Ausgabe 1 / 2002 Artikel von M. Mildenberger und Waltraud Liekefett

Europa braucht Versöhnung

Ein christlicher Beitrag zum Prozess der Einheit

Von M. Mildenberger und Waltraud Liekefett

(Auszug)

Einen geradezu lapidar klingenden Satz stellte die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im November 1995 an den Anfang einer großen Erklärung zu Europa: „Ohne Versöhnung ist europäische Einigung nicht möglich.“ Ich denke an meine eigene Familie. Mein Urgroßvater gehörte zum württembergischen Armeekorps, das 1866 an der Seite Österreichs gegen Preußen kämpfte. Meine Großmutter verlor ihren Ältesten im Ersten Weltkrieg im französischen Trommelfeuer und ihren zweiten Sohn im Zweiten Weltkrieg an der russischen Front. Mein Vater kämpfte 1917/18 zwei Jahre lang in den Schützengräben Flanderns. Mein Bruder wurde noch am Ende des Zweiten Weltkriegs als Flakhelfer gegen englische Bomber eingesetzt, vor denen ich mich im Keller verkroch und die unser Haus zerstörten. Eine ganz normale, sogar noch recht glimpflich davongekommene Familie also, irgendwo in Europa, wie unzählige andere auch. Alle waren sie zugleich Täter und Opfer auf diesem von der Gier, Gewalt und Feindschaft der Nationen zerrissenen Kontinent. Einigung zwischen Preußen und Österreich, zwischen Deutschland, Frankreich und England, zwischen Deutschland und Russland – wie sollte Einigung ohne die Versöhnung der Menschen untereinander möglich sein?

Wir müssen allerdings – Gott sei Dank! – nicht so tun, als stünden wir erst jetzt und ganz neu vor der Frage, ob es denn angesichts solcher Dimensionen von Schuld und Leid Versöhnung geben könne. Andere sind vorangegangen. Getrieben von ihrem Gewissen, haben sie schon früh erste Erkundungen im Gelände der Versöhnung angestellt und einen Prozess der inneren Veränderung in Gang gebracht. Signale der Versöhnung wurden gesetzt und weitergegeben, Menschen ließen sich ergreifen, allmählich brachen die harten Fronten auf und wurden durchlässig. Die bittere Geschichte des West-Ost-Konflikts, die Europa noch einmal für vierzig Jahre in zwei gegensätzliche Blöcke auseinanderbrach, schob sich gegenläufig dazwischen. Trotzdem können wir heute feststellen: es gibt nicht nur eine verhängnisvolle Abfolge des Unrechts und des Zerbrechens von Gemeinschaft, sondern es hat in den letzten Jahrzehnten auch eine erstaunliche Geschichte der Versöhnung in Mittel- und Osteuropa gegeben. Zaghaft begann sie in den 50er Jahren, als erste Begegnungen in Moskau, Warschau und Prag stattfanden. Viele Hindernisse lagen im Weg, die Bemühungen um Heilung der Wunden und einen neuen Anfang im gegenseitigen Umgang blieben oft im Zwielicht und waren immer gefährdet. Doch ist die Verständigung Schritt um Schritt voran gekommen, Vertrauen wuchs und gut-nachbarschaftliche Beziehungen haben sich gebildet. Wer heute die vergleichsweise offenen, unkomplizierten Beziehungen zwischen Polen und Deutschen erlebt, kann nur mit Aufatmen konstatieren, dass der Prozess der Versöhnung zu einem guten und stabilen Ergebnis gekommen ist.

Es ist nicht überall so – das Verhältnis etwa zu unseren tschechischen Nachbarn bleibt nach wie vor heikel. Trotzdem mehren sich die Stimmen, die meinen, es sei nun endlich an der Zeit, das große Wort „Versöhnung“ beiseite zu legen. Dieses Kapitel sei abgeschlossen und eine neue Generation herangewachsen, für die es nicht mehr um Versöhnung, sondern um eine ganz normale Partnerschaft mit unseren Nachbarn in Mittel- und Osteuropa gehe. Dieses Interesse ist verständlich und viele alltägliche Erfahrungen sprechen dafür. Doch täuschen wir uns nicht! Geschichte hat ein langes Gedächtnis und kehrt immer wieder zu den Menschen zurück. Sie ist nicht einfach „vergangen“, sondern lebt und wirkt weiter in den Tiefen der Erinnerung bei Menschen und Völkern. Es ist richtig, wir müssen heute Versöhnung nicht von neuem stiften. Aber wir müssen die Versöhnung, von der wir herkommen, bewähren. Wie das Unrecht und Leid, das geschehen ist, in der Erinnerung aufbewahrt bleibt, so muss auch die Versöhnung mit dem Geschehenen in unserer Erinnerung lebendig bleiben. Nur so kann sie ihre heilende Kraft behalten und nur dann können wir tatsächlich als PartnerInnen ein neues Kapitel in der Geschichte unseres Kontinents miteinander gestalten. Erinnern wir uns…

Behutsam miteinander umgehen Wer viel in anderen europäischen Regionen zu tun hat und mit den Menschen dort zusammen ist, bekommt immer wieder zu spüren, wie dünn der Boden der „Normalität“ ist, auf dem wir uns bewegen. Ob das die Niederlande sind oder Tschechien, ob wir uns in Griechenland oder der Ukraine befinden – unversehens, oft wie aus heiterem Himmel, fällt eine Bemerkung, mit der uns die Vergangenheit wieder einholt. Europa ist auf dem Weg der Einigung, aber es trägt seine zerklüftete Geschichte mit sich in die gemeinschaftliche Zukunft. Die Versöhnung ist ein junges Geschenk, sie bleibt noch lang gefährdet. Deshalb ist ein behutsamer Umgang miteinander und Rücksicht auf geschichtliche Empfindlichkeiten eine besonders notwendige Tugend für die europäische Zukunft. Wie reden wir übereinander – Deutsche über Polen, Franzosen über Deutsche? Wie gehen wir mit den zahllosen Vorurteilen um, die wir überkommen haben?

Zum andern: Die Nagelprobe auf dem Weg zur europäischen Einigung hat die Versöhnung noch vor sich. Wenn die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten realisiert wird, fällt ihre Außengrenze im Osten in eine Region, die seit Urzeiten sozusagen die kulturelle, kirchliche und politische Wasserscheide zwischen dem Osten und dem Westen Europas gebildet hat. Es sind tief unterschiedene geistige und geschichtliche Welten: bis zur Ostgrenze Polens nach Westen orientiert, am katholischen Rom ausgerichtet, von Renaissance und Aufklärung geprägt, jenseits dieser Grenze dem Osten zugetan, von der byzantinischen Orthodoxie durchdrungen, Staat, Kirche, Volk in ganz anderer Weise aufeinander bezogen. Mit der Erweiterung der Europäischen Union könnten sich diese alten geschichtlichen, kulturellen und nicht zuletzt kirchlichen Spannungen um den Konflikt zwischen einem wirtschaftlich und politisch integrierten Westen und einem nicht integrierten Osten verschärfen. Entsprechend groß sind die Aversionen und Ängste im Osten – Ängste vor dem aggressiven Markt, vor einer grenzenlosen Liberalität, vor dem Verfall von Werten und Traditionen. Versöhnung zwischen dem Westen und dem Osten Europas? In nächster Zukunft sind hier wohl in erster Linie die Kirchen herausgefordert. „Ohne Versöhnung ist europäische Einigung nicht möglich.“ Der Satz behält, so steht zu vermuten, seine Gültigkeit noch lang.

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