Ausgabe 1 / 2012 Artikel von Inge v. Bönninghausen

Europa so fern – und doch so nah

Brüsseler Impulse für Gleichstellung von Frauen

Von Inge v. Bönninghausen


Europa war eine wunderschöne phönizische Prinzessin, in die sich der griechische Göttervater Zeus verliebte. Um dem Zorn seiner eifersüchtigen Gattin zu entgehen, näherte er sich der Prinzessin in Gestalt eines prächtigen Stiers und entführte sie aus ihrer asiatischen Heimat auf die Insel Kreta …

Wie die Legende es will, waren die Griechen begeistert vom Liebreiz Europas und benannten nach ihr alle Länder, die sie neu entdeckten. Hat sich Europa seiner mythischen Wurzeln würdig erwiesen und die Frauen besonders liebevoll behandelt?

Es begann eher rau mit Stahl und Kohle. Nicht zuletzt der Kampf um diese wichtigsten industriellen Ressourcen hatte Europa zwei Mal in Schutt und Asche gelegt. Hier setzten die Überlegungen an, den Frieden zu sichern über eine gemeinsame Verwaltung der Montanindustrie. Weder Kohle noch Stahl sollten für kriegerische Zwecke eines Landes genutzt werden können. Und so schlossen sich 1952 Belgien, Frankreich, die Niederlande, Italien, Luxemburg und die Bundesrepublik Deutschland zur Montanunion zusammen. Wenige Jahre später erweiterten sie das Bündnis zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Die Römischen Verträge sind ihre Grundlage. Auf dem gemeinsamen Markt sollten alle zu gleichen Bedingungen konkurrieren – und hier kommen die Frauen ins Spiel. Sie hätten den Wettbewerb verzerren können, denn aufgrund der überall niedrigeren Frauenlöhne wäre dasjenige Land im Vorteil gewesen, in dem besonders viele Arbeitnehmerinnen beschäftigt waren. Nur aus diesem Grund legte Artikel 119 des EWG-Vertrags gleichen Lohn für gleiche Arbeit fest.

Gleicher Lohn für gleiche Arbeit

Diesem Artikel heute eine emanzipatorische Absicht anzuheften ist falsch, richtig aber ist, dass er später der wichtigste Bezugspunkt wurde für eine Gleichstellungspolitik, die sich zum Ziel gesetzt hat, alle diskriminierenden Hemmnisse auf dem Arbeitsmarkt zu beseitigen.

Ein wie schwieriges, weil vielschichtiges Vorhaben die Gleichbehandlung im Erwerbsleben tatsächlich ist, hat sich bei jedem neuen Schritt in diese Richtung erwiesen. Als Brüssel beispielsweise 1979 dafür sorgte, dass Frauen auf alle gesetzlichen und betrieblichen Sozialleistungen denselben Anspruch haben wie Männer, was bis dahin genauso wenig selbstverständlich war wie Schutz-maßnahmen für erwerbstätige Schwangere und Stillende, hat man nicht damit gerechnet, dass genau diese Maßnahmen die Einstellung von Frauen behindern würden. Den Arbeitgebern war das Risiko zu groß.

Der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft traten bald Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich (1973), Griechenland (1981), Spanien und Portugal (1985) bei und zehn Jahre später Finnland, Österreich und Schweden. Gerade diese drei Länder brachten ihre sehr fortschrittliche Frauenpolitik mit nach Europa. Die spätere Osterweiterung hat dagegen eher bremsend gewirkt.

Grundwert Gleichstellung

Neue Impulse kamen von den Vereinten Nationen und insbesondere von der
4. Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking. Weltweite Frauenbewegungen hatten die Erkenntnis durchgesetzt, dass die gesellschaftlichen Rollen von Frauen und Männern nicht von Natur aus fest gelegt sondern veränderbar sind, und dass politische, wirtschaftliche und kulturelle Faktoren zusammen wirken bei der Diskriminierung von Frauen. Die Schlussfolgerung: Wer das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen aufheben will, muss dieses Ziel bei jeder Entscheidung im Blick habe. Das Abschlussdokument der Weltfrauenkonferenz nennt dieses Vorgehen Gender Mainstreaming.

Die nationalen Regierungen hatten sich in Peking auf eine umfassende Gleichstellungspolitik verpflichtet und standen genauso wie das Europäische Parlament und die Kommission unter dem Druck von Frauengruppen und -verbänden, deren Mitglieder zu Zigtausenden am Forum der Nichtregierungsorganisationen teilgenommen hatten, das parallel zur Pekinger Konferenz stattfand. Dieser Druck bewirkte in Europa eine bedeutsame Wende durch den Vertrag von Amsterdam 1997. Die Gleichstellung von Frauen und Männern wird darin über die Beschäftigungspolitik hinaus auf alle Bereiche erweitert und vor allem zum Grundwert und zur Gemeinschaftsaufgabe der Union erklärt. Alle Mitgliedstaaten sind zur Gleichstellungspolitik verpflichtet und Gender Mainstreaming ist die wichtigste Strategie.

Um das komplizierte Funktionieren der EU zu verstehen, muss man bedenken, dass sie ein weltweit einmaliger Versuch ist, unabhängige Nationalstaaten so zusammen zu schließen, dass einerseits die Autonomie gewahrt bleibt und andererseits größtmögliche Gleichheit der Lebensbedingungen erreicht wird. Dazu sind ständige Übereinkünfte nötig, und so ist ein System entstanden, das den Bürgerinnen und Bürgern in der Union undurchsichtig und fremd erscheint. Das ist nachvollziehbar, und dennoch lohnt es sich, die Distanz zu überwinden, weil die Beschlüsse der Union jede und jeden betreffen.

Die Partnerschaft der heute 27 Länder beruht auf Verträgen, die von allen freiwillig und in einem demokratischen Verfahren unterschrieben werden. So, wie sich die Union erweitert und die Beziehungen vertieft haben, wurden auch die Verträge weiter entwickelt, zuletzt 2009 im Vertrag von Lissabon.

Auf der Basis der Verträge erarbeitet die Kommission Vorschläge für die Umsetzung der gemeinsamen Ziele. Das kann eine für alle verbindliche Verordnung sein (z.B. zur Kennzeichnung von Öko-Produkten) oder eine Richtlinie, die ein verpflichtendes Ziel vorgibt, es aber dem Mitgliedstaat überlässt, ob er dieses Ziel durch eine Weiterentwicklung bereits bestehender Gesetze erreicht oder durch ein neues Gesetz. Außerdem gibt es noch unverbindliche Empfehlungen und Stellungnahmen. Ein Vorschlag der Kommission wird im Rat der Europäischen Union (die Regierungen der Mitgliedstaaten) und dem Europäischen Parlament beraten und schließlich verabschiedet. An den Diskussionen im Vorfeld kann sich jede Bürgerin über die Website der Union beteiligen.

Gleichstellungs-Strategien

Die Union hat 13 gleichstellungswirksame Richtlinien erlassen, von denen sie sieben zusammen gefasst hat in der „Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Frauen und Männern in Arbeits- und Beschäftigungsfragen“ (2006/54/EG). Im Fokus stehen die drei Bereiche Zugang zur Beschäftigung einschließlich des beruflichen Aufstiegs, die Arbeitsbedingungen einschließlich der Bezahlung und die betrieblichen Systeme der sozialen Sicherheit. Auf den Punkt gebracht ist in allen drei Bereichen jegliche Diskriminierung von Frauen verboten.

Außer zu Arbeits- und Beschäftigungsfragen hat die EU mehrere Richtlinien erlassen, die die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der „Rasse“ und ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung oder der sexuellen Orientierung verbietet. In der Bundesrepublik wurde über die Umsetzung dieser Richtlinien in nationales Recht jahrelang heftig gestritten, bis dann 2006 das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG) zustande kam. Die damals von Gegnern des Gesetzes verbreiteten Horrorszenarien permanenter Gerichtsverfahren sind
in keiner Weise Wirklichkeit geworden.

Festzuhalten ist, dass es ohne die verpflichtende Vorgabe aus Brüssel den gesetzlichen Schutz vor Diskriminierung in Deutschland nicht geben würde. Ebenso wenig gäbe es das Gender Mainstreaming als Instrument, um Gleichbehandlung zu erreichen. Dieser so verpönte Begriff, den sich – anders als Meeting Point und Shareholder Value – angeblich niemand merken kann, hat sich gegen hartnäckige Widerstände durchgesetzt und mit ihm die Einsicht, dass die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern eine Aufgabe für alle Politikbereiche sein muss.

Aber auch die Europäische Kommission ist noch weit davon entfernt, nach dieser Einsicht zu handeln. Im Wesentlichen bezieht sich ihre Gleichstellungspolitik auf den Bereich Arbeit und Beschäftigung. Bis vor einem Jahr war sie beim Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Chancengleichheit angesiedelt. Jetzt gehört dieser Aufgabenbereich zu Justiz, Grundrechte, Bürgerschaft. Das mag gerechtfertigt sein, wenn man von dem Grundsatz „Frauenrechte sind Menschenrechte“ ausgeht, nur muss sich erst noch erweisen, ob auf dieser Basis Frauen- und Genderpolitik effektiv voran getrieben wird.

Die seit 2010 amtierende Kommission hat eine Frauen-Charta vorgelegt und Strategien für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2010-2015. Inhaltlich spezifizieren die Strategien die allgemeiner gehaltene Frauen-Charta. Das Arbeitsprogramm hat sechs Schwerpunkte:

– wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen
– gleiches Entgelt für gleiche oder gleichwertige Arbeit
– Gleichstellung der Geschlechter in Entscheidungsprozessen
– Schutz der Würde und Unver-sehrtheit – der Gewalt aufgrund des Geschlechts ein Ende setzten
– Gleichstellung über die europäische Union hinaus
– Querschnittsaufgaben

Solche Programme für mehrere Jahre sind das übliche Verfahren in allen Politikbereichen der Union. Auch dieses „Strategie“ genannte Programm wird heruntergebrochen auf enger umschrie-bene Aufgaben, die auf unterschiedlichen Wegen angegangen werden. Eine verpflichtende Richtlinie ist die Ausnahme und auch europaweite Kampagnen sind eher selten. Der übliche Weg geht über die Mitgliedstaaten, die viel Spielraum für eigene Prioritäten haben. Für ihre Projekte zur Umsetzung des Programms bekommen sie Geld aus dem Europäischen Sozialfond (ESF). Der Bundesrepublik stehen 9,4 Milliarden Euro für die Förderperiode 2007-2013 zur Verfügung, die sich zu 40 Prozent auf den Bund und 60 Prozent auf die Länder verteilen.

Europäische Politik vor der Haustür

Wo kann die normale Bürgerin sehen und beurteilen, was europäische Frauenpolitik ausmacht? Am ehesten beantwortet diese Frage ein Blick auf die in Deutschland geförderten Projekte. Für die Zuteilung von ESF-Mitteln ist auf Bundesebene das Ministerium für Arbeit und Soziales federführend zuständig. Um das strategische Ziel „Wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen“ zu erreichen, hat es Programme ausgearbeitet und öffentlich ausgeschrieben, so dass Trägerorganisationen sich bewerben können.

Ein Beispiel ist das Programm Gute Arbeit für Alleinerziehende. Es will solchen Müttern (oder auch Vätern) den Weg in die Erwerbstätigkeit ebnen, die von Hartz IV leben oder wegen des geringen Verdienstes auf Aufstockung angewiesen sind. Diese Gruppe, die insgesamt ein Drittel der Alleinerziehenden ausmacht, soll auf vielfältige Weise unterstützt werden, zumal bekannt ist, dass die meisten hoch motiviert sind, wieder zu arbeiten und vor allem besser bezahlte Tätigkeiten suchen. In diesem Programm werden 77 Projekte gefördert, die immer mehrere Träger in Kooperation durchführen. So arbeitet in Köln die ARGE zusammen mit der Volkshochschule, dem Verein „Frauen gegen Erwerbslosigkeit“ und dem „Vingster Treff“. 200 freiwillig Teilnehmende pro Jahr, unter ihnen vor allem auch Migrantinnen, durchlaufen individuell und in Gruppen drei Phasen der Aktivierung, Integration und Stabilisierung. Dieser Ablauf ist in allen Projekten gleich, unterscheidet sich aber in den Details je nach den örtlichen Gegebenheiten. In Köln gehört zum Beispiel ein vierwöchiger Intensivaufenthalt für besonders unterstützungsbedürftige Alleinerziehende außerhalb Kölns mit Kinderbetreuung zum Programm. Im Freiburger Projekt Perspektive PLUS arbeiten das Weiterbildungszentrum und der Diakonieverein mit der ARGE zusammen. Hier wird besonderer Wert auf die Begleitung und Weiterbildung nach der Vermittlung in einen Job gelegt.

Gute Arbeit für Alleinerziehende ist nur ein Beispiel für den Weg, den die Umsetzung des politischen Ziels der Gleichheit von Frauen und Männern nehmen kann. Am Anfang steht der alle Mitgliedstaaten verpflichtende Vertrag, es folgen Richtlinien, politische Statements wie die „Frauen-Charta“, Strategien, Programme und Projekte, die schließlich das so weit entfernte „Europa“ vor die eigene Haustüre bringen. Wenn sie da ankommt, ist europäische Politik als solche kaum mehr erkennbar. Eines der größten Versäumnisse der Gemeinschaft ist sicher, dass sie sich viel zu wenig darum kümmert, ihre Politik für die Bürgerinnen und Bürger sichtbar und verständlich zu machen.

Wenn man zurückblickt auf die Jahrzehnte europäischer Frauenpolitik, dann hatten die Aktivitäten rund um die Erwerbsarbeit gerade für Frauen in Deutschland eine besondere Wirkkraft. Die ideologischen Vorbehalte gegenüber außerhäuslicher bezahlter Arbeit von Frauen waren hier – jedenfalls im Westen der Republik – besonders tief verwurzelt. Die europäische Politik und die Vorbilder in anderen Mitgliedstaaten haben Veränderungen in der Kinderbetreuung ebenso befördert wie die Debatte über Lohnungleichheit und die „gläsernen Decke“ über beruflichen Karrieren. Es kann gut sein, dass auch hier die Europäische Union ein Machtwort sprechen wird. Die Justizkommissarin Viviane Reding will bis 2015 erhebliche Fortschritte bei der Besetzung von Führungspositionen mit Frauen sehen und andernfalls eine 30-Prozent-Quote durchsetzen. Dabei kann sie sich auf die „Frauen-Charta“ stützen, in der es heißt: „Wir bekräftigen unser Engagement, auf eine faire Vertretung von Frauen und Männern in Führungspositionen im öffentlichen Leben und in der Wirtschaft hinzuwirken. Wir werden unsere Befugnisse dazu nutzen, die Stärkung des Anteils von Frauen in verantwortlichen Positionen voranzutreiben.“

Dr. Inge v. Bönninghausen, Jg. 1938, arbeitete nach dem Studium als freie Journalistin, bevor sie 1974 als Fernsehredakteurin zum WDR ging. Neben und nach ihrer beruflichen Tätigkeit engagiert(e) sie sich in Deutschland und auf internationaler Ebene in der Lobbyarbeit für Frauen.

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