Ausgabe 2 / 2005 Artikel von Brunhilde Raiser

Evangelisch und frauenbewegt

Eine ganz persönliche typische Frauenhilfe-Geschichte

Von Brunhilde Raiser

„Evangelisch und frauenbewegt“ klingt – selbstverständlich? Leichter verständigen sich die meisten  evangelischen Frauen darauf, dass „evangelisch und mit und für Frauen arbeiten“ zusammen gehört. Noch schwieriger wird es, wenn nicht von „frauenbewegt“, sondern von Frauenbewegung oder gar Feminismus die Rede ist.

In der Präambel ihrer Satzung formuliert die Evangelische Frauenhilfe in Deutschland: „Die EFHiD nimmt ihre Arbeit für und mit Frauen wahr in der Bindung an das Wort der Bibel und im Vertrauen auf die Verheißung des Evangeliums von Jesus Christus. In der ständig neuen Auslegung der Bibel werden Auftrag und Herausforderung für Gegenwart und Zukunft entdeckt.“ Um diese Sätze gab es noch vor knapp 15 Jahren innerhalb unseres Verbandes heiße Diskussionen. Inzwischen sind sie für die große Mehrheit evangelischer Verbandsfrauen ebenso selbstverständlich wie für Frauen, die deren Angebote nutzen. Aber der Weg dahin war lang und mühevoll. Diesen Weg will ich versuchen zu skizzieren. Ich will aufzeigen, worin für mich die Verbindungen bestehen. Vorauszuschicken ist, dass meine Erfahrungen die einer Frau sind, die acht Jahre nach Kriegsende im Westen Deutschlands geboren ist und auch immer nur da gelebt hat. Das ist besonders wichtig, wenn ich im Folgenden Linien ziehe zwischen meiner eigenen Entwicklung und der der Evangelischen Frauenhilfe.

In meinem Theologiestudium hatte ich keinerlei Berührung mit Feministischer Theologie. Befreiungstheologie kam nicht vor, kontextbezogene Ansätze waren kein Thema. Auch mein Germanistik- und Geschichtsstudium war frei von jeglichem geschlechtsspezifischen Ansatz, von inklusiver Sprache keine Spur. Ganz anders waren dagegen meine Erfahrungen jenseits von Studium und Kirche. Durch meinen Mann war ich befreundet mit der Führerin der römischen Feministinnen. Sie nahm mich, trotz meiner geringen Italienisch-Kenntnisse, immer wieder zu Veranstaltungen mit. Langsam verstand ich ihr Anliegen, sah die Verbindung zu meiner eigenen Lebensgeschichte, der meiner Mutter und anderer Frauen. Mir wurde klar, dass vieles an den jeweiligen Lebensgeschichten und -situationen nicht einfach individuelle Geschichte war. Vielmehr entwickelten sich Lebensläufe so und nicht anders, weil es die Geschichten und die Erfahrungen von Frauen waren. Ich entdeckte, dass die geringere Wertschätzung von Frauen, ihre oft sehr gefährdete Existenzsicherung, ihr Nicht-Wahrgenommenwerden, ihre Unterdrückungs- und Gewalterfahrungen System hatten. Endgültig wach gerüttelt wurde ich durch zwei Erlebnisse an einem Abend des Jahres 1977 in Rom. Die römischen Feministinnen hatten zu einer öffentlichen Veranstaltung auf dem Kapitol eingeladen. Der gesamte Platz war umstellt von Polizisten, die ihre Maschinengewehre im Anschlag hatten. Eine schockierende Erfahrung, der sich sofort die nächste anschloss: Die Gruppe zog auf die Piazza Navona. Eine Roma-Frau tanze für uns. Sie tanzte allein – bis ein Mann in die Runde trat, sich zu ihrem Tanzpartner machte und den Tanz bestimmte, ihre Schritte regelrecht abforderte und, so habe ich es damals empfunden, sie „betanzte“. Meine Suche, als junge Theologin darauf Antworten zu finden, begann…

Bereits ab 1979, in der ersten Gemeinde meines Mannes, wurde ich gebeten, mit Frauenkreisen zu arbeiten. Schnell bekam ich Kontakt zum Frauenwerk der Württembergischen Landeskirche, das damals noch Frauenhilfe hieß. Der Ansatz dieser Frauenarbeit – von den Alltagserfahrungen von Frauen auszugehen, sie ernst zu nehmen, Antworten auf sie zu finden aus dem Glauben heraus – entsprach meiner Zugangsweise, auch wenn ich mir dies zuvor nicht bewusst gemacht hatte. Die Weltgebetstagsordnungen 1980 aus Thailand und 1981 von indianischen Frauen taten bei mir, aber auch in der kirchlichen Frauenarbeit ein Übriges. Sextourismus, Gewalt gegen Frauen, die geringe Wertschätzung von Frauen wurden zum Thema. Eng damit verbunden war das Aufbrechen der Tabus, die auf Körperlichkeit und Sexualität lagen. Im Nachhinein staune ich, wie selbstverständlich ich an diese Themen herangegangen bin. Für mich selbst hatte es nie einen Zweifel gegeben, dass Körperlichkeit und Sexualität Gottes gute Gabe sind. Manche Frauen aber habe ich mit meiner Direktheit damals sicher schockiert.
Ab diesem Zeitpunkt war für mich klar: Glaube und gesellschaftliche Verantwortung lassen sich nicht trennen, sondern bedingen einander. Darum ist es für mich unverzichtbar, als Christin gesellschaftspolitisch zu handeln. Die entscheidenden Impulse, die mich vorangebracht haben, kamen aus der Ev. Frauenhilfe und dem Weltgebetstag der Frauen – und aus der nicht-kirchlichen Frauen bewegung.

Ein kurzer Blick in die Entwicklung der Frauenhilfe (West) macht den enormen Wandel deutlich, den diese ab Ende der 70er und vor allem ab Beginn der 80er Jahre vollzogen hat.
Vorweg sei gesagt: Sobald es gelungen war, theologische Begründungen für eindeutig geändertes gesellschafts-politisches Denken und Handeln zu finden, wurde dieses auch vollzogen. Damit blieb die Frauenhilfe ihrem eigenen Anspruch treu, den sie seit ihrer Gründung formuliert und in der letzten Satzung (s.o.) neu bestätigt hat: aus dem Glauben heraus und auf der Grundlage der Bibel zu handeln. Das hatte in den 60er und 70er Jahren noch zur Folge, dass die Frauenhilfe in deutlicher Distanz zur sogenannten Neuen Frauenbewegung1 blieb. Schon bei der Diskussion um die Erweiterung des Grundgesetzes um den Gleichberechtigungsparagraphen hatte sich der „Bote“2 gegen die „äußere Gleichberechtigung“ ausgesprochen. Entscheidend sei, so hieß es 1951, die „schöpfungsmäßige Gleichberechtigung“.
Deutlich anders argumentiert die Frauenhilfe etwa ab den 80er Jahren, wenn sie die Schöpfungstheologie als Beleg für Gleichwertigkeit der Geschlechter heranzieht. Was ist inzwischen geschehen? Die Ergebnisse der feministischen Theologie, aber auch anderer theologischer Zugänge haben eine neue Sicht auf die Schöpfungsberichte, und hier vor allem auf den zweiten ermöglicht.3 Nach anfänglicher Ablehnung, dann vorsichtiger Annäherung wurden Frauen mit dieser Sichtweise vertraut, erkannten sie als vertrauenswürdig, sahen ihre wissenschaftliche Grundlage. Aus dem Schöpfungsbericht ließ sich nicht länger eine Nachrangigkeit der Frau ableiten. Es war theologisch nicht mehr zu begründen, dass der Mann das Erste und Eigentliche sei. Diese Einsicht konnte, nein, sie musste umgesetzt werden auch in gesellschaftspolitisches Handeln. Denn immer klarer wurde erkannt, wie sehr christ liche Traditionen den Lebensalltag von Frauen bestimmten, obwohl sie sich nicht länger biblisch begründen ließen.
Der Wandel im Bewusstsein ist deutlich: Hatte es 1969, ganz im Gegensatz zu den Ansätzen der Neuen Frauenbewegung, noch im Boten geheißen: „Politik ist ja nicht männlich oder weiblich, sondern einfach menschlich“, so findet sich 1979 die Aussage: „Frauenbewegung ist nicht nur negativ zu sehen, die Gleichwertigkeit von Mann und Frau (ist) ein Grundmotiv christlichen Glaubens und die rechtliche Gleichstellung der Frauen in Gesellschaft, Familie und Kirche muss angestrebt werden.“ Auf die Aussage der damaligen Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Rita Süssmuth, „Feministische Theologie ist ein Dienst an allen, vornehmlich aber ein Dienst von Frauen für Frauen“, gibt es positive Reaktion. Ab Mitte der 80er Jahre werden zunehmend auch Themen wie Menschenrechtsverletzungen, Armut und Ausbeutung angesprochen – und das vor dem Hintergrund der Lebensbedingungen von Frauen weltweit. Auch die Theologie der Befreiung wird Anfang der 80er Jahre zum Thema, durchaus stimmig, in der Verbindung mit Feministischer Theologie.

Mit der Dekade „Kirchen in Solidarität mit den Frauen“ des Ökumenischen Rats der Kirchen (1989-1999) wurde auf breiter Basis die Forderung laut nach einem frauenspezifischen Zugang zu Themen auch in den Kirchen. Damit war der Weg frei, weitere Tabuthemen anzugehen. Die weltweite vielfältige Gewalt gegen Frauen wurde benannt und scharf kritisiert. Dabei wurde theologisch argumentiert, zugleich wurden gesellschaftspolitische Veränderungen gefordert. Evangelische Frauen konnten nun mit Frauen und Frauenverbänden ganz anderer weltanschaulicher Ausprägung zusammen arbeiten, gemeinsame Forderungen an die Politik stellen.
Zur großen Enttäuschung der Frauen ist nach Ende der Dekade in weiten Teilen der Kirchen jeglicher geschlechtsspezifischer Ansatz wieder verloren gegangen. Innerhalb der Frauenhilfe aber hatte sich, nicht zuletzt aus der Methode „Frauen lesen die Bibel“, längst ein geschlechtsspezifischer Ansatz der Arbeit entwickelt. Und damit wurden die Theorien der Frauenforschung annehmbar und fielen, wenn auch mit Verspätung, auf bereiteten Boden.

Ein kurzer Blick noch auf zwei weitere Themen, zu denen Frauenhilfe, zu denen die meisten evangelischen Frauen nur mühsam Zugang gefunden haben. Als in den 70er Jahren die „alte“ Debatte der Frauenbewegung um den §218 neu entbrannte, griff der Bote dies nur am Rande auf. Autonomieforderungen, das Aufbegehren gegen männliches Bestimmtsein und gegen aufgesetzte Moral konnten nicht geteilt werden. Und wieder war der Zugang über die Situation, über die Lebenswirklichkeit von Frauen der Schlüssel. Mit ihrem Ansatz, dass die besondere Konfliktsituation von Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen „wollen“, ernst zu nehmen ist, brachten und bringen sich evangelische Frauen in die politische Diskussion ein.4
Besonders herausgefordert waren und sind evangelische Frauen (-verbände), wenn sie zu gleichgeschlechtlichen Lebensformen Position beziehen sollen. Wenngleich die einen auf Grund ihres Glaubenshintergrunds zu keiner Akzeptanz finden können, so hat gerade der biblische/theologische Zugang anderen ermöglicht, gleichgeschlechtliche Lebensformen als gleichwertig anzuerkennen.

Evangelisch und frauenbewegt, das ist meine Geschichte. Sie ist so geworden wie sie ist, weil ich gelernt habe, meine Alltagserfahrungen und meinen christlichen Glauben und mein politisches Handeln aufeinander zu beziehen. Evangelisch und frauenbewegt bin ich, weil diese drei zentralen Bereiche meines Lebens sich gegenseitig herausgefordert und befruchtet haben. Eigentlich eine typische Frauenhilfe-Geschichte.


Für die Arbeit in der Gruppe

Evangelisch und frauenbewegt – was heißt das für Ihre persönliche Geschichte? Schreiben Sie einen Brief an Ihre Freundin und versuchen Sie, ihr Ihre Entwicklung, Ihre Erfahrungen aufzuzeigen: Wann und wodurch waren Sie herausgefordert, Ihr Christinsein mit „frauenbewegt“ oder „feministisch“ zu verbinden? Gab es besondere Erfahrungen, Schlüsselerlebnisse?

Gespräch in der Gruppe: Sie besuchen eine kirchliche Frauengruppe oder -veranstaltung. Wem erzählen Sie davon – und was? Wem würden Sie es nie erzählen – und warum nicht? Wie reagieren Sie auf den Vorwurf: „Ihr seid da ja alle Feministinnen“?

Gruppenarbeit: Jeder Kleingruppe stehen einige aktuelle Tageszeitungen zur Verfügung. Jede Kleingruppe wählt zwei bis drei Nachrichten aus und kommentiert diese bewusst vor dem Hintergrund ihres Christinnen-Seins: Welche christlichen Leitgedanken, welche ethischen Grundsätze, welche biblischen Texte lassen sich auf den Artikel beziehen? Welche Antworten, welche Konsequenzen ergeben sich daraus? (anschließend Austausch im Plenum)

Frauenrechte sind Menschenrechte: Diskutieren Sie diese Feststellung bewusst als evangelische Christinnen. Wo finden Sie in Ihrem Glauben / in evangelischem Verständnis Anknüpfungspunkte und Argumente, die diese Aussage unterstützen?


Brunhilde Raiser, 51 Jahre, hat Germanistik, Geschichte und Theologie studiert und arbeitet verantwortlich in den Gemeinden mit, in denen ihr Mann
als Pfarrer tätig ist. Sie ist Vorsitzende der EFHiD, Mitglied im Präsidium der EFD und seit November 2004  Vorsitzende des Deutschen Frauenrats.

Fußnoten
1 Zu Geschichte und Anliegen der Neuen Frauen bewegung vgl. S. 55-57

2 Vorläufer von frauen unterwegs, Zeitschrift der EFHiD bis 2004
3 Im ersten Buch der Bibel sind während der letzten redaktionellen Überarbeitung zwei unterschiedliche Schöpfungsdarstellungen miteinander verbunden  worden. Die erste steht in 1.Mose / Genesis 1,1-2,4a, die zweite schließt unter Genesis 2,4b-25 an; u.a. aus diesem sog. zweiten Schöpfungsbericht wurde immer wieder die vermeintlich gottgewollte Unterordnung der Frau unter den Mann abgeleitet.

4 Erst im letzten Jahr haben die drei großen evangelischen Frauenverbände gemeinsam versucht, eine „Lösung“ aufzuzeigen für das Problem der Schwangerschaftsabbrüche an der Grenze zur Lebensfähigkeit (sog. „Spätabbrüche“), die das Lebensrecht der Ungeborenen ebenso Ernst nimmt wie die Not der betroffenen Frauen: Argumentations- und Arbeitshilfe zu Fragen des Schwangerschaftsabbruchs, hg. von DEF, EFD und EFHiD. Bezug über die Geschäftsstellen (siehe Impressum S. 83)

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