(Auszug)
Wird heute eine Muslima gebeten, etwas zum Thema Kopftuch zu sagen oder zu schreiben, so sieht sie sich einer gewissen Problematik gegenüber. Zu oft hat sie die Zuschreibungen gehört, warum sie ein Kopftuch trägt – oder auch, warum sie es nicht trägt. Und was sie auch tut und wie sie's auch einrichtet, es scheint nie zu passen. Erklärt sie es als religiöses Gebot und führt den Qur'an ins Feld, wird ihr gesagt, der Qur'an gehöre nicht zum westlichen Kulturkreis, nicht zur europäischen Identität. (Andalus, Sizilien und Balkan vergessen?) Glaube und alles, was damit zusammenhängt, sei eine rein persönliche Sache, wir wollen es nicht sehen auf unseren Strassen, in unseren Räumen. Durch ihr Festhalten an archaischen Lebensformen schließe sich die Muslima, die sich für islamische Kleidung entscheidet, selbst aus, heißt es. Ihre Marginalisierung sei selbstverschuldet, wenn sie sich weigere, am dynamischen Prozess der Entwicklung teilzunehmen. Geht sie hinaus und erklärt, sich integrieren zu wollen, auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen, teilhaben zu wollen am Geschehen, oder gar die Gesellschaft mitgestalten zu wollen, wird geargwöhnt, sie verberge ihre wahre Absicht, in Wirklichkeit wolle sie missionieren und strebe die Islamisierung der Gesellschaft an. Feministinnen erklären ihr, das Kopftuch (gemeint ist aber wohl eher das Innenleben ihres Kopfes) habe seit Mitte den 70iger Jahre seine Unschuld verloren, und seit dem 11. September 2001 allemal.
Und so muss diese Muslima sich morgens, wenn sie in den Spiegel schaut, um ihr Tuch zu binden, fragen: Gehe ich heute als Fundamentalistin, als angehende Extremistin oder als fremdbestimmte unterdrückte Migrantin? Mit der gleichen Bekleidung versteht sich. Sie fragt sich: Wie kann ich einerseits als die stumme, unter dem Patriarchat von Vater und Mann stehende Frau wahrgenommen werden – und auf der anderen Seite als die fundamentalistisches Gedankengut hegende Antidemokratin? Einerseits die Frau, die in Sack und Asche geht und es in Generationen nicht geschafft hat, sich den aktuellen Zeitgeist anzupassen – andererseits diejenige, die weite Kleider nur trägt, um darunter Gefährliches zu verstecken.
Unsere junge Muslima fragt sich beim Verlassen des Hauses, welchem Klischee sie den Vorzug geben will und weiß instinktiv, dass es für sie besser wäre, die fremdbestimmte, unter männlicher Willkürherrschaft stehende Orientalin zu sein, selbst wenn schon ihre Mutter an Rhein oder Ruhr geboren ist. Dieses Klischee, durch die Medien inzwischen fest verankert, ist ungefährlicher für sie und für diejenigen, die ein Interesse daran haben, dieses Klischee aufrechtzuerhalten und Veränderungen und Eigendarstellung der Betroffenen nicht wahrnehmen zu wollen. Es bietet der Gesellschaft die Möglichkeit, sich nicht mit eigenen (religiösen) Verunsicherungen, Widersprüchen und Defiziten auseinander zu setzen.
Klischees haben eine fatale Wirkung. Sie verschleiern den Blick für Ecken und Kanten, für tiefer liegende Unebenheiten, sie ebnen ein, bügeln jede Falte aus. Und so begegnet die kopfverschleierte Muslima einer nicht minder blickverschleierten Geschlechtsgenossin.
Es gibt natürlich diesen oft und zu Recht angeprangerten patriarchalen Druck auf muslimische Mädchen und Frauen. Es gibt die Väter und Familien, die Tradition und sonst gar nichts gelten lassen. Aber die Frage muss doch lauten: Was sind die Mechanismen und Gründe, dass man's zufrieden ist, dies als die einzige Begründung des Festhaltens an Religion und dem Tragen einer islamischen Bekleidung heranzuziehen?
Warum fühlen die emanzipierten westlichen Frauen (und nicht nur Frauen) Handlungsbedarf, um hier Abhilfe zu schaffen? Spielt egozentristisches Denken hier eine Rolle, das davon ausgeht, dass einzig und allein an der eigenen Vorstellungswelt die „Fremde“ zu genesen hätte?
Eine Gesellschaft, die integrieren will, ist nicht berechtigt, diese Fragen auszublenden. Es ist keine Lösung, das Kopftuch durch Gesetze zu verbieten. Das würde die Chancen der Frauen – muslimisch mit oder ohne Kopftuch wie nichtmuslimischen – auf ein gegenseitiges Aufeinanderzugehen zunichte machen.
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