Als ich zu Neujahr 1998 das Glück hatte, mit Frieda Schindelin noch eine Sendung für den WDR machen zu können, wurde ich immer wieder erstaunt gefragt: „Ja, lebt sie denn noch, die Vikarin Schindelin?“ Bis zum März lebte sie noch, allerdings nicht mehr als „Vikarin“. Seit 1964 durfte sie sich Pastorin nennen und ab 1975 gestand die Rheinische Landessynode ihr den Titel „Pfarrerin“ zu. Als Vikarin aber – denn sie war die allererste – machte sie Geschichte in der Rheinischen Kirche.
Sie gab uns schon in Konfirmandenzeiten Anlaß zur staunenden Verwunderung: Vikare waren nach unserer Erfahrung junge Männer, die kometenhaft in der Gemeinde auftauchten, entweder angehimmelt oder belächelt wurden, und dann bald wieder verschwanden, um Pastor oder Pfarrer zu werden. Vikarinnen aber waren selten und blieben, und wenn sie Frieda Schindelin hießen, waren sie auch mit 60 und mehr Jahren noch Vikarin in Wuppertal.
Spätestens von 1938 an, als Frieda Schindelin als theologische Mitarbeiterin des Landesverbandes der Evangelischen Frauenhilfe im Rheinland tätig war, wurde sie landauf, landab in der Rheinischen Kirche als „die Vikarin Schindelin“ bekannt.
Ausgestattet mit beiden theologischen Examina, rüstete sie Frauengruppen in vielen Gemeinden mit lebensnahen, engagierten, bis dahin nie erlebten Bibelarbeiten zu. Das war zur Zeit des Kirchenkampfes so, in Kriegs- und Nachkriegszeiten bis hin zu ihrem Reisedienst gegeben. „Die Frauenhilfe hat später nie wieder jemanden bekommen, der meinen Posten ausgefüllt hat,“ sagte sie im Rückblick. „Das tut kein Mensch mehr, daß er jeden Tag woanders hinfährt.“ Mit öffentlichen Verkehrsmitteln wohlgemerkt und bis in die entlegensten Gegenden. (Nur Frauenhilfsfrauen in Ostdeutschland kannten diesen „Reisedienst“ bis zum Ende der DDR-Zeit.)
Mit ihren Bibelarbeiten hat Frieda Schindelin viel für die Frauen getan. Sie hat sie ermutigt und sie hat ihnen das Zutrauen gegeben, mit eigenen Fragen an die Bibel heranzugehen. Und der Bibel hat sie zugetraut, daß sie auf jede Lebensfrage eine Antwort geben kann – wenn nur recht gefragt, aufrichtig hingeschaut und bereitwillig der Botschaft zugehört wird. Soweit ich sie verstanden habe, hat sie sich nicht zu den Feministischen Theologinnen gezählt. Aber sie hat Fundamente gelegt, auf denen später jüngere Frauen aufbauen konnten, die es dann wagten, die Bibel mit weiblichen Augen zu lesen und die eine eigene theologische Sprache fanden. Frieda Schindelins Arbeit gab in Kreisverbänden vielen Leiterinnen Kriterien an die Hand, wie sie in ihren Gruppen Bibelarbeit gestalten konnten, bei denen sich die Frauen getrauten, selber mitzureden. Ganz im Gegensatz zu den Bibelvorträgen ihres „Herrn Pfarrer“, die die Frauenhilfsgruppen bis dato gewöhnt waren. Frieda Schindelins Arbeit bei der Frauenhilfe ließe sich vielleicht als evangelische Erwachsenenbildung im Dienst der Verkündigung beschreiben. Das Geheimnis ihrer großen Wirkung – bis zuletzt auch auf junge Menschen – liegt wohl darin, daß sie in allem, was sie dachte, sagte und tat, authentisch war, glaubhaft durch und durch. Das Fundament dieser Authentizität war ihr christlicher Glaube, das war die Quelle all ihrer Kraft, ihres ungemeinen Fleißes und ihrer Lebendigkeit bis ins 103. Lebensjahr hinein.
Mein langes Gespräch mit ihr im Dezember 97 kommt mir im Rückblick wie ein Vermächtnis vor, wenn ich Sätze wie diesen aufzeichnen konnte: „Erst als alter Mensch fängt man vielleicht an, das große Staunen zu lernen über Gottes Schöpfung. Ich komme aus der Verwunderung überhaupt nicht mehr heraus. Je älter ich werde – als junger Mensch nimmt man sich auch nicht die Zeit – um so wunderbarer wird mir die Welt, das Geheimnis Gottes und das Geheimnis des Menschen.“ Das sagte eine Frau, die in ihrem Leben doch eigentlich schon alles gesehen haben sollte. Sie blieb im Bewundern einer Blume oder dem Staunen über die Funktionen des menschlichen Gehirns ganz jung. So lernte sie beispielsweise in den letzten Jahren noch mit dem Computer umzugehen, nur um zu erfahren, was sich Menschen von heute da ausgedacht haben. „Ich habe aber festgestellt,“ sagte sie zu mir, „die Menschen werden vom Computer nicht klüger.“ Und sie stellte ihre Arbeit am Gerät wieder ein. Denn sie mußte haushalten mit ihren Kräften, weil sie jeden Tag als ein Gottesgeschenk ansah: „Jeder Tag ist Gabe und Verantwortung, beides zusammen.“ Sie brauche manchmal viel Mut, den Tag zu beginnen, gestand sie ein, aber am Abend wolle sie Gott doch immer noch danken, für alles, was sie noch habe schaffen können. „Viel kann ich ja nun nicht mehr tun“, sagte sie, „kein Vergleich mit früheren Zeiten, wo ich immerzu unterwegs war. Meine Verantwortung ist jetzt eine andere, sie hat sich von meinem Tun auf mein Denken verlagert. Mein Denken wird mir verantwortlich. Ich bin ja viel allein, muß sehr oft ruhen. Und in dieser stillen Zeit denke ich, plane ich, schreibe ich meine Briefe schon in Gedanken, überlege, was ich tun muß. Und da kommen mir oft gute Gedanken, so daß ich gar nicht ärgerlich bin über das Ruhenmüssen.“ Verantwortlich sein für mein Denken! Ich muß gestehen, daß ich im gottesdienstlichen Schuldbekenntnis… daß ich gesündigt habe mit Gedanken, Worten und Werken“ bisher immer nur an mein Reden und Tun, nicht aber an mein Denken gedacht habe. Wie gehen wir mit unseren Gedanken um? Für Frieda Schindelin eine sehr ernste Frage, die sich für sie mit der Frage nach dem Umgang der Menschen mit- und untereinander verband. Wenn ich nicht den Frieden denke, handele ich friedlos. „All die Terrorakte, die jetzt immer mehr werden, sind ja ein greifbares Zeugnis für die Friedlosigkeit. Wir können uns einander nicht mehr leben lassen. Wir kämpfen gegeneinander.“ Ihre große Hoffnung war immer noch die christliche Gemeinde, in der der Friede nicht nur gepredigt, sondern Friedfertigkeit eingeübt und gelebt werden sollte. In aller Brüchigkeit und Unvollkommenheit.
Am Ende ihres Lebens werde ihr „immer deutlicher, was Friede heißt. Für mich ist die Hoffnung auf ein Leben bei Gott ganz stark geprägt von dem Gedanken, das da Friede ist bei Gott.“ Und diese Hoffnung strahlte schon ab auf ihre alten Tage, so daß sie sagen konnte: „Ich bin zufrieden.“ Ich hat-te sie für meine Sendung nach ihrer Vorstellung von „Glück“ im Neuen Jahr gefragt. Und da erwiderte sie lächelnd: „Ich bin zufrieden, das Wörtchen „glücklich“, das brauch ich nicht so. Aber der andere sagt vielleicht: Gut, das ist ja Glücklichsein. Wenn ich das kann, zu meinem heutigen Tag Ja sagen, zu dem, was ich vorhabe – ich will nachher noch flicken, und dann muß ich schreiben. Ja, ich bin zufrieden damit …“ Viele alte Menschen, viele Frauenhilfsfrauen, haben mir später nach der Sendung gesagt, daß dieses „Ich bin zufrieden“ sie am meisten beeindruckt habe. Diese glückliche Zufriedenheit ist Frieda Schindelin nicht in den Schoß gefallen, sie ist mit Glaubensdisziplin erkämpft. Sie sagte dazu: „Ich lerne immer deutlicher, daß ich als Christ ganz lebe von dem Abhängigsein von Gott. Nicht wahr, als junger Mensch hat man sein Tagesprogramm, hat seine Aufgabe, lebt. Als alter Mensch spürt man: Ich vermag nichts mehr zu bestimmen. Ich muß warten, was Gott mich noch tun läßt. Das sehe ich nicht voraus.“ Sie ahnte, daß es nicht mehr viel sein würde, nahm darum als eine Überraschung hin, daß sie noch Weihnachten und Neujahr erlebte und spürte, wie ihre Sehnsucht nach dem Frieden bei Gott immer größer wurde. Als ich sie zum letzten Mal im März kurz vor ihrem Tod im Krankenhaus besuchte, deutete sie mit ihrem mü-den Arm nach oben und sagte ganz leise: „Nun bin ich zufrieden, wenn ich heimgehen darf.“
Sie durfte es am 13. März 1998, kaum drei Wochen vor ihrem Geburtstag, und sie wurde am 19. März mit einem von ihr erbetenen Wort aus den Abschiedsreden Jesu Johannes 14,19
Ich lebe und ihr sollt auch leben
in Wuppertal beigesetzt. Auf der anschließenden Abschiedsfeier nahmen alle noch einmal staunend und dankbar wahr, wieviel diese ungewöhnliche Frau Frieda Schindelin in ihrem langen Leben gearbeitet, angeregt, gefördert und bewirkt hat.
Renate Kirsch, Remscheid
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