Alle Ausgaben / 2015 Artikel von Diana Ganguin und Barbara Barthel

Falscher Tröster Alkohol

Abwärtsspiralen haben Auswege

Von Diana Ganguin und Barbara Barthel

Melanie S. ist 42 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder. Sie ist mit ihrem Leben unzufrieden. Sie hat einen Halbtagsjob als Bürofachkraft, nachmittags kümmert sie sich um die Versorgung ihrer Kinder.

Essen kochen, einkaufen, Haushalt, die Kinder durch die Gegend fahren, Engagement als Elternvertreterin, Kuchen backen. Ihr Mann ist beruflich stark eingespannt, kommt abends erst spät nach Hause. Er ist dann auch müde und kaputt. Gespräche finden kaum statt. Hilfe kann sie von ihm nicht erwarten. Sie fühlt sich alleine gelassen, hilflos und überfordert. Für den Abend hat Melanie S. ein Ritual entwickelt. Wenn die Kinder im Bett sind, trinkt sie in aller Ruhe ein bis zwei Gläser Wein. Sie sitzt dann auf ihrem Sofa, kann entspannen und den Tag ­Revue passieren lassen. Das Glas Wein wird zu ihrem Seelentröster und ihrem Gefährten, der sie versteht. Das Glas Wein gibt ihr die nötige Ruhe und die ersehnte Entspannung. Ihr Leben erscheint ihr dann nicht mehr so trostlos. Im letzten Jahr ist aus dem einen Glas immer mehr geworden. Jetzt ist es schon eine ganze Flasche.

Melanie S. ist traurig, unzufrieden und verzweifelt. So hatte sie sich ihr Leben nicht vorgestellt. Durch den vermehrten Alkoholkonsum schläft sie zunehmend schlechter, kommt morgens nicht aus dem Bett und ist den ganzen Tag über gereizt. Die Stimmung in der Partnerschaft wird immer schlechter. Die Geduld mit ihren Kindern lässt nach. Zeit und Lust sich mit Freundinnen zu treffen hat sie auch keine mehr. Eine Freundin spricht Melanie S. auf ihr verändertes Verhalten an und rät ihr, sich professionelle Hilfe zu suchen. Sie gibt ihr auch die Nummer der Suchtberatung.

So kommt Melanie S. in die Offene Sprechstunde der „Suchtberatung für Frauen“, einer Einrichtung des Diakonischen Werkes in Hannover. Im ersten Gespräch ist sie völlig verunsichert. Sie weint viel, weiß nicht recht, was sie hier soll. Doch schon im zweiten Gespräch bricht alles aus ihr heraus. Hier kann sie alles loswerden: die Verzweiflung, die Überforderung, die nicht mehr vorhandene Zuneigung zu ihrem Partner, die Selbstzweifel und das Gefühl versagt zu haben. Melanie S. bekommt von nun an wöchentliche Einzelgespräche und geht einmal in der Woche in die Orientierungsgruppe. In der Gruppe trifft sie Frauen, die sie verstehen, die ähnliches erlebt haben und die in ähnlichen Si­tuationen stecken. Melanie S. fühlt sich verstanden und angekommen. Sie beschließt, in Zukunft auf den Alkohol zu verzichten.

Wege aus der Sucht

Die Beraterin zeigt Melanie S. die unterschiedlichen Wege auf, die jetzt möglich sind:

– Sollte es Melanie S. nicht schaffen, dauerhaft auf den Alkohol zu verzichten, kann sie sich über ihren Hausarzt eine Überweisung für eine Entgiftung holen. Diese kann in jedem Krankenhaus stattfinden oder in einer psychia­trischen Einrichtung in der Abteilung für Suchterkrankungen.

– Nach einer Beratungsphase kann sie eine Therapie beantragen. In der The­rapie geht es neben der Bewältigung der Alkoholproblematik um die Lösung unbefriedigender Lebenssituationen. Möglich ist zum Beispiel eine ambulante Therapie, die in der Beratungsstelle vor Ort stattfindet und von einem halben Jahr bis zu anderthalb Jahren dauern kann. Oder sie wählt eine stationäre Therapie in einer Fachklinik, die 8-16 Wochen dauern kann. Ferner gibt es eine Ganztagsambulante Therapie; hier findet die Behandlung während der Woche von 8 bis 16 Uhr statt und dauert zwischen sechs und zwölf Wochen. Melanie S. kann sich aber auch für eine Kombinationsbehandlung entscheiden, eine Mischung aus ambulanten und stationären Angeboten.

– Die Beraterin unterstützt Melanie S. dabei, das für sie passende Angebot zu finden, und hilft bei der Antragstellung beim zuständigen Rentenversicherungsträger. Der Prozess von der Entscheidungsfindung über die Antragstellung bis hin zum Beginn der Therapie kann sich über mehrere Monate bis zu einem halben Jahr hinziehen.

Ursachen der Sucht

So wie Melanie S. sind auch viele andere Frauen, die in die Beratungsstelle kommen, in sogenannten „normalen“ Verhältnissen aufgewachsen und im Verlauf ihrer Lebensbiografie in die Alkoholabhängigkeit geraten. Dabei stehen vielfältige Probleme in der Partnerschaft und Überforderungen durch die Familie im Vordergrund. Die Frauen funktionieren in der Familie, im Beruf und im sozialen Kontext. Dabei passen sie sich an die Bedürfnisse anderer an und glauben, allen alles Recht machen und alles perfekt bewältigen zu müssen. Hintergrund für dieses Fühlen und Handeln ist oft ein Selbstwertgefühl, das sich in der Kindheit und Jugend nicht ausreichend entwickeln konnte oder sich durch die Lebensereignisse abgebaut hat. Bei vielen Frauen kommen verstärkend die Abwertungen seitens des Partners oder anderer Bezugspersonen hinzu, gegen die sie sich nicht wehren beziehungsweise durchsetzen können. Das bei den meisten suchtmittelabhängigen Frauen schon zuvor stark eingeschränkte oder gestörte Selbstwertgefühl verringert sich durch die Abhängigkeitsentwicklung noch weiter. Der Alkohol zerstört zusätzlich das Selbstvertrauen.

Die Motive für das Suchtverhalten von Frauen können vielfältig sein. Meist gibt es nicht die eine Ursache, sondern es besteht ein Bündel von seelischen Problemen, mit denen sie versuchen fertig zu werden. Das problematische Trinken von Alkohol stellt zunächst einen Bewältigungsversuch dar. Damit sollen Defi­zite und Nöte, wie starke Unzufriedenheit, Überbelastung, Depressionen, Einsamkeit oder diffuse Angstzustände be­wältigt werden. Kurzfristig spüren die Frauen Erleichterung und Entspannung, langfristig nehmen die Schwierigkeiten zu, die sich durch die Alkoholeinnahme noch verschlimmern. Lösungswege werden vermieden.

Viele der Frauen, die zu uns in die Be­ratungsstelle kommen, haben eine schwierige Kindheit und Jugend erlebt. Sie sind in Elternhäusern mit belastetem Hintergrund aufgewachsen – wie suchtkranke oder psychisch kranke Elternteile – oder sie haben Verluste durch Tod oder Trennung von einem Elternteil erlitten. Nicht selten sind die Frauen, die zu uns kommen, in ihrer Kindheit stark emotional vernachlässigt worden, manchen fehlen frühe Bindungen zu den Eltern. Viele von ihnen haben in ihrer Kindheit oder Jugend sexuelle Gewalt erfahren müssen.

Um aus der Herkunftsfamilie heraus zu kommen, hat ein großer Teil der Frauen eine frühe Partnerschaft angestrebt, die oftmals wieder gescheitert ist. Sie haben früh das erste Kind bekommen, nach der Trennung waren sie für ihr Kind allein verantwortlich. Eine Berufsausbildung fehlte, und so haben sie für sich und ihr Kind keine ausreichend sichere existenzielle Grundlage. Weitere Partnerschaften verlaufen oft unbefriedigend, da sich die Frauen erneut in eine völlige Abhängigkeit zum Partner begeben.

Mehr als die Hälfte der Frauen, die in die Suchtberatungsstelle kommen, weisen neben der Alkoholabhängigkeit zusätzliche psychische Erkrankungen wie Depressionen, Ängste, eine emotional ­in­­stabile Persönlichkeit oder Posttraumatische Belastungsstörungen auf. Hinzu kommen soziale Nöte: ein Leben an der Armutsgrenze durch geringes Einkommen wie Hartz IV, unzureichende berufliche Perspektiven, Konflikte mit Ex-Partnern wegen Besuchsregelungen und fehlender Unterhaltszahlungen.

Suchtverhalten von Frauen

Alkoholabhängige Frauen verhalten sich meist unauffällig und angepasst. Frauen mit Alkoholproblemen trinken eher heimlich, verborgen in den eigenen vier Wänden. Wenn sie durch den übermäßigen Alkoholkonsum auffallen, erleben sie in ihrem Umfeld weit mehr Ablehnung und Abwertung als alko­holabhängige Männer, insbesondere dann, wenn sie Mütter sind. Die landläufige Meinung ist: „Wie kann sie so etwas nur tun, wo sie doch Kinder hat?“

Eine Alkoholabhängigkeit zeichnet sich durch zwanghaftes Trinken aus, das nicht unter Kontrolle zu bekommen ist. Die meisten Frauen leiden wegen ihrer Alkoholproblematik unter massiven Scham- und Schuldgefühlen. Sie haben die ihnen gegenüber negativen Bewertungen für sich verinnerlicht und sind ständig damit beschäftigt, das Trinken zu verbergen. Wenn sie sich in der Suchtberatung öffnen, berichten sie vom Verstecken der Alkoholflaschen in Schränken und an verschiedensten Orten der Wohnung. Sie kaufen in den unterschiedlichsten Geschäften beziehungsweise Supermärkten ein, damit der häufige Kauf von Alkohol keinem auffällt. Die Alkoholfahne verdecken sie mit Parfum oder Pfefferminz.

Da sich die Suchterkrankung schleichend über mehrere Jahre entwickelt, funktionieren die Frauen zunächst noch gut. Kinder und Haushalt sind versorgt, und die Aufgaben am Arbeitsplatz werden erfüllt. Im Verlauf der zunehmenden Alkoholabhängigkeit aber schaffen viele es nicht mehr ihren Alltag zu bewältigen. Die Auswirkungen der Sucht werden zunehmend auffälliger. Die Frauen ziehen sich aus ihrem bisherigen Umfeld zurück und vermeiden soziale Kontakte. Wenn sie abends trinken und dabei unauffällig bleiben wollen, können sie sich ja nicht mit anderen Menschen treffen und müssen sich daher Ausreden einfallen lassen. Innerhalb der Familie werden die Konflikte nicht gelöst, sondern verdrängt. Das Familiensystem gerät durcheinander, was erhebliche Folgen für die Partnerschaft und die Kinder hat. Hinzu kommt die Angst, dass die Kinder weggenommen werden könnten.

Der Negativkreislauf ist in Gang gekommen. Zunehmend geraten die Frauen in Isolation und Vereinsamung, was ihre Alkoholabhängigkeit weiter vorantreibt. Durch den Alkohol entstehen Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen mit Weinen und Wutausbrüchen, Leistungseinschränkungen und weitere Folgeerkrankungen wie Depressionen und Ängste. Frauen berichten, dass sie im betrunkenen Zustand von ihren Partnern massiv abgewertet und nicht selten auch geschlagen werden. Im Nachhinein nehmen sie das dem Partner nicht einmal übel, da sie sich wegen ihres Trinkens und entgleisten Verhaltens schuldig fühlen. Partner von alkoholabhängigen Frauen trennen sich viel schneller als Partnerinnen von alkohol­abhängigen Männern. Ein großer Teil der Klientinnen in unserer Beratungsstelle berichtet, dass ihre Partner nicht bereit waren, sie in ihren Ausstiegsbemühungen aus der Sucht zu unterstützen. Diese Partner lehnen es sogar ab, im Zusammensein mit ihrer Frau auf Alkohol zu verzichten. Das erschwert es den Frauen zusätzlich, in die Abstinenz zu kommen. Bekannt sind uns auch Frauen, die über ihren alkoholkranken Partner selbst in die Abhängigkeit geraten sind. Wenn beide Partner alkoholabhängig sind, ist der Ausstieg aus der Sucht erheblich schwieriger.

Wie kann ich mit dem Thema in meiner Gruppe umgehen?

Wenn Sie sich in ihren Gruppen mit dem Thema „Frau und Sucht“ beschäftigen, sollten sie auch ihren eigenen Konsum näher betrachten. Wie viel Alkohol darf ich eigentlich trinken? Was ist für den Körper und für die Psyche noch gesund? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat dazu eine Tabelle mit unterschiedlichen Konsummustern herausgegeben. Die Tabelle kann helfen, dass jede Frau ihren eigenen Konsum hinterfragen kann.

Konsummuster
                                            Männer                                             Frauen
risikoarmer                bis zu 24 g Alkohol                                   bis zu 12g
Konsum                     pro Tag

riskanter Konsum       > 24-60 g                                                 > 12-40 g   

gefährlicher
Konsum                     > 60-120 g                                                > 40-80 g  

Hochkonsum              > 120 g                                                     > 80 g

Dabei entsprechen 10 g reiner Alkohol einem Standardglas Wein (0,125 l), einem Standardglas Bier (0,25 l) oder einem Standardglas Spirituosen (4 cl). Um risikoarm zu konsumieren, sollten Frauen somit nicht mehr als ein Standardglas Alkohol am Tag trinken und zwei alkoholfreie Tage in der Woche einhalten. Ganz bewusst hat die Weltgesundheitsorganisation auf die Begrifflichkeit „gesunder Konsum“ verzichtet und spricht stattdessen vom „risikoarmen Konsum“. Es soll deutlich werden, dass Alkoholkonsum niemals gesund sein kann.

Gibt es unter Ihren Bekannten, Freundinnen oder Kollegen eine Frau oder einen Mann, bei der oder dem sie denken, dass er oder sie zu viel Alkohol trinkt? Dann scheuen Sie sich nicht, das Thema vorsichtig, aber direkt anzusprechen. Frauen wie Männer kommen erst in eine Veränderungsbereitschaft, wenn sie einen „Leidensdruck“ spüren. Ähnlich wie Melanie S. brauchen die meisten Frauen erst den Hinweis von außen, damit sie selber bemerken, dass ihr Trinkverhalten die Grenzen des normalen (risikoarmen) Konsums überschritten hat.

Wir kennen Alkohol als ein Genussmittel zu einem guten Essen, an einem lauen Sommerabend auf der Terrasse…; und doch sollte jede ihren Alkoholkonsum auch einmal kritisch hinterfragen. Trinke ich Alkohol wirklich nur zum Genuss oder setzte ich ihn als „Allzweck-Lösungsmittel“ ein? Trinke ich Alkohol, weil ich lustiger sein will? Weil ich schlecht schlafen kann? Weil ich mich nach einem anstrengenden Tag belohnen will? Weil ich dann meine Meinung offen sagen kann? Weil ich sonst nicht vernünftig abschalten kann? Weil ich verzweifelt, einsam, traurig oder einfach nur glücklich bin? Vielleicht geht es mir dann auch schon so wie Melanie S.?

Die richtigen Fragen, die sich auch in einer Frauengruppe gut besprechen lassen, sind: Wie kann ich anders mit meinen Gefühlen umgehen? Wie komme ich für mich zur Entspannung? Wie kann ich meine Energiespeicher wieder auftanken? Wie kann ich gut für mich sorgen? Mit wem kann ich reden?

Diana Ganguin, 39 Jahre, und Barbara Barthel, 63 Jahre, sind Dipl.-Sozialarbeiterinnen und Suchttherapeutinnen. Beide arbeiten seit vielen Jahren gemeinsam in Hannover in der Sucht­beratung für Frauen (Beratung und ambulante Rehabilitation).

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