Ausgabe 1 / 2002 Bibelarbeit von Danielle Hauss-Berthelin

Fester Grund für das europäische Haus

Von Danielle Hauss-Berthelin

(Auszug)

„Wer diese meine Worte hört und danach handelt…“ Kluge Menschen bauen auf festem Boden. Aber was ist ein fester Boden? Was ist fester Boden für mich? Dasselbe wie für meine Nachbarn? Ist nicht gerade vieles, das wir als fest und besonders solide ansehen, ebenso schwach und zerbrechlich wie anderes?

Vieles von dem, was wir als solide Grundlage gesehen hatten, können wir vergessen. Unsere wirtschaftliche Sicherheit, der Reichtum Europas oder die politische Stabilität unserer Länder – all das kann sich schnell ändern. Und die gemeinsame jüdisch-christliche Kultur, von der zumindest bei uns in Frankreich so viel geredet wird, können wir als gemeinsame Basis auch vergessen. Die gibt es schon längst nicht mehr, jedenfalls nicht mehr so, wie wir es uns hinter den schützenden Kirchenmauern gerne vorstellen. Von der christlichen Kultur bleiben vielleicht Bruchstücke übrig, aus denen jede und jeder sich eine gewisse Religiosität zusammenbastelt. Ich weiß nicht, ob es in den Ländern mit Religion als Pflichtfach in den Schulen besser ist, aber ich bezweifle es. Unsere Umgangssprache ist zwar noch von biblischen Versatzstücken geprägt, aber die meisten Menschen verbinden nichts Konkretes mehr mit den Worten. Der „gute Samariter“ oder „Sodom und Gomorrah“ sind geläufig, aber die Wenigsten kennen die Geschichten, die dazu gehören. „Eintopfglauben“: von allem ein wenig…, schon beim Wort „Eintopf“ bin ich satt, der Glaubenseintopf vieler meiner Mitmenschen macht mir Angst. Das aus der Bibel herauszupicken, was gerade gebraucht wird, ist recht bequem – nicht nur Einzelne oder Sekten, auch Kirchen können dem verfallen. Klar ist aber, dass auf eine derart bruchstückhafte biblische Kultur nichts allgemein Gültiges aufgebaut werden kann.

Auf was bauen wir dann? Liberté, egalité, fraternité? „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ stand bis vor kurzem auf unserer französischen Währung, und die gleichen großen Prinzipien stehen auch für den Bau Europas. Doch das ist Schaukasten-Theorie. Wir wissen doch alle genau, dass Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Geschwisterlichkeit ganz unterschiedliche Bedeutungen haben, auch innerhalb Europas. Man muss nur einmal Menschen aus Neukaledonien oder Guyana fragen. Viele von Ihnen werden das vielleicht nicht mehr wissen: Das sind französische Gebiete, und alle Menschen dort sind von Geburt an Französinnen und Franzosen, EuropäerInnen also. Aber wenn ich irgendwo sage, dass mein Mann in Nouméa zur Welt kam, dann stellt sich meistens, auch in unserem sogenannten christlichen Milieu, eine große Stille ein, bis schließlich eine(r) fragt: „Ja ist er denn…?“

Wenn aber weder die christliche Kultur noch die großen humanitären Prinzipien der Fels sein können, auf den wir unser Haus bauen können, ist es dann nicht besser zu fragen, was mir in meinem Leben wirklich Halt gibt? Es gibt viele gute Kommentare, Artikel und Bücher zur Bergpredigt, die leicht zugänglich und besser sind als alles, was ich schreiben könnte. Ich möchte daher einfach aufzählen, was für mich persönlich zählt. Und wenn wir es dann miteinander vergleichen, vielleicht finden wir dann den gemeinsamen Grund, auf den wir bauen können. Wesentlich ist für mich an der Bergpredigt, dass Jesus die Menschen dort abholt, wo sie gerade stehen. Trotz seines recht strengen Tons – „Ihr wisst…“, „Verurteilt nicht…“, „Hütet euch…“ – ist niemand von vornherein ausgeschlossen, ist für jede und jeden Veränderung und damit der Eintritt in das Reich Gottes möglich. Auch ich bin angenommen, auch ich habe einen Platz, den niemand mir streitig machen kann, denn Gott gibt den Ton an, nicht die Menschen: das zu wissen gibt mir Halt und ist der feste Grund, auf dem ich stehen kann. Dieses Wissen ist auch der erste Schritt zum Vertrauen. Und wer vertraut, weil sie oder er sich des eigenen Platzes sicher sein kann, hat wirklich etwas vom Evangelium begriffen. Wer vertraut, kann auch denen neben sich ihren Platz gewähren. Jedem Menschen einen Platz zu lassen, den nötigen Lebensraum auch für anderes Denken und Beten, das ist nicht leicht. Aber Jesus geht sogar noch weiter, wenn er vom Vergeben und von der Feindesliebe spricht. Da bedeutet „Glauben“ nicht mehr nur ein Fühlen und Denken, sondern da wird Glauben zum Sein, zur konkreten Lebenseinstellung.

Die Bergpredigt ist voller sehr persönlicher Anweisungen, gedacht zur Erbauung, zur Stärkung und zum Trost jeder und jedes Einzelnen. Der Gemeinde kann es nur gut gehen, wenn es den Einzelnen gut geht, wenn sie sich angenommen und getragen fühlen, wenn sie wissen, dass sie einen Platz haben. Keine Gemeinschaft kann auf Dauer überleben, wenn sie nicht allen den nötigen Lebensraum gibt, wenn sie nicht die Bedeutung auch und gerade der Schwächsten sieht. Eine Welt, in der jeder Mensch Mensch sein darf, davon träumen wir. Warum gelingt es uns nicht, dieses Ziel zu erreichen? Ich denke, weil wir zu oft die Pyramide auf den Kopf stellen, weil wir von der Kirche, vom Staat, von Europa das erwarten, was eigentlich nur von den Menschen an der Basis kommen kann. Selten wächst etwas von oben nach unten. Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit lassen sich ebenso wenig gesetzlich erzwingen wie Glaube, Hoffnung und Liebe. Solche Werte können nur durch Vorleben glaubwürdig, überzeugend werden. Jeder Mensch ist gefragt – also auch du. Nicht der Pfarrer, nicht die Nachbarin, nicht die anderen sind verantwortlich. Wir, wir dürfen nicht schlafen, müssen die Hefe im Teig sein, das Licht auf dem Leuchter! Warum gerade wir? Ganz einfach, weil wir die Botschaft gehört haben und uns unseres Platzes gewiss sind.

Und wenn die Freude am Wort mir nicht mehr genügt, wenn das Leid der Menschen mich belastet und der Mut mich verlässt, dann erinnere ich mich an eine Geschichte aus Lateinamerika. Auf einem steilen, steinigen Weg traf ich ein kleines Mädchen, das eine schwere Last auf dem Rücken trug. „Mein Kind“, sagte ich, „du trägst eine schwere Last!“ Sie sah mich an und sagte: „Es ist keine Last, meine Dame, es ist mein Bruder!“

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