Ausgabe 2 / 2011 Frauen in Bewegung von Hildburg Wegener

Feministisch-theologische Reflexion des eigenen Alterns

In der Abendsonne auf dem Balkon

Von Hildburg Wegener

„Wir suchen eine ältere Frau, die das eigene Altern und dessen Freuden und Beschwernisse persönlich (feministisch-) theologisch reflektiert: Nachlassen der Kräfte – wenn auch nicht des inneren Engagements und der Begeisterungsfähigkeit; keine Zeit mehr haben, um Pläne zu verwirklichen …“ So lautete die Aufgabe, die mir von den Evangelischen Frauen in Deutschland gestellt wurde.

Ein kleiner Stich war das schon. Sie suchen eine ältere Frau und da falle ich ihnen ein? Ich bin doch nicht nur innerlich engagiert, ich bin aktiv in meinen Ehrenämtern, habe Projekte und Pläne. „Freuden und Beschwernisse des Alters“ klingt auch so abgeklärt und resigniert. Ich assoziiere „kleine Freuden“ und sehe vor mir eine gebrechliche alte Frau, die in der Abendsonne auf ihrem Balkon sitzt und sich am Singen der Vögel freut.

Aber die Frauen haben ja Recht. Ich werde in diesem Jahr 70. Das Thema Altwerden beschäftigt mich und die Frauen in meinem „Damensalon“, die sich seit vielen Jahren bei mir treffen, schon eine ganze Weile. Es sind Frauen aus Frauenarbeit und Kirche, und ich bin die jüngste. Da bleibt es nicht aus, dass wir über Krankheiten, Operationen, Depressionen, den Verlust des Partners, den Umzug in ein Altersheim reden. Wir hören einander zu und überlegen, wie wir selber damit umgehen oder umgehen würden.

Wenn ich über mein Altwerden nachdenke, weiß ich, dass ich in einer privilegierten Situation lebe. Die große Mehrheit der Frauen meiner Generation hat ganz andere Sorgen. Sicher, ich bin Kriegskind, habe Bombenalarm, Evakuierung, Flucht und die beengten Verhältnisse der Nachkriegszeit erlebt. Aber dann kam die Wirtschaftswunderzeit, mein Vater fasste beruflich wieder Fuß, wurde in die USA versetzt. Ich ging auf eine amerikanische Schule, lernte Englisch, die Welt stand mir offen. Ich konnte selbstverständlich studieren, Englisch und Theologie. Als ich Examen machte, war Arbeitslosigkeit noch kein Problem. Ich konnte auf einer Universitätsstelle promovieren, fand schnell interessante Arbeitsstellen, ging mit meinem inzwischen verstorbenen Mann ins Ausland und unterrichtete dort mehrere Jahre an Deutschen Schulen. Dann war ich fast zwanzig Jahre lang Theologische Referentin der Evangelischen Frauenarbeit in Deutschland. Meine Arbeit machte mir Spaß und erfüllte mich.

Auch alternd ist keine Frau jedefrau
Als ich in Rente ging, war meine Hauptsorge, wie es mir gehen würde, wenn ich mich nicht mehr durch meine Tätigkeit bei der Evangelischen Frauenarbeit definieren konnte und von mir keine berufliche Leistung mehr gefordert würde. Wie würde ich mich in einem Kreis von Unbekannten vorstellen?
Als Rentnerin? Wie nichtssagend. Als Theologin? Wie lächerlich, das ist doch kein Zustand. Würde ich überhaupt morgens aus dem Bett kommen und mich ordentlich anziehen? Wozu denn? Bedeutet das Ende der Berufstätigkeit nicht einen Verlust an Identität?

Das ist kein typisches Frauenproblem, aber ich lebe ja auch kein ganz typisches Frauenleben, bin kinderlos, habe eine auskömmliche Rente, meine Arbeits- und Freundschaftsbeziehungen sind immer noch weitgehend fachbezogen und bundesweit. Solche Biographien haben oder hatten jedenfalls eher Männer. Altwerden ist dann zunächst kein Prozess, der an den Veränderungen des eigenen Körpers festgemacht wird oder an der Generationenabfolge, dass Kinder erwachsen werden, dass die Menschen der älteren Generation wegsterben. Altwerden ist ein plötzliches Ereignis, das Ausscheiden aus der Berufswelt, aus der Leistungsgesellschaft. Und stellt vor die Frage: Wer bin ich? Was ist der Sinn meines Lebens? Was bin ich noch wert?

Für die meisten Frauen ist der Beruf aber nur ein Teil ihres Lebens, sie definieren sich, nehme ich an, auch über ihre Kinder, ihren Haushalt und über ihre Ehrenämter. Viele können erst, wenn die Kinder größer sind, eine außerhäusliche Tätigkeit in Beruf oder Ehrenamt annehmen und darin eigene Interessen verwirklichen. Altwerden geschieht dann nicht plötzlich, sondern allmählich und phasenweise, wenn die Kinder das Haus verlassen, wenn sie fürchten müssen, nicht mehr oder ganz anders gebraucht zu werden, wenn sie feststellen müssen, dass ihre auf diese Weise erworbene Rente ihnen Grenzen setzt.

Gemeinsam ist den Familienfrauen wie den Berufsfrauen aber wohl, dass sie beim Altwerden mit ihrem Selbstwertgefühl hadern. Sie haben es dann mit einer doppelten Versuchung zu tun. Sie können sich in Rückzug, Verzicht und Passivität üben, weil sie glauben, dass das von ihnen als alter Frau erwartet wird. Oder sie können mit allen Mitteln versuchen, an dem festzuhalten, was sie haben, seien es Kinder, Beziehungen, Ämter oder auch Jugendlichkeit.

Angenommen mit Haut und Haar
Ich jedenfalls besann mich, wie schon häufiger in schwierigen Lebenssituationen, auf eine theologische Einsicht, die wir zwei Männern verdanken: Paulus von Tarsus und Martin Luther. Ich weiß doch, sagte ich mir, dass ich mich nicht durch meine Leistungen vor Gott und den Menschen und vor allem vor mir selber rechtfertigen kann und muss. Paulus und Luther gewannen mit der Rechtfertigungslehre die befreiende Erkenntnis, dass sie keine Angst mehr haben mussten, vor Gott im kommenden Gericht nicht bestehen zu können. Gott würde sie so annehmen, wie sie sind. Für uns heutige Menschen stellt sich das Problem eher als Frage nach dem Sinn und dem Wert unseres Lebens. Wir müssen uns, so dürfen wir glauben, nicht durch unsere Leistungen definieren, wir müssen nicht verzweifeln, wenn wir uns nutzlos vorkommen, wir dürfen alt und schwach werden und müssen uns nicht schämen. Unser Wert liegt jenseits unserer selbst, in -unserer Beziehung zu Gott und in der Beziehung zu unseren Nächsten, in -denen Gott uns begegnet. Das ist eine gut evangelische und für mich jedenfalls hilfreiche männliche Theologie.

Auf der ersten Tagung zur Feministischen Theologie, 1981 in der Evangelischen Akademie Bad Boll, durchdenkt Elisabeth Moltmann-Wendel diesen Gedanken für Frauen neu. Sie ruft den Frauen zu: „Wer aus den Kräften des bedingungslos liebenden Gottes lebt, ist angenommen mit seiner ganzen Existenz, mit Haut und Haar, Innen und Außen, Negativem und Positivem. Wer in diesem Lebensbereich Gottes lebt, muss heute sagen können: Ich bin gut, ich bin ganz, ich bin schön.“(1)  Sie wendet sich damit gegen das diffuse weibliche Grundgefühl, irgendwie schuldig zu sein und jedenfalls den vielen Anforderungen als Mutter, als Kollegin, als Mitmensch nicht gerecht zu werden: Ich bin in Gottes Augen gut. – Sie fordert mich und alle Frauen auf, ohne Angst und Scham unsere verschütteten Wünsche und dunklen Seiten, unsere Leidenschaften, unsere Wut, unsere Gefühle, unsere Aggressionen zulassen: Ich bin ganz. – Und sie ermutigt uns, uns selbst und unsere Körper so zu akzeptieren, wie sie sind, und uns nicht an gesellschaftlichen Maßstäben von Schönheit und Jugend zu messen: Ich bin schön.

Nur noch tun, was mir wichtig ist
Ich bin gut, ich bin ganz, ich bin schön. Ich bin ich. Das hat mir geholfen, mein „drittes Lebensalter“, bevor ich richtig alt und hilfsbedürftig werde, gelassen und selbstbewusst anzugehen. Vieles ging und geht ja auch einfach weiter. Noch waren zwei Hefte vom Fernstudium Feministische Theologie zu betreuen, das ich mit Gesine Hefft und Herta Leistner übernommen hatte; ich begleitete einen Durchgang als Tutorin und arbeite noch als Referentin bei Direktkursen in verschiedenen Landeskirchen mit. Das bundesweite Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik, das ich für die Evangelische Frauenarbeit mitgegründet hatte, ist zu einem umfangreichen Ehrenamt geworden; das Thema wird durch die Diskussion über die Präimplantationsdiagnostik gerade wieder sehr aktuell. Ich ließ mich zur Vorsitzenden meiner Kirchengemeinde wählen, um einmal eine Aufgabe zu haben, die mich an Menschen in meinem Nahbereich verweist. Und seit einiger Zeit mache ich Hausaufgabenhilfe an einer Berufsfachschule; alle reden von der Integration ausländischer Jugendlicher, dort wird sie konkret.

Ich habe aber das Gefühl, dass ich nicht mehr wie im Beruf einen vorgegebenen Rahmen ausfülle, sondern dass ich erstmals wirklich Subjekt meines Lebens bin und selbstbestimmt das tue, was mir wichtig ist. Dazu gehört, dass ich mich frage: Will ich das? Kann das auch eine andere, Jüngere tun? Und wie kann ich sie dabei unaufdringlich unterstützen? Auch die andere ist ja gut, ganz und schön; es ist an mir, das zu sehen. Dazu gehört natürlich auch, ganz profan, dass ich, wenn es geht, Mittagsschlaf halte. Ich bin schließlich nicht mehr die Jüngste.

Ganz neue Türen öffnen
Und die Zukunft? Ich habe mir vorgenommen, ab meinem 70. Geburtstag nach und nach meine Ehrenämter geordnet und aus freien Stücken abzugeben. Wenn einiges anders oder gar nicht weitergeführt wird, dann ist es auch gut. Jedenfalls erlebe ich den Gedanken, dass nicht alles immer so weitergeht, sondern für mich auch ein Ende haben wird, als Befreiung. Ich freue mich darauf, dann die Hände frei zu haben, um ganz neue Türen zu öffnen.

Ganz einfach ist das natürlich nicht. Manchmal bin ich ängstlich: Werden denn da noch Türen sein? Was wird sein, wenn ich keine selbst gesetzten Aufgaben mehr erfüllen kann, wenn ich krank und pflegebedürftig werde? Dann ist es schon nötig, dass ich mir wieder Mut zuspreche und sage: Ich bin ich gut, ganz und schön. Nicht aus eigenen Kräften, sondern in Gottes Augen. Das wird schon werden.

Und noch einen Trost habe ich, an den ich mich dann erinnere. Eine Frau in meinem „Damensalon“ war Hanna Habermann. Ich kenne sie aus der Südafrika-Boykott-Gruppe der Evangelischen Frauen. Sie hat in ihren letzten Lebensjahren an einem Buch geschrieben, das ihre Freundinnen nach ihrem Tod fertiggestellt und herausgegeben haben.

Sie schreibt: „Ich bin vor einem Jahr 80 Jahre alt geworden. Nach der Diagnose Parkinson im Jahr zuvor und nach dem sehr anstrengenden Umzug in das Alten- und Pflegeheim im Januar 2003, spürte ich einen deutlichen Rückgang meiner Kräfte und einen Fortschritt des Alterns: Ich kann nicht mehr rasch und prägnant reden, ich finde die Worte nicht so schnell oder habe sie ganz verloren. Das zu erfahren war und ist peinlich, beschämend, demütigend.
Doch dann hatte ich einen Einfall, eine Einsicht: Dies kann ich als den Beginn meines Sterbens verstehen. Ich brauche mich nicht zu schämen oder zu entschuldigen. Ich erfahre und lebe jetzt meinen letzten Lebensabschnitt. Wann ich sterbe, weiß ich nicht. Ich lebe eigentlich noch gern, meistens. Aber ich möchte zugleich gern sterben. Das scheint widersprüchlich. Aber der Sterbeprozess hat begonnen, ich bin vergänglich wie alles Leben. Ich bin von der gleichen Kreatürlichkeit wie die Vögel und Blumen, wie Würmer und alles Geschaffene. Aus Staub bin ich gemacht und zu Staub werde ich. Ich bin Teil dieses wunderbaren begrenzten, sterblichen Lebens, auch im Abschnitt des Sterbens.
Ein Glücksgefühl erfasste mich. Leichtfüßig gehe ich meinen Weg. Keine Angst versperrt ihn mir.“(2)

Dr. Hildburg Wegener, geboren 1941, war 1984-2002 Theologische Referentin der Evangelischen Frauenarbeit in Deutschland e.V. EFD.

Anmerkungen:
1 Nachgedruckt in: Elisabeth Moltmann-Wendel, Das Land wo Milch und Honig fließt. Perspektiven einer feministischen Theologie, Gütersloh 1985, S. 155-169; 155
2 Hanna Habermann, Ute Wannig, Barbara Heun, Iren Steiner, Andrea Günter, Selbstbestimmt und solidarisch, Frauen und das Alter, Rüsselsheim 2005, 88f

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