Ausgabe 2 / 2019 Artikel von Gabriele Stotz-Ingenlath und Michael Utsch

Frischer Wind in den Gesundheitsberufen

Spiritual Care - eine heilsame Dimension

Von Gabriele Stotz-Ingenlath und Michael Utsch

Zum Wesen der Spiritualität gehört das Geheimnisvolle und Verborgene.
Wie sollte man die Sehnsucht nach dem Grenzenlosen und Unendlichen
auch begrifflich fassen und abgrenzen? Dennoch wird seit etwa 20 Jahren glaubensvolles Vertrauen und Zuversicht – so kann man die spirituelle Dimension auch umschreiben – als ein zentraler Bereich ganzheitlicher medizinischer Versorgung in eine Krankenbehandlung mit einbezogen.

Wesentliche Impulse hierfür hat die britische Krankenschwester Cicely Saunders (1918-2005) mit ihrem ganzheitlichen Schmerzkonzept geliefert. Sie wusste, dass gerade spirituelle Krisen, ausgelöst durch existenzielle Nöte und Sinnfragen am Lebensende – Warum ich? Meine Schuld? Wozu das Leid? Was kommt nach dem Tod? – tiefe Schmerzen verursachen können. Darum setzte sie sich dafür ein, dass in der Sorge um die Menschen am Lebensende nicht nur ihre körperlichen, seelischen und sozialen Bedürfnisse berücksichtigt werden, sondern auch ihre spirituellen.

Wir können Spiritualität auffassen als Bezogenheit auf etwas, das das eigene Ich übersteigt.
Verbunden zu sein mit einem größeren Ganzen: Das ist ein sehr privater und individueller, im letzten nicht mitteilbarer, gehüteter und geheimnisvoller Bereich jedes Menschen, auch wenn er gar nicht reflektiert wird und bewusst ist. Wenn man sich dieser geistigen Dimension von Menschen, dem, was ihre innersten Bestrebungen ausmacht, nähert, sollte dies mit großer Achtsamkeit und Vorsicht, behutsam und mit Respekt geschehen.

Die eigene Spiritualität und die einer oder eines anderen wird oft erst in Krisen- und Grenzsituationen des Lebens bewusst: in Leid, Krankheit, Scheitern, Schuld, Einsamkeit und anderen NotZuständen, die uns auf das eigene Selbst zurückwerfen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet Spiritualität als Reflexion der Erfahrungen, die im Umgang mit solchen existenziellen Krisen gemacht werden.

„Spiritual Care“ bezieht sich dabei besonders auf den professionellen Bereich der Gesundheitsberufe. „Gesundheit“ hat die WHO definiert als bio-psycho-soziales Wohlbefinden, für das in den Berufen der Medizin, Psychologie, Pflege und Sozialen Arbeit so gut wie möglich gesorgt werden soll. In den letzten Jahren wird immer wieder eine Erweiterung dieses Modells um die spirituelle Dimension erwogen. Dabei wird die spirituelle Dimension nicht nur als zusätzliche, sondern als integrierende Dimension aufgefasst. Spiritual Care verstehen wir heute als „gemeinsame Sorge aller Gesundheitsberufe für die spirituellen Bedürfnisse kranker Menschen“ (Eckhard Frick).

Angestoßen durch die Hospizarbeit, entwickelte sich die Spiritual Care-Bewegung als ein Gegenentwurf zu technikfaszinierten Hochleistungsmedizin, die kaum Platz für Mitgefühl, Geduld, Hoffnung oder andere religiöse Tugenden bietet.

Aus der Protestbewegung gegenüber der einseitig biologistisch ausgerichteten Schulmedizin ist heute eine ergänzende, wichtige Perspektive ganzheitlichen Vorgehens in der Palliativmedizin geworden. Mehr und mehr wird spirituelle Gesundheit als ein zentraler Bereich medizinischer Versorgung eingeschätzt, der neben der psychischen, sozialen und biologischen Dimension als vierter Faktor für umfassendes Wohlbefinden gleichberechtigt berücksichtigt und gefördert wird. Spiritualität ist der moderne Begriff für religiöse Erfahrungen ohne Dogma oder Kirche, verwurzelt in der eigenen Betroffenheit. Spätestens angesichts des unausweichlichen Todes werden spirituelle Bedürfnisse wach, die naturwissenschaftlich nicht gestillt werden können.

Früher haben pastorale Dienste der Seelsorge die glaubensvolle Bewältigung einer Krise übernommen – vor allem durch die Krankenseelsorge. Heute ist in Folge ärztlicher Spiritual Care die spirituelle Begleitung Teil der professionellen Gesundheitsversorgung geworden. In der Gesundheitspolitik verlagerte sich die Aufgabe der spirituellen Begleitung von einem kirchlich-pastoralen Angebot in das medizinisch-professionelle Arbeitsfeld, was die kirchliche Seelsorge schwächte. Während in Deutschland über die Abgrenzung zwischen pastoraler und spiritueller Begleitung gestritten wird und Spiritual Care für manche zum evolutionären Ersatz für die Seelsorge geworden ist, gehen andere Ländern integrativer und kooperativer vor.

Spiritual Care ist eine interdisziplinäre Bewegung, die neben den Profis die pflegenden Angehörigen mit einbezieht. Die „gemeinsame Sorge“ ist etwas typisch Menschliches. Uns Menschen eint die Erfahrung von Grenzsituationen. Wir sind auf uns selbst bezogen – aber als soziale Wesen auch unbedingt auf ein Gegenüber. Die Verbundenheit miteinander wird uns besonders bewusst, wenn wir einander in Krisen, Krankheit und Not beistehen. Wenn wir, wo wir keine Abhilfe schaffen können, das menschliche Leid nebeneinander und miteinander aushalten.

Heidegger spricht von der Sorge als Kennzeichen unseres Daseins überhaupt: Da-sein ist Mit-sein. Unser Gewissen definiert er als „Ruf zur Sorge“. Wir sind mit anderen, wir sind Teil eines „Wir“. Das „Sein für andere“ ist Aufgabe und Wesen unseres Daseins.

Selbstsorge, ein Weg der Achtsamkeit auf sich selbst, ist zunächst sehr wichtig, allein, in der Selbst-Fürsorge endet der spirituelle Weg nicht. Es geht auch um die Öffnung für andere, um einen solidarischen Umgang mit anderen Menschen: Der eigene spirituelle Weg schließt die Fürsorge mit ein. Selbstsorge und Fürsorge gehören in der gemeinsamen Sorge zusammen.
Spiritual Care gilt heute als wissenschaftliche und damit erforschbare, lehr- und lernbare Disziplin im Grenzbereich zwischen Medizin, Theologie und Krankenhausseelsorge.
Sie sollte in Beratung, Behandlung und Pflege ebenso praktisch umgesetzt werden wie die jeweiligen speziellen beruflichen Kompetenzen.

In Deutschland wurde 2010 erstmals an der medizinischen Fakultät der Universität München eine Professur für Spiritual Care eingerichtet. Es gibt seitdem auch eine Internationale Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität (IGGS), die die Zeitschrift „Spiritual Care“ herausgibt. Auch in Zürich existiert seit 2015 eine Professur für Spiritual Care. In der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) gibt es seit 2014 ein Referat „Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie“, das sich intensiv mit Spiritual Care befasst. Ein Curriculum, wie spirituelle Kompetenzen in den Aus- und Weiterbildungen in Medizin und Psychotherapie erlernt werden können, ist in Vorbereitung.

Es ist sehr wichtig, bei einem Behandlungs- oder Beratungsgespräch im Gespräch mit den Angehörigen gemeinsam herauszufinden, wie in diesem Behandlungsfall die spirituelle Dimension thematisiert und genutzt werden kann.
Hier sind die Angehörigen unverzichtbare Quellen, weil sie in der Regel die Geschichte der Glaubensentwicklung und den aktuellen Stand gut einschätzen können. Um die Ressourcen der Spiritualität professionell erfassen zu können, wurde ein Fragebogen entwickelt, der heute oft eingesetzt wird. Eckhard Frick und Kollegen haben folgendes Interview als Gesprächsleitfaden entwickelt:
¬ S steht für spirituelle und Glaubensüberzeugungen: Würden Sie sich im weitesten Sinne als gläubigen (religiösen/spirituellen) Menschen betrachten?
¬ P steht für Platz und Einfluss dieser Überzeugungen im Leben der Patient*innen: Sind die Überzeugungen, von denen Sie gesprochen haben, wichtig für Ihr Leben und für Ihre gegenwärtige Situation?
¬ I steht für Integration in eine spirituelle, religiöse, kirchliche Gemeinschaft/Gruppe: Gehören Sie zu einer spirituellen oder religiösen Gemeinschaft (Gemeinde, Kirche, spirituelle Gruppe)?
¬ R steht für Rolle der Ärztin / des Therapeuten / der Pflegerin / des Sozialarbeiters: Wie soll ich als Ihr Arzt / Ihre Seelsorgerin / Ihr Pfleger mit diesen spirituellen Fragen und Erwartungen umgehen?

Bei kranken Menschen können Religiosität und Spiritualität Teil der Lösung, aber auch Teil des Problems sein. Spirituelles Erleben kann nämlich auch Krisen provozieren – das soll nicht verschwiegen werden.

Echte, gesunde Spiritualität wird sich im Alltag bewähren, sie setzt ein klares Realitätsbewusstsein voraus.
Gesunde Menschen leben ihre Spiritualität nicht außerhalb der Welt, sondern in der Welt, äußerlich unauffällig. Es braucht Spiritual Care auf beiden Seiten:
¬ wenn Ärztin und Eltern am Bett eines Kindes stehen, das soeben an Leukämie verstorben ist;
¬ wenn der Intensivmediziner bei Bluterbrechen den Schlauch für die Narkose nicht setzen und darum den Patienten nicht retten kann;
¬ wenn die hochreligiöse Frau, deren Gottesbeziehung durch eine schwere Depression getrübt ist, unbehandelt bleibt, weil sie sich keiner Psychotherapeutin anvertrauen möchte;
¬ wenn akute Suizidalität im Raum steht, und die Psychiaterin den Betroffenen nach irgendeiner Hoffnung oder einem Halt fragt, für den es sich zu leben lohnt;
¬ wenn die Mutter ihr schwer behindertes Kind aus Schuld- oder Pflichtgefühl nicht in eine Einrichtung oder Tagespflege abgeben kann und später unter der Sorge selber zerbricht;
¬ wenn ein alter Mann im Altersheim bei der Visite den Arzt dringlich bittet, ihm zum Sterben zu verhelfen;
¬ wenn die Krankenschwester zum Ehemann der im Koma liegenden Frau tritt und ihn mit den drei kleinen Kindern allein sieht;
¬ wenn eine Schülerin sich neben die alte Frau im Altersheim setzt und sich aus deren Leben erzählen lässt;
¬ wenn ein Kunsttherapeut gemeinsam mit dem Patienten ein Bild betrachtet, das einen Ausweg aus der Angst darstellt;
¬ wenn eine christliche Band in einem Jugendgefängnis von Vergebung und Reue singt;
¬ wenn eine junge Türkin aus einer streng muslimischen Familie, die zu ihrem deutschen Freund ziehen will, mit Gewalt festgehalten wird, und der Nachbar die Sozialarbeiterin einschaltet;
¬ wenn ein einsamer Witwer verwahrlost bei der Sprechstundenhilfe ein Rezept abholt;
¬ wenn ein esoterisch orientierter Vater für sein Kind Impfungen ablehnt.

Spiritualität ist elementar in die menschliche Existenz hineingewoben – und zwar bei den Hilfesuchenden genauso wie bei den professionell Helfenden. Es macht etwas mit uns, die spirituelle Dimension einer oder eines anderen zu erfragen. Es gehört Mut dazu, manchmal auch eine Überwindung. Und es gibt immer die Tendenz, solche Gespräche zu vermeiden oder zu umgehen. Aber weil aus der spirituellen Dimension so viel Heilsames erwachsen kann, sollten wir uns dieser Aufgabe auch stellen. Wird die Spiritualität als Ressource erkannt, so verhilft das im besten Fall zur Selbsthilfe – und kann staunen lehren über eine Dimension, die unverfügbar, aber hochwirksam ist.

Dr. phil. Dr. med. Gabriele Stotz-Ingenlath hat Philosophie und Medizin studiert und arbeitet als Fachärztin
für Psychiatrie und Psychotherapie in der Ambulanz der Fliednerklinik Berlin. Sie ist stellvertretende Leiterin des Referats „Spiritualität und Religiosität“ in der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGLPPN) und Mitglied im Vorstand der Internationalen Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität (IGGS) .

Prof. Dr. Michael Utsch hat Theologie und Psychologie studiert und arbeitet als Referent der Ev. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin. Daneben ist er als approbierter Psychotherapeut in einer Praxisgemeinschaft tätig, leitet das DGPPN-Referat „Religiosität und Spiritualität“ und führt Lehraufträge und Weiterbildungen zum Thema Religionspsychologie durch.

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