Alle Ausgaben / 2011 Artikel von Sarah Käßmann und Michael Rahe

Flashmob statt Bibelstunde?

Solidarität in Zeiten des Internets

Von Sarah Käßmann und Michael Rahe


Anders als Wirtschaftsunternehmen haben viele gemeinnützige Organisationen Nutzen und Bedeutung des Internets als Mittel der Kommunikation noch nicht erkannt. Aber ist das Internet nur ein wirtschaftlicher Markt der unbegrenzten Möglichkeiten – oder gibt es tatsächlich auch ein „social web“?

Das Internet ermöglicht neue Formen der Solidarisierung und Gemeinschaftsbildung. Wie sehen sie aus? Bieten sie Chancen, beispielsweise für Frauenarbeit? Und was können die Kirchen von den neuen Formen der Mobilisierung lernen?

www.sozial?

Stärke und Schwäche sind relative Begriffe. Wer heute schwach wirkt, kann morgen schon stark sein – und umgekehrt. Die Geschichte zeigt, dass der Zusammenschluss mit anderen auch den „Schwachen“ Stärke verleihen kann. Parteien, Frauenvereine und Gewerkschaften tragen bis heute entscheidend zum gesellschaftlichen Fortschritt bei. Die Demokratie lebt davon, dass diejenigen, die heute noch in der Minderheit sind, morgen bereits eine Mehrheit erhalten können. Die Formen und Strukturen, in denen sich Macht in der Demokratie organisiert, verändern sich fortlaufend. Heute mobilisieren Themen wie Stuttgart 21 oder der Kampf gegen Vorratsdatenspeicherung neue Kreise der Gesellschaft – und das mit erheblich weniger zeitlichem Aufwand als noch vor 20 Jahren. Sie verwenden andere Aktionsformen als die sozialen Bewegungen früher. Allerdings sind nicht alle neuen Formen der Kommunikation wirklich so sozial, wie sie sich nennen. In „sozialen Netzwerken“ im Internet wie facebook, StudiVZ oder twitter kann man neue Kontakte gewinnen und Nachrichten austauschen – aber was hat das mit Solidarisierung zu tun, mit dem Zusammenschluss der Schwachen untereinander?

Tatsächlich werden diese sozialen Netzwerke von Unternehmen betrieben, die damit Geld verdienen – meistens durch Werbung bei ihren Mitgliedern. So schaltet facebook zielgerichtet Werbung auf den Seiten derjenigen Mitglieder, die bestimmte individuelle Interessen angegeben haben. Singles bekommen Partnerbörsen angeboten und Verlobte bekommen Anzeigen, wo man Trauringe kaufen kann. Das ist nicht verwerflich – aber sozial im Sinne eines wohltätigen Verhaltens ist es nicht.

www.gemeinschaftsbildung

Ein Unternehmen wie facebook hatte Anfang Juni 2011 689,3 Millionen Mitglieder weltweit. Inzwischen gibt es facebook in mehr als 74 Sprachen, und seine Mitglieder organisieren sich in zahllosen Gruppen mit ganz unterschiedlichen Interessen. Sie haben Spaß am Austausch mit Gleichgesinnten, gewinnen berufliche Kontakte oder schließen Geschäfte ab.

Aber nicht nur das. In Saudi-Arabien wehrten sich Frauen mit Videos auf facebook öffentlich gegen das im Land geltende Fahrverbot für Frauen. Männer starteten daraufhin übrigens eine eigene facebook-Kampagne, die den Aktivistinnen körperliche Gewalt androhte; diese Seite wurde dann von der Plattform entfernt. Eine andere Gruppe gründete sich, um gegen die Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes zu demonstrieren. Mehr als 50.000 Mitglieder sagten zu, keine Weihnachtsartikel vor dem 22. November zu kaufen. 2011 haben Internetaktivisten nach dem Attentat in Norwegen soziale Netzwerke benutzt, um eine „digitale Menschenkette“ zu bilden. Binnen Stunden hatten sich weltweit Zehntausende solidarisch mit den Opfern erklärt.

Viele der Aktionen sind aber auch schlicht Spaßaktionen – etwa die flashmobs, die seit einiger Zeit immer wieder für Aufregung sorgen. Dabei finden sich über das Internet spontan Menschenmassen zusammen, und niemand kann vorhersagen, was als nächstes passieren wird. Es ist gerade dieser spontane Charakter des Internet und seiner Nutzerinnen und Nutzer, der viele so fasziniert. Und grundsätzlich ist
es sicher positiv, dass soziale Netzwerke es den Menschen erleichtern, miteinander in Kontakt zu treten. Wenn dies noch dazu nützt, gesellschaftliche Ungleichheiten zu beseitigen, so trägt es nicht weniger als die traditionellen Formen der Gemeinschaftsbildung zum gesellschaftlichen Fortschritt bei – umso besser, wenn das mit Spaß und Freude verbunden ist.

Es ist also durchaus angebracht, von einem social web sprechen – zumal das Netz zunehmend auch dazu genutzt wird, gesellschaftliche Freiheiten zu erkämpfen oder zu bewahren. Wenn 2011 von Revolutionen die Rede war, bezog sich das meist auf die Demokratiebewegungen in der arabischen Welt. Hier spielten Nachrichtendienste wie twitter eine wichtige Rolle, um weltweit über die Ziele der Proteste aufzuklären, Anhänger der Bewegung in Gruppen zu bündeln und sich zu gemeinsamen Aktionen zu verabreden. Für die autokratischen Regime waren diese Medien nicht kontrollierbar – auch wenn man in Ägypten nach chinesischem Vorbild versuchte, das Internet abzuschalten. Das zeigt die Angst der Herrschenden vor der Dynamik sozialer Aktionen. Es zeigt aber auch den scheinbar kaum aufzuhaltenden Erfolg sozialer Netzwerke auf diesem Weg.

Längst haben auch die etablierten Organisationen und Parteien die sozialen Netzwerke und das Internet für sich entdeckt. Barack Obama gewann 2009 viele seiner Anhänger im Web. Er sammelte dort einen nie da gewesenen Betrag an Spendengeldern, was ihm möglicherweise den entscheidenden Vorteil gegenüber seinem politischen Gegner verschaffte. Bei der letzten Bundestagswahl verwendeten alle Parteien soziale Netzwerke im Wahlkampf, gründeten sogar eigene. Der insbesondere für Parteiführungen charakteristische Top-Down-Ansatz wirkte sich allerdings eher verheerend aus. Wer nur Inhalte transportieren will, ohne Partizipation und Teilhabe mit anzubieten, hat bei der community im Netz schon verloren. Das Internet ist schließlich kein Fernsehen und eine Website keine Litfaßsäule. Es gilt also, die Besonderheiten des Netzes zu verstehen und Medienkompetenz zu entwickeln, anstatt nur vertraute Mediengewohnheiten auf das Internet zu übertragen.

Zusehends kleiner wird der lange Zeit beobachtete „digitale Graben“ zwischen älteren „digital migrants“ und den jüngeren, den „digital natives“, die bereits mit dem Internet aufgewachsen sind. Und je mehr Menschen daran teilhaben, desto sozialer wird das Netz – auf dem Weg zu einem ein echten social web – werden. Das Internet ist dann nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Forum, wie es das im antiken Rom gab und übrigens bis heute im Kirchenrecht gibt.

www.frauennetz

Während über lange Zeit ganze gesellschaftliche Gruppen, vor allem die Frauen, in ihren Rechten übergangen wurden, können sie im Internet ihre Interessen längst gleichberechtigt artikulieren und zur Geltung bringen. Das social web ist also keine Konkurrenz für Frauenvereine – wohl aber eine echte Herausforderung, indem es erweiterte Möglichkeiten der Interaktion und Partizipation für Frauenarbeit bietet.
Neben nützlichen Informationen – etwa Links zu feministischer / frauenspezifischer Presse wie www.diemedia.de/f-info/wwwfempr.htm oder zum Archiv der Deutschen Frauenbewegung www.addf-kassel.de – gibt es hier zahlreiche Netzwerke, die als fester Bestandteil des social web bezeichnet werden können. Sie begreifen das Netz als Möglichkeit der Teilhabe. So gibt es facebook-Gruppen, Foren und Mailinglisten, in denen über Frauen im Netz gesprochen wird, ebenso wie Zusammenschlüsse, denen es darum geht, weibliche Kompetenz in diesem Bereich sichtbarer zu machen. Es gibt eben auch weibliche nerds: Fachkräfte, kompetente Speakerinnen und Expertinnen wie Digital Media Women (http://www.digitalmediawomen.de) oder die Girls On Web Society bei facebook (www.facebook.com/groups/girlsonweb). Diese stören sich übrigens daran, dass das Web noch immer als männer-dominiert dargestellt wird.

Längst sind Frauen auch ein bedeutender Wirtschaftsfaktor im Netz. Microsoft lancierte 2009 in der Schweiz das Portal annabelle.ch und damit den ersten auf die Interessen von Frauen maßgeschneiderten Internet-Browser. 2010 hat die Digital, Life, Design-Women-Conference der Burda Media (www.dld-conference.com) das Thema „Frauen im Netz“ ausführlich beleuchtet. Frauen verbinden das Internet – nicht anders als Männer – mit der Hoffnung auf Stärkung der eigenen Anliegen im Beruf, in der Politik und im Privaten. Wobei interessant ist, dass Frauen 2011 nach einer Umfrage des Branchenverbandes Bitkom besonders gern den mobilen Handyzugang zum Internet wählen. Besonders beliebt sind Netbooks und Tablets wie zum Beispiel das iPad. Wenn die Zukunft der Internet-Nutzung mobil ist, dann sind Frauen dabei jedenfalls die Trendsetterinnen.

www.kirche-im-netz?

Dass gemeinnützige Organisationen aus den Erfahrungen des social web lernen können, liegt auf der Hand. Zu fragen ist eher nach den Gründen für deren Erfolg – und ob die auf andere Organisationen übertragbar sind.

Offensichtlich kommen soziale Netzwerke dem menschlichen Bedürfnis entgegen, sich selbst und die eigenen Interessen und Fähigkeiten zur größtmöglichen Entfaltung zu bringen. Anderen mit Texten, Bildern und Videos bei facebook nahezu grenzenlos zu zeigen, was mich interessiert und was ich mache, eröffnet neue Potentiale – auch für die Bündelung gemeinsamer Interessen. Und da sich auf sehr niedrigschwellige Weise Gleichgesinnte finden, kommt es hier auch zu modernen Formen der Solidarisierung. Aber nicht alle Organisationen gewähren ihren Mitgliedern so viele Freiheiten – und je größer eine Organisation, umso schwerfälliger ist sie in der Regel.

Lernen lässt sich von sozialen Netzwerken manches über Attraktivität – etwa Mitglieder dort abzuholen, wo sie sind, schnell auf aktuelle Nachrichten zu reagieren und die Bereitschaft, sich entsprechend den Wünschen ihrer Mitglieder weiter zu verändern. Es scheint ein menschliches Grundbedürfnis zu sein, dass mit gesellschaftlichen Veränderungen auch veränderte Formen der Mobilisierung und der Organisation einher gehen. Und Strukturen sind ja kein Selbstzweck.

Daraus zu schließen, dass Organisationen nun unbedingt selbst soziale Netzwerke gründen müssten, wäre allerding voreilig – zu sehr unterscheiden sich soziale Netzwerke und Organisationen in der realen Welt. Viele der neuen Formen der Mobilisierung haben nur provisorischen Charakter – Gruppen gründen sich für ein eingeschränktes Ziel und lösen sich dann wieder auf. Anders Organisationen, die langfristigere Ziele verfolgen. Kirchen, Parteien, Frauenverbände und Gewerkschaften wird es darum auch noch geben, wenn soziale Netzwerke insolvent werden oder schlicht der Strom ausfällt. Dann gibt es zwar keinen flashmob mehr – aber ganz bestimmt eine Bibelstunde. Zur Not bei Kerzenlicht.

Sarah Käßmann, geb. 1982, hat Politikwissenschaft studiert und als Referentin in der Geschäftsstelle der EFiD gearbeitet, bevor sie die Büroleitung einer Bundestagsabgeordneten übernahm.
Dr. Michael Rahe, geb. 1974, ist Jurist und Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag.

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