Alle Ausgaben / 2011 Material von Fredy Kunz

Firmeza permanente – Der Widerstand der Armen

Von Fredy Kunz

In unseren Bergen gibt es Menschen, die die Macht haben, Schlangen zu zähmen. Ich weiß nicht, ob das eine natürliche Begabung, Magie oder Gnade Gottes ist. Vielleicht wirken alle drei Elemente zusammen. Eines ist sicher, dass es hier Leute gibt, die fähig sind, allein durch ihr Wort eine Schlange derart zu lähmen, dass sie nicht mehr aus ihrem Versteck herauskann und darin vertrocknen muss.

Ich wollte sehr gerne hinter dieses Geheimnis gelangen. Eines Tages ging ich des Weges mit João Xavier. Er zögerte, doch als ich darauf bestand, beschloss er mich einzuweihen. „Wenn du eine Schlange siehst, nimm den Hut ab und wirf ihn samt deinem Messer zu Boden. Danach sprichst du dreimal folgende Worte: Auf Befehl Sankt -Benedikts – sei gefangen! und drei Ave Maria. Fertig! Jedesmal, wenn du das sagst, mache einen Knoten.“

Drei oder vier Monate später traf ich auf eine Schlange. Ich machte alles so, wie ich es gelernt hatte. Doch die Schlange überquerte die Straße, kam nochmals zurück, bewegte sich wie verrückt und verschwand. Das war kein guter Erfolg. Hatte ich mich geirrt? Tatsächlich erinnere ich mich, dass ich vergessen hatte, den Hut abzunehmen. Auf jeden Fall, es fehlte etwas. Doch ich möchte noch einmal betonen, dass manche Menschen in dieser Gegend mit Sicherheit Schlangen zu zähmen vermögen – und ich sehe deutlich, dass sich diese Macht auch in anderen Umständen des Lebens der Menschen hier zeigt, wie in folgendem Ereignis.

Der Ackerboden der friedlichen Bauerngemeinschaft von Barra do Vento wurde von einem Großgrundbesitzer besetzt. Als eines Tages ohne Ankündigung vierzig Männer des Großgrundbesitzers Feitosa eintrafen, um einen Zaun aufzurichten, wandten sich die Bauern an den Leiter der Arbeitsgruppe und erklärten, dass dieser Boden nicht Feitosa gehöre und dass man keinen Zaun errichten könne, der die Hälfte ihres Bodens abtrenne. Die Arbeiter, die bereits mit den Werkzeugen in der Hand den Gruppenleiter umstanden, erklärten sich nach langem Verhandeln bereit, zu warten, bis zwischen Feitosa und den Bauern ein Übereinkommen getroffen worden sei. Die Antwort des Großgrundbesitzers traf wenig später in Form von Einschüchterungen durch die Polizei ein. …

Fünf Jahre mussten sie um das Recht auf ihren Boden kämpfen und alles, was sie besaßen, dafür opfern. Doch schließlich erklärte sich Feitosa bereit, den Vertrag zu unterzeichnen. Ja, wahrhaftig, er unterzeichnete! Die Verfolgung, die sich durch Morddrohungen, Niederbrennen von Zäunen und so fort geäußert hatte, hörte auf. Die Schlange war die die beharrliche Standhaftigkeit – firmeza permanente – des gewaltfreien Widerstands der Bauern gezähmt worden: „Auf Befehl Sankt Benedikts – sei gefangen!“

Als ich in das Geheimnis, Schlangen zu bändigen, eingeweiht wurde, dachte ich, von nun an könnte mir keine Schlange mehr widerstehen. Ich tat, wie man mich gelehrt hatte, doch ohne Erfolg. Es fehlte mir jene ganz bestimmte Eigenschaft, über welche die Menschen verfügen, die ihr ganzes Leben hindurch auf dem Land um ihr Leben kämpfen müssen, und die ich nicht besitze.

Wir verfügen über Tausende ernstzunehmende, gut dokumentierte Bücher, die das Thema der Befreiung des Menschen, den Kampf um Gerechtigkeit, die Erziehung und die Rechte Unterdrückten, die Rassengleichheit usw. behandeln. Dennoch war die Schlange der Unterdrückten niemals so anmaßend wie heute. Was ist es, das fehlt? Vielleicht eine gewisse Eigenschaft derer, die die Welt zum Guten verändern wollen? Die Kraft der Armen, die Firmeza permanente des gewaltfreien Widerstandes, ist die Zauberformel, die fähig ist, alle Arten von Schlangen zu zähmen.

aus:
Barra do Vento –
das Geheimnis des
Widerstands der Armen
(Brasilien 1978)

Quelle:
Knecht-Gottes-Lieder
Lesebuch aus christlichen
Gemeinden Lateinamerikas
Buchverlag Union
Berlin 1992

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang