Alle Ausgaben / 2009 Artikel von Antje Krause

Es war einmal eine Witwe

Hilfe zur Krisenbewältigung durch Märchen

Von Antje Krause


„… und in seiner Herzensangst sprang es in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen. Es verlor die Besinnung, und als es erwachte und wieder zu sich selber kam, war es auf einer schönen Wiese, wo die Sonne schien und viel Tausend Blumen standen.“

Kommt Ihnen diese Textzeile bekannt vor, regt sich vielleicht eine unbestimmte Erinnerung in Ihnen? Dieses Zitat stammt aus dem Grimm'schen Märchen Frau Holle. Das Mädchen, das später als Goldmarie zurückkehrt, wird in dieser Szene heftig und unbarmherzig von ihrer Stiefmutter für den Verlust der Spinnradspule gescholten und schließlich aufgefordert, diese aus dem Brunnen zurückzuholen.


Wenn das Herz erschrickt

Wenn wir „Herzensangst“ fühlen oder das „Herz“ erschrickt, verlieren wir leicht das Vertrauen in uns, in unsere eigenen Kräfte und Möglichkeiten und manchmal auch in unseren Glauben. Wir stehen einer unvorhergesehenen Situation gegenüber, von der wir glauben, sie mit unseren gewohnten Möglichkeiten zur Problemlösung nicht bewältigen zu können. Die Wahrnehmung schränkt sich ein, und unsere bisherigen Erfahrungen, Normen und Werte werden in Frage gestellt. Dies sind deutliche Zeichen einer psychischen Krise. Doch jede Krise ist zeitlich begrenzt und so schrecklich sie sich akut anfühlt, liegt doch in ihr die Chance zu Wachstum und Reifung.

Die Schwester der Krise ist die Angst. Sie gehört zu unserem Dasein wie die Luft zum Atmen. Seit Menschengedenken gibt es Bemühungen, die Angst zu bewältigen, zu mindern und zu überwinden, sei es mit Hilfe von Religion, Magie, Wissenschaft oder Liebe. Wenn wir Angst spüren, kann es sein, dass wir ganz starr werden, uns tot stellen, hoffen, dass der Moment ganz schnell vorbei geht. Oder wir spüren einen Fluchtreflex und laufen davon.

Wenn wir uns jedoch wertfrei der Angst nähern, können wir erkennen, dass sie uns eine Signalgeberin in Gefahrensituationen ist. Sie warnt uns und fordert gleichzeitig dazu auf, sie zu überwinden. Wegschauen, sich tot stellen oder überwältigen lassen, die Auseinandersetzung meiden und weglaufen verstärkt das Gefühl der Angst. Doch das Hinschauen, Auseinandersetzen und Überwinden stärkt und bietet uns die Chance zu Weiterentwicklung und Reifung.

Bekanntermaßen ist die Leidensfähigkeit von Frauen sehr hoch. Zu viele verharren in Lebenssituationen, die ihnen schaden, sie mit Angst erfüllen, ihrem Gefühl widersprechen, gar gegen den eigenen Willen gehen oder seelische und körperliche Krankheit auslösen.

So wissen wir aus wissenschaftlichen Untersuchungen sehr genau, dass etwa die Lebensspanne zwischen 20 und 40 Jahren eine Vielzahl an Leistungsanforderungen – Beruf, Karriere, Hausfrau und Mutter, ausreichendes Einkommen, Existenzsicherung, Partnerschaft – an Frauen stellt, die zu einem Ausbrennprozess, Gesundheitsstörungen und gesundheitsgefährdendem Verhalten führen können.

In Stresssituation neigen Frauen eher als Männer dazu, diese negativ zu interpretieren und tendieren bei andauernder Belastung zu einer zunehmenden Verhaltenshemmung. Sie ziehen sich zurück, reagieren ängstlich, gehemmt und schüchtern. Belastende Lebenssituationen wie Krisen oder dauerhafte psychosoziale Überlastungen führen dann oft dazu, dass Frauen sich von ihren Gefühlen abschneiden und „einfrieren“, und es fällt ihnen schwer sich „berühren“ zu lassen.


Wenn Heilung beginnt

„Auf dieser Wiese ging es fort und kam zu einem Backofen, der war voller Brot …“

Biblische Texte oder Märchen können dazu beitragen, dass wir uns bewegen lassen, unsere Gefühle wieder auftauen und zu fließen beginnen. Im Unterschied zur Bibel entstammen Märchen Volksweisheiten. Sie beschreiben Heilung nicht als Wunder, sondern als lang andauernden Prozess. Da sie nicht die Voraussetzung des Glaubens benötigen, sind sie auch für diejenigen offen, die sich mit dem Glauben schwer tun.

Märchen haben eine lange Erzähltradition. Ihre Aussagen stammen zu einem überwiegenden Teil aus der Weisheit und Bilderwelt der alten Mythologien der Naturvölker. Ihre Symbolik fußt in der archetypischen Bilderwelt des Unbewussten und erinnert uns an die Sprache der Träume. Ursprünglich waren Märchen nicht für Kinder gedacht. Sie dienten, nachdem die alten Religionen versunken waren, als „…Spinnstubengeschichten, in welchen erfahrene Frauen die Inhalte und Lebenslehren in allegorischer, symbolischer und Bildsprache an die jungen Mädchen weiter gaben“. Erst viel später wurden sie niedergeschrieben und verloren für Erwachsenen an Bedeutung.

Dabei beinhalten Märchen Themen, die viele Menschen berühren. Sie erzählen von nahezu unüberwindbaren Problemen, die nur über einen verschlungenen Weg zu bewältigen sind und schließlich zur Selbstfindung der ProtagonistInnen führen. Märchen sprechen in Symbolen zu uns und haben eine Nähe zu Träumen und unbewussten Prozessen. Sie verweisen auf Entwicklungsprozesse und sprechen uns in unserer individuellen Existenz an. Gleichzeitig zeigen sie uns, dass unser individuelles Problem auch ein kollektives ist. Sie bewegen sich im intermediären Raum der Fantasie, des schöpferischen und des symbolischen Lebens.

Jung (1979) definiert Symbol folgendermaßen: „Das was wir Symbol nennen ist ein Ausdruck, ein Name oder auch ein Bild, das uns im täglichen Leben vertraut sein kann, das aber zusätzlich zu seinem konventionellen Sinn noch besondere Nebenbedeutungen hat.“ Symbole sind verdichtete Erfahrungen, besitzen psychische Inhalte und Emotionen. Wenn wir uns mit kindlicher Neugier und träumerischer Offenheit der Symbolik nähern, offenbaren und eröffnen Märchen uns Perspektiven, die wir erst nach und nach verstehen können. Die Symbole, die uns ansprechen, können zum Ausdruck unseres eigenen psychischen Zustandes werden. Situationen und Gefühle, die uns Unbehagen bereiten oder die wir nicht in Worte fassen können, finden wir als Symbol in einem Märchenbild.

Die fehlenden Details der Geschichten ermöglichen uns Raum für individuelle Deutungen und persönliche Inhalte. Märchen sind betont einfach und bildhaft geschrieben. Die Hauptfiguren tragen selten richtige Vornamen, und wenn, dann früher häufig vertretene Namen wie Hans oder Gretel. Sie handeln oft vom Wünschen, von Träumen, die wahr sind, und Taten, die vollbracht werden. Sie beginnen häufig mit einer Situation, die den Lebensweg bedroht, und führen zu einem guten Ende. Märchen vermitteln Hoffnung.

Im Wünschen erschaffen wir eine Hoffnung, die uns an die Veränderbarkeit einer Situation glauben lässt. Wenn wir keine Wünsche mehr haben, sitzen wir fest und resignieren. Krisen, in denen wir unser Vertrauen und unsere Hoffnung verlieren, müssen wir, gleich den ProtagonistInnen im Märchen, aktiv bewältigen.

„Märchen erheben nicht den Anspruch, die Welt so zu beschreiben wie sie ist; sie raten auch nicht, was man unternehmen soll.“ Aber sie bieten Lösungen und Hoffnungen an, wenn etwa die Prinzessin sich endlich getraut, sich ihrem Vater zu widersetzen und den widerlichen Frosch an die Wand zu werfen, oder Gretel zur Befreiung die Hexe in den Ofen schiebt.

„Ach zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich …“

Von den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten von Märchen interessiert uns hier die psychologische, in der Märchen als symbolische Darstellung von allgemeinmenschlichen Problemen und ihrer möglichen Lösung betrachtet werden.

Zur psychologischen Deutung und zum Verständnis von Märchen gibt es viele anregende und hilfreiche Bücher. Sie helfen uns im Verstehen der tiefen Symbolik, doch in der persönlichen Auseinandersetzung ist es letztendlich wichtig, die Interpretation des Märchens für den eigenen Selbstfindungsprozess jeder und jedem selbst zu überlassen. Bettelheim schreibt: „Das Märchen ist deshalb therapeutisch, weil der Patient zu eigenen Lösungen kommt, wenn er darüber nachdenkt, was die Geschichte über ihn und seine inneren Konflikte zu diesem Zeitpunkt in seinem Leben enthält. Der Inhalt des ausgewählten Märchens hat gewöhnlich nichts mit dem äußeren Leben des Patienten zu tun, aber sehr viel mit seinen inneren Problemen, die unverständlich und deshalb unlösbar scheinen.“

Wenden wir uns noch einmal Goldmarie zu, die sich in ihrer Verzweiflung und letztlichen Gehorsamkeit gegenüber der Stiefmutter in den Brunnen stürzt. In der Realität würde dies natürlich niemand tun, ebenso wie es in der realen Welt nicht diese eindeutige Zuordnung von Gut und Böse gibt. Der Brunnen dient häufig als Symbol für den Kontakt mit den unbewussten Schichten unserer Psyche. Goldmarie springt hinab – und dies wird zum Wendepunkt ihres Lebens, denn nicht den Tod findet sie, sondern sie „erwacht“ und „findet zu sich selber“.

Das Märchen bedient sich hier der Aufspaltung in zwei Welten, die vorder- und die hintergründige. Hier hat Goldmarie Aufgaben zu erledigen, die ihr jedoch nicht die Finger blutig machen, wo sie nicht geschunden und gescholten wird. Sie stellt sich ihren Aufgaben, nimmt angstfrei die Dienste bei Frau Holle an und wird bei der Rückkehr in die vordergründige Welt letztlich für ihre Arbeit entlohnt. Hier zeigt sich, dass „das Gute, wenn es nicht mehr aus Angst, Abhängigkeit, Zwang und Unfreiheit geschieht, sondern einzig und allein, um den Dingen der Welt gut zu sein und ihnen bestmöglich zu dienen, (.) wie man jenseits der Verzweiflung merken kann, seine Belohnung in sich selbst (trägt).“


Für die Arbeit in der Gruppe

„Sie nahm es darauf bei der Hand und führte es vor ein großes Tor.“

– Erinnern 1
Viele Frauen erinnern sich gern an die Geschichten und Märchen ihrer Kindheit, und einige berichten, dass ihnen als Kind immer wieder dasselbe Märchen vorgelesen werden musste. Oder sie erzählen von dem kindlichen Wunsch, selbst einmal als Dornröschen vom Prinzen erweckt zu werden. Die mögliche tiefe Bedeutung von Märchen ist jedoch den wenigsten bewusst.

– Erinnern 2
In der Auseinandersetzung mit Märchen zur Bewältigung persönlicher Krisen wählen wir frei ein Märchen, das uns spontan anspricht. In der Gruppe einigen Sie sich auf eins und versuchen, es gemeinsam aus der Erinnerung zu rekonstruieren. Auch wenn wir meinen, das Märchen auswendig zu kennen, lesen wir es anschließend noch einmal durch Denn unser Unterbewusstsein spielt uns gern einen Streich, es verändert in der Erinnerung das Märchen so, dass es gut zu unserer Lebenserfahrung passt. Für diejenigen, die mit Geschwistern aufgewachsen sind: Können Sie sich z.B. erinnern, wer im Märchen Hänsel und Gretel das ältere Geschwisterkind ist?

– Neu entdecken
Nun fassen wir zusammen, welche Personen in dem Märchen vorkommen, welche Charaktereigenschaften sie besitzen, welche Rolle sie spielen und welche Beziehungen bestehen; mit den Symbolen können wir ähnlich verfahren. Wir begeben uns so auf die Spur des Märchens, versuchen, alles, auch die Handlungen, unter die Lupe zu nehmen. Versuchen Sie der Geschichte so zu begegnen, als ob sie sie zum ersten Mal in ihrem Leben hören würden. Gehen Sie spielerisch vor oder stellen sie sich vor, eine Feinschmeckerin zu sein und lassen sich Detail für Detail auf der Zunge zergehen. Voreilige Deutungen verstellen uns den Blick auf die tiefe Symbolik des Märchens, wir laufen Gefahr, nur die „Vorderwelt“ wahrzunehmen. Zudem besitzen wir Menschen die Strategie, unsere bisherigen Lebenserfahrungen, Handlungs- und Erklärungsmuster auf neue Herausforderungen zu übertragen. Doch das kann uns daran hindern, neue Lösungen und Handlungsoptionen zu entdecken.

– sich identifizieren
Schließlich nähern wir uns den ProtagonistInnen und Symbolen als mögliche Persönlichkeitsanteile in uns. Leichter und für viele verlockender ist die Deutung der Märchen auf der sogenannten Objektebene. Die Widersacher der MärchenprotagonistInnen erkennen wir in der Identifikation mit ihnen leicht als unsere Konfliktpartner im tatsächlichen Leben (z.B. Partner, Schwiegermutter, Chef) oder wir erleben, ähnlich wie Aschenputtel, wenig Anerkennung und Respekt. Diese Deutungen locken uns ebenfalls vorschnell auf den Pfad der bekannten Handlungsmuster.
Wir wollen uns dagegen den Märchen auf der Subjektebene nähern: Welche Persönlichkeitsanteile von mir finden sich z.B. im Wolf, der Rotkäppchen frisst, oder der Hexe, die Hänsel braten will? So kommen wir unseren Schattenseiten auf die Spur, unseren abgespaltenen Persönlichkeitsanteilen, die möglicherweise manch verborgenen Schatz für uns bereit halten.

Wie oben bereits beschrieben, neigen Frauen eher zu Rückzug, statt zu Aggression, wenn die Belastungen zu groß werden. Wie wunderbar kann es da sein, einmal in der eigenen Vorstellung als hungriger Wolf durch den Wald zu streifen und sich das zu holen, was ein Wolf zum Leben braucht!

– Spielerisch umarbeiten
Der Fantasie ist keine Grenze gesetzt – und häufig kommt in einer Gruppe gute Stimmung auf, wenn der Verlauf des Märchens in Frage gestellt wird. Was glauben Sie: Wie würde das Märchen von Rotkäppchen sich entwickeln, wenn der Wolf nicht käme? Würde Rotkäppchen dann noch heute von der Mutter in den Wald geschickt werden, um die Großmutter zu versorgen? Oder was wäre aus der schönen Müllerstochter geworden, wenn sie niemals Rumpelstilzchen begegnet wäre? Meistens stellen wir dabei fest, dass die Lösung des Märchens bereits optimal ist und es ein Leben ohne Gefahren und Herausforderungen nicht geben kann.

Wenn Frauen sich auf den spielerischen und Umgang mit Märchentexten einlassen, bekommen sie Zugang zu ihrer Kreativität, ihrer Kraft und inneren Beweglichkeit, ihre Gefühle kommen in Fluss und es entstehen hilfreiche Bilder zur besseren Bewältigung der täglichen oder auch besonderen Herausforderungen des Lebens. Die gemeinsame Bearbeitung eines Märchentextes kann Ängste lösen, das „erschreckte Herz“ beruhigen, Vertrauen wieder herstellen und Mut machen, in Krisenzeiten den nächsten Schritt zu tun.


Antje Krause, Jahrgang 1964, hat zwei erwachsene Kinder. Sie ist Dipl. Sozialpädagogin und Psychodramaleiterin. Seit 2000 ist sie Leiterin der Vorsorge-Reha-Klinik Haus Daheim – Interdisziplinäres Therapiezentrum für Mutter und Kind in Bad Harzburg.


Verwendete Literatur

Bruno Bettelheim: Kinder brauchen Märchen, dtv, 121988
Jürgen Collatz et al.: Effektivität, Bedarf und Inanspruchnahme von medizinischen und psychosozialen Versorgungseinrichtungen für Frauen und Mütter, BMFSFJ (Hrsg.), Band 126, Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer
Grimms Märchen: Manesse Verlag, Zürich
Anselm Grün, Maria-M. Robben: Finde deine Lebensspur, Freiburg im Breisgau: Herder Verlag, 52002
Verena Kast: Märchen als Therapie, dtv 21990
Verena Kast: Mann und Frau im Märchen. Eine psychologische Deutung, dtv 21988
Erich Franzke: Märchen und Märchenspiel in der Psychotherapie. Der kreative Umgang mit alten und neuen Geschichten, Verlag Hans Huber, 1985
Fritz Riemann: Grundformen der Angst, Basel: Ernst Reinhard Verlag, 2002

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