Alle Ausgaben / 2007 Andacht von Heike-Ruth Klaiber

Fülle uns frühe mit deiner Gnade

Andacht zur Jahreslosung 2008

Von Heike-Ruth Klaiber


Es ist Freitagnachmittag, nach und nach kommen die Patienten zu unserem wöchentlichen Gottesdienst. Gleich in der ersten Reihe nehme ich Frau Müller wahr, die ich bereits von mehreren Besuchen auf ihrer Station in unserer geriatrischen Klinik kenne. Interessiert schaut sie sich im Andachtsraum um, mustert die Anwesenden und scheint darauf zu warten, dass etwas passiert. Als ich Frau Müller begrüße, freut sie sich und fragt: „Kennen wir uns?“

Ich stelle mich vor und erkläre, dass ich für den Gottesdienst zuständig bin. Nach der Eingangsmusik beginne ich die Begrüßung mit dem Vers aus Psalm 91: „Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen…“. Frau Müller ruft begeistert: „Das ist ja mein Konfirmationsspruch!“ Sichtlich erfreut singt sie das erste Lied mit. Bei der Psalmlesung werde ich mehrmals von ihr unterbrochen; sie kennt die Verse, sagt sie laut mit und fügt ihre Bemerkungen an. Andere Gottesdienstbesucher signalisieren, dass sie sich gestört fühlen. Eine Mitarbeiterin der ehrenamtlichen Grünen Damen setzt sich neben Frau Müller und will sie beruhigen, erreicht aber nur das Gegenteil: Frau Müller wird lauter, ruft noch mehr dazwischen, das nächste Lied kann sie nicht mehr konzentriert mitsingen. Als ich mit der Ansprache beginne, fällt mir Frau Müller wiederholt ins Wort, erzählt von ihrer Konfirmation, die Anfang der 1930er Jahre gewesen sein muss. Ich lege mein Konzept zur Seite und versuche auf sie einzugehen. Ich suche nach einem Punkt, an dem wir in ein gemeinsames Gespräch kommen können. So unterhalten wir uns schließlich über die Frage, wie Engel wohl aussehen, und ob Frau Müller sie in ihrem Leben erlebt hat.

Am Ende dieses Gottesdienstes wird Frau Müller, die sehr entspannt aussieht, von der Grünen Dame zu ihrem Krankenzimmer begleitet. Bei der Verabschiedung beschwert sich die Tochter einer anderen Patientin, dass es unerhört sei, wenn solche verwirrten Menschen die Andacht des Gottesdienstes stören. Wenn die Gottesdienste in der Klinik immer so seien, könnten die normalen Menschen ja nicht mehr kommen. Nun – die Gottesdienste in unserem Krankenhaus verlaufen nicht immer so. Es kommt jedoch gelegentlich vor, dass sich vor allem verwirrte Patienten anders verhalten, als wir es im Gottesdienst gewohnt sind.


Im Nebel des Vergessens

So wie bei Frau Müller, deren Name für diese Andacht geändert ist, wird etwa bei einem Drittel der Patienten in unserem Krankenhaus für Altersmedizin eine Demenzerkrankung vom Typ Alzheimer festgestellt.

Demenzkranke leben in ihrer eigenen Welt, die von Außenstehenden nicht ohne weiteres betreten werden kann. Menschen mit einer Demenzerkrankung erfahren einen schleichenden Verlust der Denkfunktionen, vor allem können sie nichts Neues mehr lernen. Das bedeutet: Es wird zunehmend schwieriger, sich an Mitmenschen zu erinnern; in fortgeschrittenem Stadium werden selbst Familienangehörige nicht mehr erkannt. Auch das Zurechtfinden in der gewohnten Umgebung ist beeinträchtigt, es fehlt der Orientierungssinn. Obwohl diese Kranken ihr Erinnerungs- und Denkvermögen einbüßen, bleiben jedoch die Erlebnisfähigkeit und das Gefühlsleben oftmals erstaunlich lange erhalten.

Ein würdevoller Umgang ist möglich, wenn nicht die Defizite und zunehmenden Begrenzungen im Vordergrund stehen, sondern die verbliebenen Fähigkeiten und Ressourcen wahrgenommen und zugelassen werden. Es ist durchaus lohnend, an die noch vorhandenen Fähigkeiten und Kenntnisse im Gefühlsleben und im Altgedächtnis anzuknüpfen. Dies kann das Identitätsgefühl des erkrankten Menschen stärken und unterstreicht außerdem seine Einzigartigkeit. Auch wenn im „Nebel des Vergessens“ vieles verschwindet, können doch aus dem Altgedächtnis Botschaften hervorkommen, die immer noch spürbar und lebendig sind.

Die Beschäftigung mit dem Thema Demenz hat mir persönlich wieder ganz neu ins Bewusstsein gerufen, sich in klaren Zeiten über das eigene Leben Gedanken zu machen. Erforderlich sind dazu die Fähigkeiten des Lernens und die Bereitschaft und Kraft für Veränderungen. Was ist mir wichtig? Welche Werte und Grundsätze leiten mich? Woran möchte ich mich eines Tages aus dem Altgedächtnis heraus erinnern können? Unsere Väter und Mütter haben viel Wert auf das Auswendig lernen gelegt. Das ist heute nicht mehr „in“. Umso mehr sollten wir andere Möglichkeiten finden, wie wir wichtige Aspekte für unser Leben in unserem Altgedächtnis dauerhaft speichern können.

Frau Müller hat sich an ihren Konfirmationsspruch erinnert: „Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.“ Offenbar war das nicht nur ein schöner und zu diesem Anlass ausgesuchter Spruch, sondern er war Bestandteil im Leben der Familie, in der Frau Müller aufgewachsen ist: Sie erzählte uns in diesem Gottesdienst von ihrer Mutter, die sie mit einem Segensspruch verabschiedete, wenn sie das Haus verließ. Als sie davon berichtete, spürte ich, wie sie sich in dieser Erinnerung geborgen fühlte. Ihr Gesichtsausdruck war strahlend und klar.

Meine vorbereitete Predigt war zwar ausgefallen, dafür durfte ich erleben, dass dieses Gespräch mit Frau Müller mir zur Predigt wurde: Sie hat mich und andere an ihrer Glaubenserfahrung teilhaben lassen.


Ich lebe und ihr sollt
auch leben

Wohl wissend, wie sehr die Pflege der Demenzkranken – ob im Krankenhaus oder zuhause – alle Begleitenden fordert, möchte ich die Jahreslosung in diesem speziellen Kontext betrachten und sie in Bezug zu dem Bild der Künstlerin Andrea Loch setzen.

„Ich lebe und Ihr sollt auch leben!“ Die meisten Menschen haben eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie sie leben möchten. Diese wird von verschiedenen Einflüssen geprägt: von der Erziehung, von Werten und Normen der gesellschaftlichen Schicht, in der man sich bewegt, von der Medienwelt und nicht zuletzt der Werbung. Das alles zusammengenommen ergibt einen Lebensentwurf, bei dem wir einigermaßen gesund sind, materiell versorgt, in stabilen Beziehungen leben und uns leistungsfähig in die Gesellschaft einbringen können, ohne besonders aufzufallen – eben ein ganz normales Leben.

Brüchig wird dieses Bild, wenn sich einer der „Normalfaktoren“ verändert. Einschränkungen, Behinderungen und Begrenzungen geraten in den Vordergrund. Das „Normale“ scheint nicht mehr möglich zu sein, in den Augen der anderen wird vom Üblichen abgewichen. Dieser Betrachtung folgt schnell eine Bewertung. So, wie ein „normales“ Leben als lebenswert angesehen und oft auch mit Freiheit in Verbindung gebracht wird, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass bei eingeschränkter Freiheit das Leben als „minderwertig“ empfunden wird.
Diesen Kontrast nimmt die Künstlerin in den überwiegenden Farben ihres Bildes „Phönix“ auf: rot und blau. Der rote Bereich symbolisiert Wärme und Geborgenheit. Ein Bereich, in dem man sich wohl fühlen kann. Er entspricht am ehesten dem beschriebenen „normalen“ Leben. Kälte und Einsamkeit dagegen sehe ich im Blau, das von einer gewissen Unruhe durchströmt wird. Oben rechts erkenne ich ein helles Licht, das in diesem kleinen Ausschnitt seine ganze Fülle nur erahnen lässt.

Im Zentrum des Bildes ist ein Wesen dargestellt, das den roten Bereich verlässt. Das Gefieder des Wesens, das die Künstlerin als Phönix beschreibt, ist in kräftigen bunten Farben gemalt, darin wird für mich etwas Besonderes, Einzigartiges angedeutet. Mit kräftigen Flügelschlägen versucht der Phönix sich in der rauen Umgebung zu bewegen. Er verharrt nicht, sinkt nicht in sich zusammen, sondern erhebt sich zielgerichtet auf diesen hellen Schein hin. Bei genauem Hinsehen ist erkennbar, dass der Kopf des Vogels bereits von diesem hellen Licht umhüllt ist. Gibt ihm das die Kraft, sich außerhalb des Normalen zurechtzufinden?

Ich lebe und Ihr sollt auch leben! – Das Bild des Phönix drückt eine Einladung an alle Menschen aus, egal in welcher Situation sie sich befinden. Die Einladung ermutigt dazu, aus dem scheinbar Normalen auszubrechen, aufzubrechen hin zu einer Geborgenheit in einer anderen, der göttlichen Dimension.

In meinem Berufsalltag als Klinikseelsorgerin begegnen mir Menschen, die Angst, Unsicherheit und Ungewissheit erleben und nach Halt, Hoffnung und Zuversicht suchen. Gottes Zusage, dass Aufbrüche auch in schwierigen Situationen möglich sind, kann oder will nicht immer angenommen werden. So sind es besondere Momente, wenn mit Patienten und ihren Angehörigen oder auch mit Mitarbeitenden im Gespräch eine seelsorgliche Ebene erreicht werden kann, in der die Worte von Jesus: „Ich lebe und Ihr sollt auch leben!“ lebendig werden.

Vorschläge zur Gestaltung

Psalm 90
Lesen Sie den Psalm in der Luther-Übersetzung; schön wäre es, wenn sich mehrere am Lesen beteiligen. Dann lädt die Leiterin zum Austausch in kleinen Gesprächsgruppen zu Vers 14 ein: „Fülle uns frühe mit deiner Gnade, so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang.“
– Was bedeutet für mich erfülltes Leben?
– Wie kommt diese Fröhlichkeit und Glaubensgewissheit in meinem Leben zum
   Ausdruck?
– Woran möchte ich mich mein Leben lang erinnern?

Jahreslosungskarte „Phönix“
Jede Teilnehmerin erhält eine Jahreslosungskarte „Phönix“ und zwei leere Kärtchen oder Zettel (2 Farben). Die Leiterin erläutert kurz, dass der Name „Phönix“ auf den alten Mythos von dem Vogel zurückgeht, der verbrennt und neu aus seiner Asche entsteht – daher die Redewendung „wie Phönix aus der Asche“.
Bezug: Ev. Frauenhilfe in Deutschland
Tel.: 0211/940800; Fax: 0211/9408022
E-Mail: info@frauenhilfe.de
Internet: www.frauenhilfe.de

Die Frauen werden gebeten, das Bild kurz auf sich wirken zu lassen und in Stichworten auf den Zetteln Antworten auf folgende Fragen zu notieren:
n Welche Empfindungen begleiten mich bei der Betrachtung des Bildes?
n Aus welcher Situation in meinem (vergangenen oder gegenwärtigen) Leben würde ich gern ausbrechen, aufsteigen „wie Phönix aus der Asche“?

Die Karten werden entweder um eine Mitte gelegt oder für alle sichtbar aufgehängt. Je nach Zeit und Gruppenzusammensetzung können sie vorgelesen oder ohne Kommentar von jeder gelegt oder aufgehängt werden.

Jahreslosung
Die Leiterin nennt die Jahreslosung 2008: „Ich lebe und ihr sollt auch leben.“ (Joh 14,19) Sie lädt die Gruppe zu einem (kurzen) Austausch über folgende Fragen ein: Was wünschen wir uns für unser Leben? Was macht das Leben lebenswert? Was gehört für uns zu einem „ganz normalen“, guten Leben?

Den nächsten Schritt eröffnet die Leiterin mit der Frage: Und was ist, wenn Krankheit, Behinderungen … ins Leben kommen? Was macht ein Leben zum Beispiel in Krankheit lebenswert? Als Impuls können aus dem Text oben die Erfahrungen einer Krankenhausseelsorgerin vorgelesen werden (von Beginn bis einschließlich des Kapitels „Im Nebel des Vergessens“).

Alternativ oder danach kann die Gruppe sich über eigene Erfahrungen in der Begleitung von pflegebedürftigen Angehörigen austauschen. Vielleicht gibt es auch die Möglichkeit, hierzu oder zu einem späteren Treffen jemanden mit entsprechenden beruflichen Erfahrungen in der Pflege einzuladen.
Abschließend sollte ein Gebet die Gedanken bündeln. Eine Möglichkeit wäre, dass verschiedene Frauen je eine der Kärtchen vom Beginn nehmen
und mit den Worten „Gott, wir bitten dich um…“ eine Fürbitte formulieren und danach eine Kerze anzünden.

Segen
Gott, der dir ein Leben in Fülle verspricht:
Er sei mit dir und segne die Jahre deines Lebens,
Er segne die Jahre der Fülle und die Jahre der Not,
Er segne deine Gedanken, dein Fühlen und dein Spüren.
So behütet und segnet dich Gott,
der dir ein erfülltes Leben verspricht.
Amen.


Heike-Ruth Klaiber, 51 Jahre, lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Kirchheim/Teck. Sie arbeitet als Klinikseelsorgerin in der Bethesda Geriatrischen Klinik Ulm; im Ehrenamt ist sie Bundesvorsitzende des Frauenwerks der Evangelisch-methodistischen Kirche.


Zum Weiterlesen

Kostenlose Informationsbroschüren:
Alzheimer-Patienten fördern – So stärken und stützen Sie verbliebene Fähigkeiten; Bezug: Deutsche Alzheimer-Gesellschaft e.V., Friedrichstrasse 236, 10969 Berlin ; Tel 030 / 31 50 57 33; Internet: www.deutsche-alzheimer.de
Demenz – das schleichende Vergessen und: Leben mit Demenzkranken – Tipps für den Alltag; Bezug: Zukunftsforum Demenz, Postfach 11 13 53, 60048 Frankfurt am Main; Internet: www.zukunftsforum-demenz.de oder www.alzheimerinfo.de
Martin Weidenfelder, Mit dem Vergessen leben: Demenz – Verwirrte alte Menschen verstehen und einfühlsam begleiten, KreuzVerlag ISBN 3-7831-2370-4, 14.90 €

 

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