Ausgabe 2 / 2001 Andacht von Petra Zulauf

Es geschieht mitten unter uns

Andacht über Gewalt in der Pflege

Von Petra Zulauf

(Auszug)

Eigentlich sollte es das nicht geben. Schon gar nicht bei uns. Und wenn doch? Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen…? Gewalt in der Pflege gehört zu den hoch tabuisierten Themen in Kirche und Gesellschaft. Die kürzlich vom Ökumenischen Rat der Kirchen ausgerufene Dekade zur Überwindung von Gewalt kann uns in der Kirche und ihrer Diakonie herausfordern, dieses brisante Thema aufzugreifen und ins Gespräch zu bringen.

Die Form der Andacht bietet eine Möglichkeit, das „heiße Eisen“ Gewalt in der Pflege mit der nötigen Vorsicht anzufassen. Ungeschminkt und unfertig können wir unsere Gedanken vor Gott bringen. Wir dürfen Missstände beim Namen nennen, ohne gleich eine kompetente Lösung bereit zu haben. Wir können nach Hoffnungsschimmern suchen und vor Gott alles ins Gebet nehmen.

 

Der Einzug

 

Zu Hause, allein, geht es nicht mehr. Sie ist in Pflegestufe 1 eingruppiert. Ihre Artrose- und Rheumaschmerzen schränken ihre Beweglichkeit ein. Die längst schon erwachsenen Kinder leben kilometerweit entfernt. Den Schritt, ins Heim zu gehen, hat sie mit ihnen besprochen. Ihre Kinder haben sie auch ein wenig gedrängt, weil sie sich nicht um sie kümmern können oder wollen. Nun hat sie einige persönliche Dinge eingepackt. Vor der Haustür wartet ein Taxi, das sie ins Heim fahren soll. Zum letzten Mal schließt sie die Wohnungstür hinter sich. Diese Tür hinter der ihr Leben jahrzehntelang stattfand, hinter der ihre Kinder groß wurden und ihr Mann starb.

Das Taxi bringt sie bis vor die Haustür des Seniorenheimes. Eines ihrer Kinder ist nun doch mitgekommen. Die Heimleitung erwartet sie, zeigt ihr das Zimmer und macht sie mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut. Der Zivi bringt das Gepäck und sie sieht zum ersten Mal ihre Mitbewohnerin, mit der sie das Zimmer teilen wird. Das wusste sie schon vorher, und nun ist es wahr: An der Wand steht das Bett, davor ein Nachttisch. Eigentum des Hauses. Ihr Lieblingssessel bekommt seinen Platz am Tisch in der Zimmermitte. Das Bild, das immer im Wohnzimmer hing, kommt jetzt über's Bett, die Familienfotos auf den Nachttisch, ihre persönliche Kleidung in den Schrankteil, der ihr zusteht. Aber wo wird sie ihre wenigen Wertsachen aufbewahren? Zum Abschließen ist im Schrank nichts vorgesehen. Ihre Mitbewohnerin sagt ihr freundlich, aber bestimmt, wo es hier langgeht, und dass der Platz am Fenster schon immer der ihre war. Über Fernseh- und Radioprogramme müsse man sich einigen. Genauso über die Zeiten der Badbenutzung, besonders am Morgen. Inzwischen waren die Schwestern und die Wohnbereichsleitung da, haben sich ihr vorgestellt und sie erinnert, dass pünktlich um 12 Uhr zu Mittag gegessen wird. Von allen wird sie mit Namen angesprochen, und der steht auch schon an der Zimmertür, mit einem aufgeklebten Marienkäferchen versehen, weil sie Diabethikerin ist. Die Schwestern werden darauf achten, dass sie ihr Insulin und ihre Tabletten regelmäßig und pünktlich einnimmt. Bis gestern konnte sie das noch alleine…

Mittlerweile ist es Abend geworden und sie liegt in ihrem neuem Bett. Ihre Mitbewohnerin schläft längst. Sie atmet schwer und schnarcht, fast so laut wie ihr verstorbener Mann. Schon damals konnte sie so schlecht einschlafen. Sie sehnt dem Geruch ihrer Wohnung hinterher und dem, dass sie eigentlich immer erst nach den „Tagesthemen“ zu Bett gegangen ist. „Sicher werde ich mich auch daran gewöhnen – wie an so vieles in meinem Leben“ denkt sie und schläft dann doch irgendwie ein.

Morgen gegen 7 Uhr wird der Pfleger kommen und ihr Rücken und Beine waschen. Das andere geht alleine. Ein fremder Mann, denkt sie, das ist mir gar nicht recht. Aber in drei Tagen, so hat sie gehört, wird eine Schwester in der Frühschicht arbeiten und bis dahin … Kyrie: gesungen (EG 178,12 oder eine andere Melodie)

 

Anstöße zum Nachdenken
 

Ist aufstehen müssen viel früher, als ich es gewohnt bin, Gewalt? Ist Frühstücken, zu Mittag und Abend essen, wie die Organisation des Heimes es vorgibt, notwendige Gewaltausübung? Gewaschen zu werden, wenn ich es nicht will, ist eigentlich Gewalt.
Vom Pflegepersonal einfach geduzt oder in der „Wir-Form“ angeredet zu werden, missachtet meine Persönlichkeit und ist Gewalt. Vertraulich gestreichelt zu werden, ist zwar nett gemeint, aber wenn ich das nicht wünsche, empfinde ich es als aufdringliche Gewalt. Wenn mein Geist verwirrt ist, ich mit Medikamenten ruhig gestellt oder mit Bandagen fixiert werde, geschieht das sicher zu meinem Schutz. Mein Körper empfindet es aber als Gewalt. Mein Leben in eine Pflegestufe einzuordnen, ist Gewalt durch die Bürokratie. Mit einer Fremden das Zimmer zu teilen, engt meine persönliche Freiheit ein, und ich erlebe das erst mal als Gewalt.

Die Familie, die selbstverständlich davon ausgeht, dass ich, die Tochter, unsere kranke Mutter pflege und deswegen mein bisheriges Leben umorganisiere, übt Gewalt über mich aus. Die Mutter, den Vater ins Heim bringen zu müssen… – das aufkommende schlechte Gewissen ist gewaltig. Dass das pflegerische Arbeiten mit und für ein Familienmitglied zu Hause in der Sozial- und Rentenversicherung immer noch nicht angemessen anerkannt wird, ist staatliche Gewalt.

Stille oder meditative Musik Gespräch in der Andachtsgruppe (evtl. in Klein- oder Murmelgruppen) Impulse: Meine Erfahrungen als Pflegende in der Familie / in einem Heim… Meine Erfahrungen als zu Pflegende / Kranke… Wovor habe ich Angst, wenn ich nicht mehr alleine zu Hause leben kann? Wie wünsche ich mir, dass dann – zuhause oder in einem Heim – mit mir umgegangen wird?

Zum Abschluss des Gespräches können die Gruppen Gebetssätze formulieren, in denen die Ambivalenz des Themas „Gewalt in der Pflege“ zum Ausdruck kommt: Guter Gott, einerseits beobachten, hören, sehen wir, dass/wie … andererseits überlegen wir, wissen wir, ahnen wir …

 

Gebet

 

Barmherziger Gott, wir bitten dich, dass wir ehrlich und offen miteinander umgehen und versteckte Gewalt entdecken und ansprechen. Da, wo wir andere pflegen oder selbst pflegebedürftig geworden sind, lass uns Geduld miteinander haben. Wir bitten um Mut, wo es um der Würde der Menschen willen nötig ist, alte und eingefahrene Wege verlassen zu können. Gütiger Gott, schenke uns gerade auch im Alltagsstress die Sensibilität, die Würde zu achten und zu beachten, die du jedem Geschöpf zuerkannt hast.

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