss anbieten könnten. Sich auf Getränke, auf Kaffee zu beschränken, war die erste Idee; eine christliche Teilnehmerin fand, dass Essen einfach dazu gehört, weil die meisten Gäste selber gar nicht fasten würden, und einer Albanerin, die religionslos aufgewachsen war, war all das Gerede über Religion zu viel. Wir fanden dann schließlich den Kompromiss, die Veranstaltung früher als sonst üblich, bereits morgens um 9 Uhr beginnen zu lassen. Für die fastenden Frauen war das leichter, weil sie dann noch genug Energie hatten. Und die christlichen Frauen bereiteten den Kaffee und einen sehr bescheidenen Imbiss für die Gäste vor.

In dieser Weise entwickeln sich Gespräche über Religion und religiöse Praxis im Alltag und besonders im Berufsalltag in den Kursen immer wieder. Es ist – selten – Bestandteil des Curriculums, sondern entwickelt sich meistens aus den Fragen der Teilnehmerinnen. Diesen Austausch über religiöse Fragen verstehe ich jedoch nicht als Interreligiösen Dialog im engeren Sinn, denn die Beteiligten bringen hier ganz verschiedene Voraussetzungen mit, individuell und strukturell.

In der Regel bin ich, als studierte Theologin, die am besten ausgebildete Fachfrau für Religion überhaupt. Selten einmal ist eine Muslimin unter den Kursteilnehmerin, die sich auf akade­mischem Niveau mit dem Islam beschäftigt hat. Die allermeisten Teilnehmerinnen – Musliminnen genauso wie die Christinnen – bringen oft eine tradi­tionelle, auch patriarchale Volksfrömmigkeit mit, die oft wenig reflektiert ist und unhinterfragt bestimmten Regeln folgt.

Als es mir vor einiger Zeit fragwürdig schien, was die Musliminnen mir über die geltenden Regeln während des Ramadan erzählten, habe ich eine femi­nistische muslimische Theologin ein­geladen, um über unterschiedliche Auslegungen mit den Teilnehmerinnen zu sprechen. Als christliche Theologin kann ich über christliche Frömmigkeitsformen und Bibelauslegung mit anderen Christinnen das Gespräch suchen, aber ich habe natürlich keinerlei Autorität, um über muslimische Fragen Auskunft zu geben.

Strukturelle Unterschiede wahrnehmen

Zu diesen individuellen, unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen im Bereich Theologie kommen die strukturellen Unterschiede: Die Teilnehmerinnen, die zugewandert oder zu uns geflohen sind, sprechen Deutsch als Fremdsprache; wenn sie erst kurz in Deutschland leben, sprechen sie die Sprache auf ­einem niedrigen Niveau – auf jeden Fall mit viel mehr Anstrengung als ich. Dazu kommt: Sie sind auf mich, auf uns angewiesen, sie brauchen die Unterstützung dringend, um sich in Deutschland zurechtzufinden. Als Deutsche dagegen habe ich die freie Wahl, ich begebe mich in den Kontakt mit Geflüchteten, mit Migrantinnen aus Interesse, aus Neugier, weil ich helfen will, bei Hauptamtlichen natürlich auch, weil ich damit mein Geld verdiene.
Diese unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedürfnisse gilt es einfach, ­anzuerkennen bzw. sich dessen bewusst zu sein. Die Flüchtlinge sind auf die Unterstützung einfach fundamental an­gewiesen, das ist keine Basis für ein ­offenes, vielleicht auch ein kritisches Wort, auch wenn ich (als deutsche Unterstützerin) das gerne sähe.

Tatsächlich haben wir, als wir mit Qua­lifizierungskursen für Migrantinnen begonnen haben, diese Unterschiede zunächst übersehen. Für uns war klar, dass die Teilnehmerinnen genauso wertvolle Menschen sind wie z.B. die Dozentinnen. Natürlich wollten wir im Team den Teilnehmerinnen auf Augenhöhe begegnen – die oben beschriebenen strukturellen Unterschiede haben wir erst allmählich wahrgenommen.
Und gerade wegen der strukturellen Unterschiede achten wir noch mehr ­darauf, den Kurs-Teilnehmerinnen mit ­Respekt und Wertschätzung zu be­gegnen.

Informieren, Austausch, Gespräch

Nach meiner Erfahrung gibt es an religiösen Fragen sehr wohl ein Interesse – aber es steht eben nicht oben auf der Tagesordnung. Und ich selbst habe von und mit den Migrantinnen viel über das Christentum gelernt.

Wenn Kurse in die Advents- und Weihnachtszeit fallen, gibt es natürlich auch, wie es Brauch ist, eine kleine Weihnachtsfeier. Das nutze ich auch zum Deutschunterricht: der Advent, aber die Krippe, wir singen Adventslieder (vor) und erklären die Weihnachtsdeko­ra­tion. Und: Ich versuche jedes Mal, die Weihnachtsgeschichte in allen vertretenden Muttersprachen zu finden – ­online gibt es fast jede Sprache, und „Lukas 2″ kann ich auch auf Arabisch, Russisch, Georgisch oder Bengali identifizieren. Das Erstaunen ist meist groß, dass es diesen Text auch in der eigenen Muttersprache gibt. Ich stelle also natürlich auch deutsche und christliche Traditionen vor. Das ist aber – ich wiederhole mich – natürlich kein „Inter­­re­ligiöser Dialog“, sondern ein gegen­sei­tiges Informieren, Austausch, Gespräch.

Ich habe mittlerweile auch gelernt, die verschiedenen christlichen Konfessionen auf ganz elementare Weise zu erklären: Ja, wir haben alle die gleiche Bibel. Nein, der Papst ist nicht für die Evangelischen zuständig. Ja, wir feiern alle Gottesdienst. Nein, es gibt Frauen als Pfarrerinnen nur in evangelischen Kirchen und so weiter. Manchmal sind nicht nur das fehlende Hintergrund­wissen, sondern auch die begrenzten Sprachkenntnisse der Anlass, die Dinge sehr, sehr elementar zu erklären. Das bedeutet aber eben auch, dass ich selbst neu lerne, auf das Wesentliche zu schauen.

In Deutschland gehört Religion in den Bereich des Privaten, auch als Pfarrerin habe ich nicht immer ein Bibelwort auf den Lippen. Doch ich bin hier entschieden „frommer“ geworden, allein durch die Begegnung mit Menschen verschiedener Kulturen und Religionen.

Migrantinnen und erst recht Flüchtlinge haben einen schweren Weg hinter sich. Ich bin froh, dass viele einen Halt in ihrer Religiosität haben, dass sie beten können, dass sie Zuflucht bei Gott finden. Welche Vorstellungen sie damit im Einzelnen haben, darf sich dabei gerne von meinen unterscheiden. Viele Menschen, die zu uns geflohen sind, bringen aber auch schlechte Erfahrungen mit Religion mit – der eigenen oder einer fremden, beim Schreiben denke ich etwa an Musliminnen aus Afghanistan und aus dem Iran und an Christinnen aus dem Irak und Ägypten. Auch diese sehr unterschiedlichen Erfahrungen erfordern großes Fingerspitzengefühl beim Austausch über religiöse Themen.

Auf interreligiöse Dialoge vorbereitet sein

Ich glaube, die gegenwärtige Situation bietet uns die Chance, uns als christ­liche, evangelische Frauen neu über unsere eigene Religiosität, unsere Glaubenspraxis, unsere theologischen Vorstellungen zu vergewissern. Und so viel wir können, über andere christliche Konfessionen und andere Religionen zu lernen. Noch nicht jetzt, aber in einigen Jahren werden die Flüchtlinge in Deutschland Fuß gefasst haben, dann sollten wir vorbereitet sein auf vielfältige interreligiöse Dialoge. Die vielen Begegnungen mit Menschen, denen wir als Menschen (und nicht als Religionsvertreter_innen begegnen), die wir jetzt in der Flüchtlingshilfe und Integrations­arbeit erleben, werden uns dabei helfen.

Antje Röckemann ist Pfarrerin und Leiterin des Genderreferats im Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid.
Mehr Informationen zu den Projekten:www.gender-kirche-gelsenkirchen.de

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