Alle Ausgaben / 2013 Bibelarbeit von Rainer Hagencord

Frag nur die Tiere, sie lehren es dich

Bibelarbeit zum Schöpfungskonzept des Buches Hiob

Von Rainer Hagencord


Plötzlich ist da diese Wand. Die Welt dahinter ist für die Protagonistin unerreichbar, offenbar abgestorben, sie der einzig überlebende Mensch. Dies ist die hoffnungslose Ausgangssituation im gleichnamigen und nun verfilmten Roman von Marlen Haushofer.

Auf sich zurückgeworfen, mit den tiefsten Grundfragen des Lebens konfrontiert, einsam und verlassen, mitten im Wald. Aus purer Not beginnt sie zu schreiben …

„Ich nahm mir auch vor, täglich die Uhren aufzuziehen und einen Tag vom Kalender abzustreichen. Das schien mir damals sehr wichtig, ich klammerte mich geradezu an die spärlichen Reste menschlicher Ordnung, die mir geblieben waren. Gewisse Gewohnheiten habe ich übrigens nie abgelegt. Ich wasche mich täglich, reinige meine Zähne, wasche die Wäsche und halte das Haus sauber. Ich weiß nicht, warum ich das tue, es ist fast ein innerer Zwang, der mich dazu treibt. Vielleicht fürchte ich, wenn ich anders könnte, würde ich langsam aufhören, ein Mensch zu sein, und würde bald schmutzig und stinkend umherkriechen und unverständliche Laute ausstoßen. Nicht dass ich fürchtete, ein Tier zu werden, das wäre nicht sehr schlimm, aber ein Mensch kann niemals ein Tier werden, er stürzt am Tier vorüber in einen Abgrund. Ich will nicht, dass mir dies zustößt.“1

In dieser existentiellen Weise halten die Tiere, genauer: die Kuh, der kleine Stier, Perle, die Katze, und vor allem Luchs, der Hund, die junge Frau im wahrsten Sinne des Wortes am Leben. Der zeitgenössische Mystiker Eckard Tolle nennt sie the guardians of being – die Wächter des Seins: die Tiere, deren Leben nie verzweckt ist. Jenseits aller romantischen Verklärung, nicht beladen mit Projektionen, die sie zu besseren Menschen stilisieren sollen, sind sie da – einfach da – und ermöglichen der Vereinsamten das physische Überleben und bewahren sie in ihrem Mensch-Sein.

Der auf sich zurückgeworfene Mensch und die Tiere – hier leuchtet Hiob auf, die biblische Gestalt, der alles genommen ist und in dessen Leidens- und Heilungsweg den Mitgeschöpfen der Menschen eine Schlüsselrolle zukommt. Lässt sich Gottes Gerechtigkeit mit dem Leiden Unschuldiger vereinbaren? Was ist mit dem Schöpfer alles Lebens, wenn Krankheit, Not und schließlich der Tod eindringen in das selbstverständliche Gefüge des Lebens? „Doch frag nur die Tiere, sie lehren es dich.“ (Hiob 12,7)

Im poetischen Hauptteil des Buches finden sich abwechselnd Reden Hiobs und je eines Freundes, in denen der „Fall Hiob“ gedeutet wird. Während Elifas, Bildat und die anderen sich daran festhalten, es gehe in der Welt gerecht zu und Gott könne nichts Falsches tun, zeigt sich für Hiob in seinem Geschick Gottes Unrecht. Doch die Frage, die uns angesichts des Leidens schnell in den Sinn kommt: „Wie kann Gott das zulassen?“, hilft nicht, lässt den Kopf zerbrechen, belässt Gott in einer Rolle außerhalb des oft gnadenlosen Spiels alles Lebendigen – womöglich als Erfinder vermeintlich pädagogischer Spielregeln, die es zu verstehen gilt. Die Dynamik des Buches führt in eine grundsätzlich andere Richtung, in der Gottes Präsenz mitten darinnen zu ahnen, zu suchen und zu finden ist; die angemessenere, den Horizont weitende Frage kann nur lauten: „Wie kommt Gott im Leiden vor?“ Als Trost, als Provokateur, als Rettung?

Und Gott antwortet. Dem Gottesnamen in den Gottesreden (Kap. 38ff) kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Während in der gesamten Ijob-Dichtung der Gottesname immer El (kanaanä-ischer Gottesname) oder Schaddai (der Allmächtige) heißt, antwortet jetzt Jahwe – der Gott, den Israel solidarisch in der Sklaverei in Ägypten und befreiend im Exodus erfahren hat. Der Gott, der sich selbst in Ex 3,14 als „Ich bin der ‚ich-bin-da'“ vorgestellt hat. Damit wird auch die Ebene angedeutet, in der Hiob und Jahwe einander begegnen können: eben nicht auf der Ebene des Rechtes, sondern von Erfahrung und Einsicht. Es gilt, die gedachten Kategorien zu verlassen und sich einzulassen auf das Lebendige.


Die ganze Schöpfung

Das Hiob-Buch in seinen literarisch fiktiven Gottesreden wirbt um eine Spiritualität, in der es neben Gott und den Menschen noch Raum für eine eigenständige Natur und ihre Repräsentanten, die Tiere, gibt. Fast modern anmutend, protestiert das Buch gegen einen zu engen, nur aus menschlichen Einsichten und Interessen erwachsenen Ordnungsbegriff, der dann theologisch gefüllt wird. So entfaltet die erste der beiden Gottesreden (38,1-39,30), dass die Welt ein dynamischer Lebensorganismus ist und nicht eine statische Aneinanderreihung von Elementen – Requisiten, die nur den Menschen zu dienen hätten.
In ihrem zweiten Teil (38,39-39,30) beschreibt die Gottesrede Gottes Bejahung und Zustimmung zu den Lebensräumen der Wüste und des Urwaldes, die den Menschen nutzlos oder bedrohlich scheinen. Mit dieser Bildkonstellation wirbt das Buch Hiob im 4. Jh. v.Chr. um eine Weltsicht, in der die von Menschen nicht durchschauten, beherrschten und planbaren Bereiche ihren Platz haben müssen, soll die Schöpfung nicht zu einer Weltmaschine oder zu einer Gartenzwergidylle verkommen. In der Konsequenz wäre ein Schöpfergott zu denken, der sich voll und ganz auf den Prozess von Werden, Wachsen und Vergehen einlässt. Der – wenn man so anthropomorph reden kann – diesen spannungsreichen Prozess selbst gespannt miterlebt und miterleidet. Ein Gott, von dem Nikolaus von Kues im 15. Jahrhundert, im Übergang von Spätmittelalter und Früher Neuzeit sagen wird, der sich in allem entfaltet – in jedem Geschöpf also ganz Gott sei.

Die in dieser Gottesrede verwendete Bildkonstellation verdankt sich einem altorientalisch-altägyptischen Hintergrund und verwendet u.a. folgende Tierbilder:
– Erjagst du Beute für die Löwin, stillst du den Hunger der jungen Löwen …?
– Wer bereitet dem Raben seine Nahrung, wenn seine Jungen schreien zu Gott und umherirren ohne Futter?
– Kennst du der Steinböcke Wurfzeit, überwachst du das Werfen der Hirsche? (Hiob 38,39-39,1)
Insgesamt werden zehn – die Zahl der Fülle – Tiere vorgestellt, ein gewaltiges Epos wilder, ungeordneter und dennoch faszinierender Vitalität, von der der Schöpfergott behauptet, sie sei von ihm aus Liebe ins Leben gesetzt – aber eben mit jenen Freiräumen, die diese Tiere für ihre je spezifische Art zu leben brauchen.

Das Schöpfungskonzept dieser weisheitlichen Schrift ist demnach dezidiert nicht-anthropozentrisch, zumal im gesamten 38. Kapitel die Menschenschöpfung gar nicht erst erwähnt wird. Und im 39. Kapitel muss Hiob lernen, dass die Schöpfungsordnung nicht allein auf menschliche Bedürfnisse zugeschnitten ist. Diese Antwort auf die Sinnfrage eines Leidgeprüften mag auf den ersten Blick brutal erscheinen, ist es aber nicht. Denn: Leid macht Angst und verengt den Blick – und aus dieser Enge will Gott selbst unseren Protagonisten herausführen, indem er ihm
die Weite der Schöpfung erklärt. Somit wird die Perspektive umgekehrt.

Die Botschaft der Gottesreden ist fundamental entlastend, weil der Mensch nicht Dreh- und Angelpunkt der ganzen Welt zu sein braucht. Gottes Sorge für die Schöpfung zu beobachten, soll Hiob Mut, Zuversicht und Trost geben. Nicht mehr an einen Gott glauben, den man, wie es am Ende des Buches heißt „vom Hörensagen hört“, sondern Wach-Werden für das sich liebend in allem Lebendigen entfaltende Geheimnis – dies erhält und trägt alles. Folglich mündet das Hiob-Buch in dieses Credo: „Vom Hörensagen hatte ich von Dir gehört, jetzt aber hat meine Auge dich geschaut.“ (42,5)


Biblische Zoologie

Mit Hiob – und in seiner Tradition Jesus von Nazareth, der laut Auskunft des Markusevangeliums vor seinem öffentlichen Wirken 40 Tage in der Wüste bei den Tieren zubrachte – sind wir mitten in der biblischen Zoologie. Hier tummeln sie sich als Bündnispartner Gottes und als von Gott Gesegnete, als Mitbewohner der neuen Welt und als den Menschen zu beider Wohl Anvertrauten, zudem als Lehrerinnen und Lehrer. „Blickt auf die Vögel des Himmels: Sie säen nicht, noch ernten sie, noch sammeln sie in Scheunen, und euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht mehr wert als sie? Wer aber von euch, der sich sorgt, kann zu seinem Wuchs eine einzige Elle hinzufügen? …“
(Mt 6,26-29; par Lk 12,24-27)

Diese biblischen Menschen hatten also keine Hemmungen, sich in ihrem Ringen um das Selbstverständnis und die Gottesfrage auf ihre Mit-Geschöpfe einzulassen, mit denen sie den Lebensraum teilten, von denen sie in einer agrarischen Kultur lebten. Denn ihre Welt ist ein herrlicher Kosmos von Gestalten, Gebärden, Lauten, Verhaltensweisen, Farben, Bildern und Geschichten. Seit jeher kommen die Menschen auch zum Bewusstsein ihrer selbst im Blick auf sie. Die großen Tiertexte der Bibel haben diesen Schatz sorgsam gehütet und um immer neue Varianten bereichert. In der Begegnung mit dem Tier erfuhr Israel das Rätsel des Lebens nicht nur in seiner schillernden Buntheit, sondern auch in seiner zwingenden Mächtigkeit. Dieser Faszination hat es sich beobachtend, erkennend und deutend ausgeliefert und davon auch sein theologisches Nachdenken inspirieren lassen.

Für die biblischen Menschen war es wesentlich, in den geheimnisvollen Bannkreis fremden, dem eigenen seltsam fernen und doch so nah vertrauten Lebens zu treten. Aus dieser Berührung haben sie starke Impulse zur Entfaltung religiöser Kräfte und theologischer Reflexionen empfangen – hin zu dem Gott, der eben immer der/die Ganz Andere und unfassbar Nahe ist. Nach jüdisch-christlicher Überzeugung wird das menschliche Wesen zwar nicht in Bezug auf das Tier bestimmt und hat sich Gott auch nicht wie in Ägypten in der Gestalt eines Tieres offenbart. Dennoch können die Menschen im Blick auf ihre Mitgeschöpfe zu einem profunderen, auch theologischen, Selbst-Verständnis finden.

Die Natur und darin die Tiere und Pflanzen, ja ganze Landschaften, tragen die Signatur des Schöpfers, sind geheimnisvoll, bergen etwas „Numinoses“. Dies ist ein moderner, sprachlich der römischen Antike entliehener Begriff. Das Wortfeld, das dem gemeinten Phänomen im Hebräischen am nächsten steht, ist mit der Wurzel barak (segnen, mit heilvoller Kraft begaben) verbunden. Während wir im so genannten Abendland aufgrund einer extrem wortzentrierten religiösen Tradition Segen und Segnen allzu rasch mit gesprochenen Worten verbinden und uns vor allem dafür interessieren, was beim Segnen genau passiert, gingen die Menschen im Alten Israel ganz selbstverständlich davon aus, dass berakah, Segen in vielem Geschaffenen einfach ist und erfahren werden kann.

Bei Jesaja wird ein Sprichwort überliefert: „Wie man sagt, wenn Saft in der Traube sich findet: Verdirb sie nicht, es ist ein Segen darin.“ (Jes 65,8) In deutlicher Abgrenzung zur Religion Ägyptens formuliert das jüdische Credo programmatisch, dass keine innerweltliche Größe verabsolutiert werden darf. Für Israel kommt eine Vergöttlichung der Schöpfung und einzelner Geschöpfe nicht infrage. Aber es geht auch nicht an, das Kind, in diesem Fall die Numinosität der Schöpfung, mit dem Bade auszuschütten. Vielmehr ist es Zeit, der Schöpfung ihre Seele, ihre Würde zurückzugeben, sie aus ihrer Demütigung zu befreien, in die sie als gänzlich Gottloses Gegenüber des Schöpfers, als reines Produkt eines überbetont souveränen und transzendenten Gottes und als Objekt menschlicher Wissenschaft und Ausbeutung inzwischen geraten ist.

Laut Auskunft der exegetischen Literatur lassen sich innerhalb der biblischen Überlieferung zwei Stränge erkennen:
– Mensch und Tier sind dezidiert aufeinander bezogene, voneinander existentiell abhängige Geschöpfe des einen Gottes und Teilhaber des einen Bundes.
– Mensch und Tier sind Gesegnete und haben einen je eigenen Wert und eine innige Beziehung zum Schöpfer und somit einen eigenen unverwechselbaren Ort im Gesamt der Schöpfung.


Theologische Zoologie

Der Literaturnobelpreisträger Elias Cannetti sagt: „Mit zunehmender Erkenntnis werden die Tiere den Menschen immer näher sein. Wenn sie dann wieder so nahe sind wie in den ältesten Mythen, wird es kaum mehr Tiere geben.“ Ja, sie sind uns nah: unsere Mitgeschöpfe! Die aktuellen Erkenntnisse der Verhaltensbiologie sprechen von einer unleugbaren Verwandtschaft. Denken, emotionale und soziale Kompetenz, Kulturfähigkeit und Selbst-Bewusstsein – all das sind keine ausschließlich menschlichen Fähigkeiten.

Das Projekt einer theologischen Zoologie verfolgt das Anliegen, die Tiere wieder zur Sprache zur bringen – und dies nicht auf einer theologisch und gesellschaftspolitisch irrelevanten Spielwiese. „… wird es kaum mehr Tiere geben“, sagt Cannetti. Wenn die Entwicklung nicht gestoppt wird, werden schon im Jahr 2020 zwischen 10 und 38 Prozent aller Arten ausgerottet sein; Grund ist der Lebensstil in den Industrienationen. Es verschwinden allerdings auch die anderen – und dies ist ein perverser Vorgang. Denn die Zahlen der Puten, Hühner, Schweine und Rinder in den Schlachthöfen und Tierfabriken nehmen unfassbare Dimensionen an, aus unseren Landschaften aber sind sie fast verschwunden.

Ob das fast vollständige Verschwinden der Tiere aus Theologie und Verkündigung Folge oder Mitursache dieser Katastrophe ist, möge an anderer Stelle bearbeitet werden. Zunächst geht es um die verheißungsvollen Folgen einer neuen Wertschätzung der Mitgeschöpfe für Spiritualität und Theologie. Der Bochumer Psychiater und Therapeut Bert te Wildt deutet unsere Zeit als eine „der kollektiven Umsiedlung des Menschen in den medialen Raum“. Es handelt sich seiner Ansicht nach um die nächste Entwicklungsstufe der Menschheit nach der Zivilisation – einen Umbruch, womöglich noch fundamentaler als die Gutenberg-Revolution im 15. Jahrhundert. Denn erst „mit durchschnittlich acht Jahren können Kinder Realität und Virtualität gut auseinander halten. Wenn sie zu früh den Inhalten des Cyberspace ausgesetzt werden, wird der innere psychische Raum der Kinder von außen kolonialisiert.“2

Verstehen wir die Welt und uns selbst so, dass die Natur lediglich eine Kulisse ist und die anderen Lebewesen darin die Statisten sind, ist die „Umsiedlung“ womöglich folgenlos. Ob wir uns in einer kühlen und distanzierten Bewunderung der Natur aufhalten und „Sonne, Mond und Sterne“ irgendwie schön finden, oder ob es die künstlich generierte Welt ist, wäre dann gleichgültig. Was aber, wenn die Natur der nicht austauschbare und unverwechselbare Ort der Menschwerdung und zudem der privilegierte Raum der Gotteserfahrung ist? Kann es sein, dass es die Tiere sind, an denen wir dann – wie Haushofer sagt – in den Abgrund des Cyberspace vorbeistürzen? Ist ihre so besondere Weise der Existenz nicht auf der einen Seite – fast sakramental – Hinweis auf den unfassbaren Gott, der unverzwecktes Leben im Schilde führt? Und repräsentieren Kuh, Hund, Katze und all die anderen nicht auf der anderen Seite anthropologische Grundkonstanten, die uns an Erdhaftigkeit und Animalität als das Ur-Menschliche erinnern?

Muss also die Theologie nicht noch viel zoologischer werden? Das heißt, die Lebendigkeit als Ausgangspunkt ihres Nachdenkens und als ständiges Korrektiv verstehen? Braucht es dann nicht – neben der wissenschaftlichen Sprache und Erfassung theologischer Denkfiguren – eine Neubelebung der Poesie? Eine Sprache also, die im Kleinsten ALLES vermutet und entdeckt, und die uns mit allem Lebendigen verbindet, statt uns alles vom Leibe zu halten? Braucht es nicht Gemeinden, die zudem ihre prophetische Existenz wieder entdecken und attraktive Gegenwelten darstellen: gegen Naturentfremdung, industrialisierte Tierhaltung und Verödung ganzer Landschaften? Eine Lebens-, Feier- und Ernährungskultur, die die Schöpfung würdigt und ehrt? Und welche Rolle spielen darin Katechese, Liturgie und Religionsunterricht? Gilt es nicht, einen biblisch nicht zu verantwortender Anthropo-Zentrismus zu überwinden, ehe es zu spät ist?

Der amerikanische Theologe und römisch-katholische Priester Matthew Fox setzt sich – mit Bezug auf mittelalterliche MystikerInnen und TheologInnen – für eine Schöpfungsspiritualtät ein, die neu auf alte Wege lockt:
– von einer allgemeinen Säkularisierung hin zu einer Re-Sakralisierung der Schöpfung;
– von der Selbstgefälligkeit zum Mitgefühl;
– von einer überinstitutionalisierten Religion zu einer lebendigen Mystik;
– von einem undemokratischen und anthropozentrischen Kapitalismus zu einer erdbezogenen Lebenskultur;
– von einer Anthropologie des „Ich denke, also bin ich“ zu einer Haltung des „Die Schöpfung bringt hervor, also sind wir“.3

Lauschen wir noch einmal Marlen Haushofer: „Die Schlucht war düster und feucht wie immer; nichts hatte sich geändert. Es nieselte ein wenig, und zarter Nebel hing in den Buchen. Kein einziger Salamander zeigte sich, sie schliefen wohl unter den feuchten Steinen. In diesem Sommer hatte ich noch keine gesehen, nur grüne und braune Eidechsen auf der Alm. Einmal hatte Tiger eine von ihnen totgebissen und vor meine Füße gelegt. Er hatte ja die Gewohnheit, mir alle Beutetiere zuzutragen: riesige Heuschrecken, Käfer und schillernde Fliegen. Die Eidechse war sein erster großer Erfolg gewesen. Erwartungsvoll sah er zu mir auf, das Licht spiegelte sich goldgelb in seinen Augen. Ich musste ihn loben und streicheln. Was hätte ich tun sollen? Ich bin nicht der Gott der Eidechsen und nicht der Gott der Katzen. Ich bin ein Außenseiter, der sich besser gar nicht einmischen sollte. Manchmal kann ich nicht widerstehen und spiele ein bisschen Vorsehung; ich rette ein Tier vor dem sicheren Tod oder schieße ein Stück Wild, weil ich Fleisch brauche. Aber mit meinen Pfuschereien wird der Wald leicht fertig. Ein neues Reh wächst heran, ein anderes Tier rennt ins Verderben. Ich bin kein ernst zu nehmender Störenfried. Die Nesseln neben dem Stall werden weiterwachsen, auch wenn ich sie hundertmal ausrotte, und sie werden mich überleben. Sie haben soviel mehr Zeit als ich. Einmal werde ich nicht mehr sein, und keiner wird die Wiese mähen, das Unterholz wird in
sie einwachsen, und später wird der Wald bis zur Wand vordringen und sich das Land zurückerobern, das ihm der Mensch geraubt hat. Manchmal verwirren sich meine Gedanken, und es ist, als fange der Wald an, in mir Wurzeln zu schlagen und mit meinem Hirn seine alten, ewigen Gedanken zu denken.“4


Für die Arbeit in der Gruppe

Ziel:
Zugang zu einer Theologie der Schöpfung, in der auch die Tiere einen geachteten Platz einnehmen

Material:
3 große Bögen Papier, die je auf einem Tisch liegen und von allen Seiten beschrieben werden können; Stifte; Arbeitsblätter mit Textauszügen und Leitfragen für die drei Gruppen, evtl. Bibeln; Gesangbücher oder Liedblatt Kopiervorlagen der Textauszüge und Arbeitsblätter für AbonnentInnen unter www.ahzw-online.de zum Herunterladen vorbereitet

Ablauf:
Die Leiterin führt kurz in das Ziel der Gruppenarbeit ein und erläutert, dass das Thema aus drei Blickwinkeln in je einer Kleingruppe bearbeitet werden soll: biblisch, literarisch, theologisch. Sie reißt die drei Blickwinkel kurz an und bittet die TN, sich nach persönlicher Neigung für eine der Gruppen zu entscheiden.

Vorschlag zur Arbeit in den Gruppen: Textauszüge lesen; in Einzelarbeit Gedanken zu den Leitfragen sammeln und notieren; anschließend stellt jede ihre Notizen vor; Nachfragen, Austausch – Festhalten von Gedanken, die der Gruppe wichtig sind, auf dem Papierbogen

– Hiob-Buch
Die Leiterin führt kurz hin zu dem Kerngedanken: Auf Hiobs Leidens- und Heilungsweg kommt den Mitgeschöpfen der Menschen, den Tieren, eine Schlüsselrolle zu.

Angebot: Gruppe 1 arbeitet an den Gottesreden das besondere Schöpfungsverständnis des Hiob-Buches heraus.

Arbeitsblatt:
Hiob12,7-10; Entfaltung in den fiktiven Gottesreden (38ff) – nach Möglichkeit Übersetzung der BigS

Leitfragen: Welche Lebensräume werden vorgestellt? Welchen Platz hat der Mensch in ihnen? Welche Tiere werden vorgestellt, was erfahren wir über sie? Welches Schöpfungskonzept steckt hinter der Schilderung? Welche Wandlung macht Hiob durch?

– Roman „Die Wand“
Die Leiterin führt kurz in den Roman von Marlen Haushofer ein.

Angebot: Gruppe 2 diskutiert den Roman (bzw. Film).

Arbeitsblatt:
Als Anregung stehen die zwei Zitate am Beginn und Ende der Bibelarbeit zur Verfügung. Eine Auseinandersetzung mit dem Gedankenspiel ist möglich, auch ohne Film oder Buch zu kennen.

Leitfragen: Welche Bedeutung haben die Tiere für die Einsame? Welchen Platz nimmt sie nach ihrem eigenen Verständnis im Kreislauf der Natur ein? Kann ich das nachvollziehen? Wie ginge es mir selbst in dieser Situation?
– Theologische Zoologie
Die Leiterin führt kurz in das Anliegen der Zoologischen Theologie ein.

Angebot: Gruppe 3 diskutiert einen Textauszug aus der Bibelarbeit (S. 10, „Laut Auskunft der exegetischen Literatur…“ bis S. 11, „…überwinden, ehe es zu spät ist.“) und fasst die Kerngedanken zusammen.

Leitfragen: Ist das Konzept für mich nachvollziehbar? Was gefällt mir, was spricht mich nicht an? Wie können wir tatsächlich die Tiere wieder mehr „zur Sprache bringen“? Welche Lieder würden dazu passen?

Abschließendes Plenum
Jede Gruppe stellt ihr „Plakat“ vor. Anschließend Austausch: Welcher Gedanke ist mir wichtig, eindrücklich, bleibend?

Lied: eines der vorgeschlagenen oder: „In uns kreist das Leben“ (Text s.S. 50)


Dr. Rainer Hagencord, geb. 1961, hat Theologie, Biologie und Philosophie studiert und ist röm.-kath. Priester. Er ist Mitgründer und einer der beiden Leiter des Instituts für Theologische Zoologie in Münster. – mehr unter: www.theologische-zoologie.de.


Den Vorschlag für die Arbeit in der Gruppe hat Dorothea Röger, Mitglied im Redaktionsbeirat ahzw, entwickelt.


Anmerkungen:
1)
M. Haushofer: Die Wand, Düsseldorf 2003, S. 43f
2) Interview in der SZ am 13.11.2012, S. 16
3) M. Fox: Schöpfungsspiritualität, Stuttgart 1995
4) M. Haushofer, ebd. S. 184f


zur Weiterarbeit
Ausstellung zum „Anthropozän-Projekt“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt (bis 2014) – mehr unter: https://www.hkw.de/de/programm/ 2013/anthropozaen/anthropozaen_76723.php

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