Ausgabe 2 / 2013 Artikel von Sabine Wöhlke

Fürsorgegeist und Heldenmut

Geschlechtsspezifische Aspekte bei der Organtransplantation

Von Sabine Wöhlke

Organtransplantation hat eine hohe gesellschaftliche Relevanz in Deutschland: Zurzeit warten etwa 11.233 Menschen auf ein Spendeorgan. Im Jahr 2012 wurden 4.042 Organe von postmortalen Spender_Innen transplantiert.

Es besteht also eine große Diskrepanz zwischen der Anzahl von PatientInnen, die auf ein Organ warten, und den zur Verfügung stehenden Organen. Daher gewinnt die Lebendorganspende zunehmend an Relevanz für Betroffene und ihre Angehörigen. Von 40 im Jahr 1990 stieg die Zahl von lebend gespendeten Nieren auf 795 im Jahr 2011.1 59 Prozent (469 Personen) der SpenderInnen waren Frauen und 35,2 Prozent (280) Männer.2 Etwas anders stellt sich das Geschlechterverhältnis bei den postmortalen OrganspenderInnen dar; im Jahr 2011 waren 53,8 Prozent männlich (646), 46,2 Prozent (554) weiblich.3

Der Körper war und ist dabei physischer Gegenstand medizinischer Eingriffe und biomedizinischer Innovationen – wie der Transplantationsmedizin – und damit schon immer Teil medizinethischer Überlegungen gewesen.
Da hier ein besonderer Akt des Gebens und Nehmens von Körperteilen praktiziert wird, stellen beide Formen der Organspende psychische, soziale und kulturelle Herausforderungen dar. Ein lebendes Organ kann in Deutschland nur von Personen gespendet werden, die „dem Empfänger in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahe stehen“ (TPG §8 (1)), ein postmortales Organ hingegen nur in anonymisierter Form, das heißt, OrganspenderIn (und dessen / deren Angehörige) und OrganempfängerIn kennen sich nicht.

Wie ist es zu erklären, dass bei der post-mortalen Organspende Spender überwiegen, hingegen bei der Lebendorganspende mehr Frauen als Männer Organe spenden? Ich beleuchte die Frage nach der „Geschlechterungleichheit“ zunächst aus der Perspektive der Lebendorganspende. Denn anders als im Bereich der postmortalen Organspende gibt es dort mittlerweile zahlreiche geschlechtersensible Studien, die aufzeigen, dass Frauen weitaus häufiger Organe spenden, während Männer mehr Organe empfangen. Die Diskrepanz zwischen weiblichen und männlichen LebendorganspenderInnen wird bereits seit Mitte der 1980er Jahre nachgewiesen und ist zudem in nahezu allen Staaten zu beobachten, in denen Lebend-organspenden durchgeführt werden.4

Die meisten Untersuchungen weisen das Geschlechterverhältnis bisher nur quantitativ aus.5 Wenig erforscht wurden hingegen die Gründe für die höhere Spendenbereitschaft von Frauen in Deutschland oder Europa. Als typische NierenlebendspenderInnen können in den letzten Jahrzehnten Frauen im Durchschnittsalter von 43 Jahren dokumentiert werden.6 Eine Erklärung könnte sein, dass Männer zahlenmäßig häufiger dialysepflichtig und somit auf ein Spendeorgan angewiesen wären; jedoch konnte hierzu kein Geschlechterunterschied nachgewiesen werden, der die erhöhte Spendenbereitschaft erklärt.7 Auch das Argument, dass Männer aus medizinischen Gründen häufiger nicht als Spender in Betracht kommen, findet keine Bestätigung.8 Zwar finden sich bis hierher keine medizinischen -Argumente für das erhöhte Spendeaufkommen von Frauen – gleichwohl gibt es nach wie vor eine Ungleichbehandlung von Männern und Frauen im Medizinsystem. Frauen erhalten oft weniger aggressive, invasive und somit auch weniger effektive Behandlungen als Männer. Männer erhalten häufiger eine Dialysebehandlung und haben dadurch entsprechend häufiger die Möglichkeit, auf die Warteliste für ein Spenderorgan zu kommen.9 Daher kann an dieser Stelle die grundlegende Frage gestellt werden, warum bzw. inwieweit es überhaupt ein kulturelles und ethisches Problem darstellen könnte, dass Frauen in Deutschland mehr Lebendorgane spenden als Männer.

Es wird vermutet, dass die Motive für das erhöhte Spendeaufkommen in traditionellen Geschlechterrollen und entsprechenden Erwartungen zu finden sind. Fürsorge, Aufopferungsbereitschaft und Verantwortung für die familiale Gesundheit werden weiterhin stärker als Aufgaben von Frauen wahrgenommen. Die Trennung der Geschlechterrollen legt nahe, dass Fürsorglichkeit somit auch nicht an biologisch oder frühkindlich bestimmte Persönlichkeitsmerkmale gebunden ist. Sie ist vielmehr ein moralisches Gebot, dessen Anwendungsbereich kulturell bestimmt ist. Im industriegesellschaftlichen Arrangement – das die Reproduktion den Frauen, die Produktion den Männern zuweist – ist „Fürsorglichkeit“ die Erfüllung weiblicher Rollenpflichten. Aufgrund familiarer Identifikationsprozesse erwerben Männer und Frauen unterschiedliche Persönlichkeitsstrukturen. Die damit verbundenen Geschlechterrollen beinhalten eine Form von „Arbeitsteilung“: Frauen wird die Rolle als Familienversorgerin zugewiesen, Männern die Berufsrolle. Trotz der zunehmenden Auflösung von traditionellen Familien- und Lebensformen sind diese Geschlechterrollen bis heute aktuell. Zwar stehen sie im Widerspruch zur sozialen Realität, in der Frauen wie Männer zur Sicherung des Familieneinkommens beitragen – ihr Weiterwirken belegt jedoch, wie tief das Rollenverständnis verwurzelt ist. Über Generationen hinweg vermittelt und initiiert, hat die Identifikation aufgrund von Prägung mit einer Geschlechterrolle Bestand.

Im Falle der Lebendorgantransplantation kann die Spende als Ausweitung weiblicher Familienpflichten gelesen werden. Und in der Tat führen Frauen eher fürsorgliche Motive für ihre Organspende auf, während Männer sie als einen heroischen Akt beschreiben.10 Die geringe Spendebereitschaft bei Männern kann aus einem Konzept von Männlichkeit abgeleitet werden, zu dem körperliche Unversehrtheit und Unverletzbarkeit gehört. Untersuchungen hierzu zeigen, dass sich Frauen eher spontan für die Lebendorganspende entscheiden, wobei sie sich von Werten wie Moral und Verantwortung für die Familie leiten lassen. Männer dagegen neigen zu rationalen und damit auch zeitaufwendigeren Entscheidungsfindungen.11 Indem für Frauen häufig die Entscheidung bereits fest steht und sie sich als Spenderinnen anbieten, nehmen sie Männern die Entscheidung ab – dies zeigt sich besonders in der Konstellation der Eltern-Kind-Spende. Vermutet wird auch, dass Männer seltener spenden, da sie noch immer häufiger Allein- oder Haupternährer der Familie sind. Untersuchungen zeigen allerdings, dass Erwerbstätigkeit zwar einen einflussreichen Faktor für die Spendebereitschaft darstellt, aber keinen so entscheidenden, dass nicht mehr an etablierten und vor allem stabilisierenden Rollenmustern in kritischen Familiensituationen festgehalten würde.12

Diese Befunde zur Lebendorganspende geben zahlreiche Hinweise auf ein Verhalten, dass von Geschlechterrollenerwartungen motiviert ist. Wie lassen sich dann aber die Spendezahlen der postmortalen Organspende erklären? Die Anzahl der Personen, die in Deutschland einen Organspendeausweis haben, ist nach wie vor gering, sie liegt zurzeit bei etwa 25 Prozent. Dabei ist der Anteil von Frauen bei den OrganspendeausweisträgerInnen minimal höher.13 Allerdings gibt es unter den 52 Prozent der Menschen in Deutschland, die noch keinen Organspendeausweis besitzen, aber schon daran gedacht haben, sich einen zu besorgen, überpropor-tional mehr Frauen (59 Prozent) als Männer (45 Prozent).

Liegt kein Organspendeausweis vor, werden die nächsten Angehörigen nach einer Entscheidung über eine mögliche Organspende gefragt. Als häufigste Ablehnungsgründe wurden die bekannte negative Einstellung des oder der Verstorbenen zur Organspende benannt, Zweifel an der Hirntoddiagnostik sowie Furcht vor Missbrauch (Organhandel). Beweggründe für eine Zustimmung zur Organspende sind die bekannte positive Einstellung des oder der Verstorbenen, altruistische Motive und die tröstliche Vorstellung, dem plötzlichen Tod einer oder eines Angehörigen einen Sinn zu geben.

Es gibt bisher kaum Studien, die eine geschlechtssensible Differenzierung von Entscheidungen zur Organspende aus Angehörigenperspektive aufschlüsseln. Es könnte jedoch vermutet werden, dass hier ebenfalls Geschlechterrollenerwartungen eine wesentliche Dynamik verantworten. So neigen Frauen häufiger als Männer dazu, in Patientenverfügungen Entscheidungen hinsichtlich lebensverlängernder Maßnahmen zu treffen. Es sind sicherlich einerseits unterschiedliche klinische Profile (das bedeutet z.B. Grunderkrankung sowie Mitarbeit und Unterstützung der Therapiemaßnahmen), die Entscheidungen am Lebensende von Männern und Frauen mit beeinflussen. Andererseits ist jedoch der nach Geschlechtern unterschiedliche Umgang mit solchen Entscheidungen wesentlich. Sie zeigen sich etwa, wenn PatientInnen die Entscheidung zum Therapieabbruch nicht mehr selbst treffen können und daher die Angehörigen einbezogen werden. Frauen setzen sich in diesem Falle vehementer als Männer für die Einhaltung des Therapiewunsches ihres Partners / ihrer Partnerin ein. Unterschiede in der eigenen Wahrnehmung hinsichtlich der eigenen Fähigkeit als SelbstvertreterIn zeigten sich hierbei nicht. Allerdings haben Patienten im Vergleich zu Patientinnen ein größeres Vertrauen darin, dass sich die Partnerin intensiv um die Belange kümmert.14 Eine erhöhte Spendezahl bei der postmortalen Spende könnte sich daher aus dem Umstand ergeben, dass mehr Frauen stellvertretend für ihre Angehörigen einer Organspende zustimmen.

Warum könnten Entscheidungen zur Organspende, die vor dem Hintergrund eines traditionellen Frauenbildes getroffen werden, ethisch problematisch sein? Die Regelung der postmortalen Organspende sieht vor, dass, wenn kein Organspendeausweis vorliegt, der mutmaßliche Wille des potentiellen Organspenders bzw. der potentiellen Organspenderin mithilfe der nahen Angehö-rigen ermittelt wird. Hierbei ist es als positiv zu bewerten, dass sich anscheinend Frauen häufiger als Männer in einer für sie äußerst schweren Situation, in der eine nahestehende Person stirbt, mit der Frage zur Organspende stellvertretend auseinander setzen können, auch wenn es den Prozess des Abschiednehmens beeinträchtigt. Auch hier können festgelegte Rollenerwartungen, die Frauen eine stärkere Fürsorgeverantwortung für die Familie übertragen, als Motiv vermutet werden.

Stellvertretende Entscheidungen der Angehörigen – bei denen es im Falle einer Postmortalspende um den „mutmaßlichen“ Willen des potentiellen Spenders bzw. der potentiellen Spenderin geht, nicht um die Einstellung der Angehörigen zur Organspende – sind dann ethisch problematisch, wenn dabei die Selbstbestimmung des oder der nahen Angehörigen nicht gewahrt wird. Im Falle einer angefragten Lebendspende bedeutet dies, dass die Entscheidung für, aber auch gegen eine Lebendorganspende auf der Basis von Freiwilligkeit getroffen werden muss. Das bedeutet hinsichtlich der Geschlechterverteilung, dass zum Beispiel Frauen bei einem Spendewunsch die Diskussion in der Familie zulassen sollten, ob es noch andere SpenderInnenoptionen gibt. Über allem anderen aber muss stehen, dass kein emotionaler Druck ausgeübt werden darf. Familiärer Druck kann hierbei zum Beispiel die Vorstellung einer Bringschuld sein oder, dass jemand eine starke moralische Auffassung vertritt, es gäbe eine „Pflicht“ zu helfen. Vielmehr sollten Argumente von allen Familienmitgliedern angehört und abgewogen werden.15

Sabine Wöhlke, M.A., hat Kulturanthropologie / Europäische Ethnologie und Geschlechterforschung studiert. Seit 2006 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin in der Universitätsmedizin Göttingen tätig. Sie promoviert zu dem Entscheidungsfindungsprozess bei der Lebendorganspende. Bis 2008 war Frau Wöhlke zudem als Krankenpflegerin auf der Intensivstation der Universitätsklinik Göttingen tätig.

Anmerkungen

1) Quelle: Eurotransplant, 2013. Diese wie die folgenden Zahlen beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf Deutschland.
2) Bei 5,8 Prozent (46) der Lebendnierenspenden ist das Geschlecht nicht näher spezifiziert.
3) Quelle: Deutsche Stiftung Organtransplantation, 2013.
4) Dieses Geschlechterungleichgewicht bei der Lebendorganspende kann auch als Ausdruck von Globalisierungsmechanismen gedeutet werden, die – wie sich beispielsweise in Indien oder dem Iran zeigt – eine Ausbeutung von benachteiligten Menschen zur Folge haben. Nur treffen diese Diskriminierungsmechanismen nicht auf die westliche Industriewelt, bzw. auf das Lebendorganspendeverfahren in Deutschland zu.
5) Schicktanz et al. 2006
6) Kayler, Rasmussen et al. 2003.
7) Thiel, Nolte et al. 2005.
8) Segev, Kucirka et al. 2009.
9) Winter, Decker 2006.
10) Wöhlke, Motakef 2013 (im Erscheinen).
11) Schauenburg, Biller-Andorno 2003.
12) Schicktanz, Schweda et al. 2010.
13) BZgA 2010
14) Zettel-Watson, Ditto et al. 2008.
15) Wöhlke, Doye, 2011.

Literatur

BZgA (2010). Wissen, Einstellung und Verhalten der Allgemeinbevölkerung zur Organspende. Zentrale Ergebnisse der BZgA-Repräsentativbefragung 2010.
Kayler, L.K., Rasmussen, C.S., et al. (2003). „Gender Imbalance and Outcomes in Living Donor Renal Transplantation in the United States.“ American Journal of Transplantation 3: 452-458.
Schauenburg, H., N. Biller-Adorno (2003). „Einwilligung und Informed Consent bei der Lebendorganspende – Schwierige Konstellationen in der psychosomatisch-medizinethischen Evaluation potenzieller Spender.“ Zeitschrift für psychosomatische Medizin und Psychotherapie 49: 164-174.
Schicktanz, S., Schweda, M., Wöhlke, S. (2010). Gender issues in living organ donation: medical, social and ethical aspects. I. Klinge und C. Wiesemann, Sex and Gender in Biomedicine, Göttingen, Universitätsverlag: 33-57.
Schicktanz. S., Rieger, J., Lüttenberg. B. (2006). Geschlechterunterschiede bei der Lebendnierentransplantation: Ein Vergleich bei globalen, mitteleuropäischen und deutschen Daten und deren ethische Relevanz. Transplantationsmedizin, 18: 83-90.
Segev, D.L., L.M. Kucirka, et al. (2009). „Age and Comorbidities are Effect Modifiers of Gender Disparities in Renal Transplantation.“ Journal American Society of Nephrology 20: 621-628.
Thiel, G.T., C. Nolte, et al. (2005). „Gender Imbalance in Living Kidney Donation in Switzerland.“ Transplantation Proceedings 37: 592-594.
Winter, M. und O. Decker (2006). Gender-Aspekte in der SpenderIn-EmpfängerInbeziehung bei der Lebendorganspende. In: A. Manzei und W. Schneider: Transplantationsmedizin. München, Agenda: 225-249.
Wöhlke, S. und L. Doyé (2011). Damit Du weiterleben kannst. Die geschenkte Niere. Hannover, LVH.
Wöhlke, S. und M. Motakef (im Erscheinen 2013). Selbstbestimmung und Familie am Beispiel der Lebendorganspende. C. Wiesemann, A. Simon:
Patientenautonomie, Berlin, Springer.
Zettel-Watson, L., P.H. Ditto, et al. (2008). „Actual and perceived gender differences in the accuracy of surrogate decisions about life-sustaining medical treatment among older spouses.“ Death Stud. 32 (3): 273-290.

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang