Zum Wesen der Spiritualität gehört das Geheimnisvolle und Verborgene.
Wie sollte man die Sehnsucht nach dem Grenzenlosen und Unendlichen
auch begrifflich fassen und abgrenzen? Dennoch wird seit etwa 20 Jahren glaubensvolles Vertrauen und Zuversicht – so kann man die spirituelle Dimension auch umschreiben – als ein zentraler Bereich ganzheitlicher medizinischer Versorgung in eine Krankenbehandlung mit einbezogen.
Wesentliche Impulse hierfür hat die britische Krankenschwester Cicely Saunders (1918-2005) mit ihrem ganzheitlichen Schmerzkonzept geliefert. Sie wusste, dass gerade spirituelle Krisen, ausgelöst durch existenzielle Nöte und Sinnfragen am Lebensende – Warum ich? Meine Schuld? Wozu das Leid? Was kommt nach dem Tod? – tiefe Schmerzen verursachen können. Darum setzte sie sich dafür ein, dass in der Sorge um die Menschen am Lebensende nicht nur ihre körperlichen, seelischen und sozialen Bedürfnisse berücksichtigt werden, sondern auch ihre spirituellen.
Die eigene Spiritualität und die einer oder eines anderen wird oft erst in Krisen- und Grenzsituationen des Lebens bewusst: in Leid, Krankheit, Scheitern, Schuld, Einsamkeit und anderen NotZuständen, die uns auf das eigene Selbst zurückwerfen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet Spiritualität als Reflexion der Erfahrungen, die im Umgang mit solchen existenziellen Krisen gemacht werden.
„Spiritual Care“ bezieht sich dabei besonders auf den professionellen Bereich der Gesundheitsberufe. „Gesundheit“ hat die WHO definiert als bio-psycho-soziales Wohlbefinden, für das in den Berufen der Medizin, Psychologie, Pflege und Sozialen Arbeit so gut wie möglich gesorgt werden soll. In den letzten Jahren wird immer wieder eine Erweiterung dieses Modells um die spirituelle Dimension erwogen. Dabei wird die spirituelle Dimension nicht nur als zusätzliche, sondern als integrierende Dimension aufgefasst. Spiritual Care verstehen wir heute als „gemeinsame Sorge aller Gesundheitsberufe für die spirituellen Bedürfnisse kranker Menschen“ (Eckhard Frick).
Angestoßen durch die Hospizarbeit, entwickelte sich die Spiritual Care-Bewegung als ein Gegenentwurf zu technikfaszinierten Hochleistungsmedizin, die kaum Platz für Mitgefühl, Geduld, Hoffnung oder andere religiöse Tugenden bietet.
Aus der Protestbewegung gegenüber der einseitig biologistisch ausgerichteten Schulmedizin ist heute eine ergänzende, wichtige Perspektive ganzheitlichen Vorgehens in der Palliativmedizin geworden. Mehr und mehr wird spirituelle Gesundheit als ein zentraler Bereich medizinischer Versorgung eingeschätzt, der neben der psychischen, sozialen und biologischen Dimension als vierter Faktor für umfassendes Wohlbefinden gleichberechtigt berücksichtigt und gefördert wird. Spiritualität ist der moderne Begriff für religiöse Erfahrungen ohne Dogma oder Kirche, verwurzelt in der eigenen Betroffenheit. Spätestens angesichts des unausweichlichen Todes werden spirituelle Bedürfnisse wach, die naturwissenschaftlich nicht gestillt werden können.
Früher haben pastorale Dienste der Seelsorge die glaubensvolle Bewältigung einer Krise übernommen – vor allem durch die Krankenseelsorge. Heute ist in Folge ärztlicher Spiritual Care die spirituelle Begleitung Teil der professionellen Gesundheitsversorgung geworden. In der Gesundheitspolitik verlagerte sich die Aufgabe der spirituellen Begleitung von einem kirchlich-pastoralen Angebot in das medizinisch-professionelle Arbeitsfeld, was die kirchliche Seelsorge schwächte. Während in Deutschland über die Abgrenzung zwischen pastoraler und spiritueller Begleitung gestritten wird und Spiritual Care für manche zum evolutionären Ersatz für die Seelsorge geworden ist, gehen andere Ländern integrativer und kooperativer vor.
Spiritual Care ist eine interdisziplinäre Bewegung, die neben den Profis die pflegenden Angehörigen mit einbezieht. Die „gemeinsame Sorge“ ist etwas typisch Menschliches. Uns Menschen eint die Erfahrung von Grenzsituationen. Wir sind auf uns selbst bezogen – aber als soziale Wesen auch unbedingt auf ein Gegenüber. Die Verbundenheit miteinander wird uns besonders bewusst, wenn wir einander in Krisen, Krankheit und Not beistehen. Wenn wir, wo wir keine Abhilfe schaffen können, das menschliche Leid nebeneinander und miteinander aushalten.
Heidegger spricht von der Sorge als Kennzeichen unseres Daseins überhaupt: Da-sein ist Mit-sein. Unser Gewissen definiert er als „Ruf zur Sorge“. Wir sind mit anderen, wir sind Teil eines „Wir“. Das „Sein für andere“ ist Aufgabe und Wesen unseres Daseins.
In Deutschland wurde 2010 erstmals an der medizinischen Fakultät der Universität München eine Professur für Spiritual Care eingerichtet. Es gibt seitdem auch eine Internationale Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität (IGGS), die die Zeitschrift „Spiritual Care“ herausgibt. Auch in Zürich existiert seit 2015 eine Professur für Spiritual Care. In der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) gibt es seit 2014 ein Referat „Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie“, das sich intensiv mit Spiritual Care befasst. Ein Curriculum, wie spirituelle Kompetenzen in den Aus- und Weiterbildungen in Medizin und Psychotherapie erlernt werden können, ist in Vorbereitung.
Bei kranken Menschen können Religiosität und Spiritualität Teil der Lösung, aber auch Teil des Problems sein. Spirituelles Erleben kann nämlich auch Krisen provozieren – das soll nicht verschwiegen werden.
Spiritualität ist elementar in die menschliche Existenz hineingewoben – und zwar bei den Hilfesuchenden genauso wie bei den professionell Helfenden. Es macht etwas mit uns, die spirituelle Dimension einer oder eines anderen zu erfragen. Es gehört Mut dazu, manchmal auch eine Überwindung. Und es gibt immer die Tendenz, solche Gespräche zu vermeiden oder zu umgehen. Aber weil aus der spirituellen Dimension so viel Heilsames erwachsen kann, sollten wir uns dieser Aufgabe auch stellen. Wird die Spiritualität als Ressource erkannt, so verhilft das im besten Fall zur Selbsthilfe – und kann staunen lehren über eine Dimension, die unverfügbar, aber hochwirksam ist.
Dr. phil. Dr. med. Gabriele Stotz-Ingenlath hat Philosophie und Medizin studiert und arbeitet als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in der Ambulanz der Fliednerklinik Berlin. Sie ist stellvertretende Leiterin des Referats „Spiritualität und Religiosität“ in der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGLPPN) und Mitglied im Vorstand der Internationalen Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität (IGGS) .
Prof. Dr. Michael Utsch hat Theologie und Psychologie studiert und arbeitet als Referent der Ev. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin. Daneben ist er als approbierter Psychotherapeut in einer Praxisgemeinschaft tätig, leitet das DGPPN-Referat „Religiosität und Spiritualität“ und führt Lehraufträge und Weiterbildungen zum Thema Religionspsychologie durch.
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