Ausgabe 1 / 2016 Artikel von Kirsten Beuth

Gartenland

Die Trüffel der Juliette B.

Von Kirsten Beuth

Der Herbst hat Einzug gehalten. Er sendet nochmals einen warmen Sonnengruß. Pastellene Lampions wiegen sich leise in den Zweigen. Späte Rosen und große Büsche stark duftender Studentenblumen lassen den nahenden Winter unwirklich erscheinen.

Ein trockenes Ockerbraun hat sich breit gemacht. Ein spätes Fest. Es wird dem Sommer danken, den Herbst begrüßen und auch ein wenig melancholisch sein. Der Tisch füllt sich nach und nach mit Früchten und Selbstgebackenem. Nun, wo die Sonne den Zenit überschritten hat, kommen die Gäste. Jede hat etwas mitgebracht, aus dem eigenen Garten: Marmeladen, Säfte, Blumen, sogar Honig, Apfelkuchen und Kekse. Im Schatten, auf dem kleinen türkisblauen Holztisch, steht eine Etagere mit tiefbrauner Schokolade. Juliette B. brachte den süßen Zauber schon am Vormittag. Sie wird sich nun etwas verspäten, aber Anna K. sicher vom Bahnhof in den Garten geleiten, wo die anderen schon lebhaft plaudern und Marianne W. ihr grünes Zuhause mit den Freundinnen genießt. Gärten galten schon immer als Orte von Utopien, als Wunsch-Oasen, als Orte der Muße, der Kreativität. Nehmen wir doch einfach Platz im Garten der Zufriedenheit, genießen wir die Zeit des Glücks und der Be­schaulichkeit.

Vom Paradies inspiriert
Die Vorstellungen vom Garten Eden haben sicher am Mythos von Sorglosigkeit und Vitalität mit gebastelt. Das Wort ­Paradies bezeichnet ursprünglich ein unbegrenztes Stück Land und somit einen Bereich, in dem der Fantasie keine Grenzen gesetzt sind, weder Mauern noch Zäune errichtet werden. Der Mythos vom glücklichen freien Leben in Arkadien war und ist immer wieder Thema der Künste, aber auch der eigenen Fantasien – immer ein Stückchen Inszenierung eines Traumes als Gegenüber zur realen Welt. Warum auch nicht? Auch Träume helfen, die Welt zu erkennen und zu verändern!

Schauen wir in die Geschichte der Gartenkultur, so ist augenfällig, dass deren Prägung dem Wandel weltanschaulicher Überzeugungen folgt und über die Jahrhunderte Projektionsfläche von Wunsch- und Idealbildern war. Gesellschaftliche Transformationen fanden im Pflanzen und Gärtnern ihren Ausdruck.
Wo Menschen wohnen, leben, lieben und sterben, entstehen Gärten, an deren Gestaltung Frauen maßgeblich beteiligt waren und sind. Küchenkräuter, Obst und Gemüse dienten der Eigenversorgung, Blumenrabatten kamen dazu. Je nach Vermögen hatten größere Landgüter die Funktion des Verweilens, Erholens und der Vergnügung. Gartenkunst entstand dort, wo keine unmittelbare Verwertbarkeit angestrebt wurde. Hier spiegelt sich das Verhältnis zwischen Natur, Kunst und Gesellschaft und deren Veränderungen am deutlichsten. Und immer schwebt der Mythos vom Paradies ein bisschen mit, vom Garten, aus dem die Menschen vertrieben wurden. Die Vorstellung, wie es aussehen müsste oder könnte, verändert sich vom Mittelalter, über Renaissance, Barock, Aufklärung, Romantik bis in die Gegenwart und verdeutlicht, wie gesellschaftliche Ereignisse auch die europäische Kulturgeschichte des Gartens beeinflussten und Ideen der jeweiligen Zeit in ihnen zur Blüte brachte.

Von Menschenhand gestaltet
Die Klostergärten des Mittelalters gelten als Beginn der Gartenkunst und finden nach dem 19. Jahrhundert keine so einheitliche, zuordenbare Ausprägung mehr, wie in den Jahrhunderten zuvor. Im 14. und 15. Jahrhundert, dem Zeit­alter der Renaissance, der Wiederentdeckung der Antike, gelangte der Mensch in den Mittelpunkt philosophischer, theo­logischer und künstlerischer Betrachtungen. Ausgangspunkt war Italien. Hier wurden antikisierende Villen und Landhäuser inszeniert und mit Terrassenanlagen verbunden, die den Blick in die Landschaft öffneten. Es galt, Mensch und Natur miteinander in Einklang zu bringen. Die Geometrisierung der Gartenanlagen wurde zum Ausdruck der Harmonielehre – notwendige Voraussetzung, um die Welt gedanklich zu erfassen. Der Barockgarten fand besonders in Frankreich seine Ausprägung (Französischer Garten). Die Anlagen wurden größer, an die Stelle der Ausblicke von sanften Hügeln traten in den Wald geschlagene Schneisen. Nur die von Menschenhand bearbeitete Natur entsprach dem Schönheitsideal.

Das Paradies der Aufklärung hingegen wurde nicht mehr geometrisch geordnet. Barocke Landschaftsgärten mit ihren strengen Reglementierungen, präzise geschnittenen Büschen und Bäumen, symmetrischen Blumenrabatten, der Zentralperspektive und geraden Alleen als Formsprache und Ausdruck absolutistischen Denkens wurden abgelöst durch Formen, die die Natur selbst hervorbringt. Unregelmäßigkeit, der freie Wuchs wurde zum Ideal erhoben. Der Französischen Revolution von 1789 ging in England eine ästhetische, eine künstlerische voraus, die sich besonders prägnant in diesem neuen Gartenmodell spiegelte. Ab 1730 entstehen zunächst in England und nach 1760 in ganz Europa künstliche Landschaften mit wohl bedachten und effektvoll eingesetzten Stimmungsszenarien. So, wie der ganze Mensch nun in seinem Handeln und Urteilen zu seinem Recht kommen sollte, avancierten Englische Landschaftsgärten zum Mikrokosmos einer Wunschwelt. Das Paradies ist die Natur selbst! Die Idylle drückte sich in einer Art Poetisierung der Landschaft aus, wie sie auch in der Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts Niederschlag findet. Zitate aus Architektur, Literatur und bildender Kunst verliehen der geschaffenen Natur Bedeutung. In Deutschland war diese Entwicklung mit einer starken Sentimentalisierung und der Literatur der Empfindsamkeit verbunden. Der Wörlitzer Park gilt noch heute als ein prägendes Beispiel Englischer Gartenkunst. Er wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geschaffen und ist ein herausragendes Beispiel für die Parkgestaltung unter dem Eindruck der Aufklärung. Ganz im Zeichen der Öffnung zum Menschen hin, war der Landschaftspark nun für Besucher zugänglich, das Bürgertum flanierte.

Lebensraum jenseits der Stadt …
Im frühen 19. Jahrhundert wurden schließlich die der Gartengestaltung der Aufklärungszeit eigenen architektonischen, literarischen und kunsthistorischen Zitate zurückgedrängt. Breite Wege, verbunden mit Ausblicken in die Weite, die große Naturbilder erfassen lassen und einer poetischen Inszenierung der Natur selbst gleichen, stehen nun im Zentrum. Gärten wurden zum Spiegel der Seele. Große Teile der Landbevölkerung verarmten in dieser Zeit mehr und mehr und drängten in die Städte. Landgraf Carl von Hessen nahm das zum Anlass, die ersten Armengärten anzulegen. Diesem Beispiel folgend, wurden der bedürftigen Stadtbevölkerung in vielen Teilen Deutschlands Parzellen zugewiesen, um einen Teil der Nahrung für die Familie selbst zu erwirtschaften. Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden so beispielsweise die ersten Laubenkolonien in Berlin, in Leipzig die Kleingartenanlage „Dr. Schreber“. Der im Jahr 1865 eröffnete Schreberplatz hatte jedoch zunächst nichts mit einem Garten zu tun – es war eine Wiese, zum Spielen und Turnen. Hier legte der Lehrer Heinrich Karl Gesell die ersten Beete und Gärten als Beschäftigungsmöglichkeit für Kinder an. Daraus entwickelten sich im Laufe der Zeit umgrenzte Familiengärten. Als Reaktion auf die zum Teil erbärmlichen Wohn- und Lebensverhältnisse in den stark gewachsenen Großstädten halfen Organisationen wie das Rote Kreuz und Arbeitervereine, den Proletariern, Parzellen zu erlangen, um sie zu bewirtschaften und Erholung in frischer Luft zu finden. Aber auch Lebens- und Arbeitsgemeinschaften wie die Künstlerkolonie Worpswede bei Bremen sind Ausdruck dieser Entwicklung und Auseinandersetzung mit sozialreformerischen Ideen. Kunst, Hand- und Kopfarbeit sollten in einem naturnahen Leben zusammenfließen.

In Russland wurden die ersten Datschen von Zar Peter I. im auslaufenden 18. Jahrhundert erbaut und an treue Vasallen vergeben. In der russischen Literatur finden wir viele Beschreibungen aus der Blütezeit dieser Lebens-, Liebes- und Kunstorte am Rande der Städte, die oft zu kulturellen, aber auch politischen Treffpunkten wurden. Nicht zuletzt mit der Entwicklung der Eisenbahn erlangte das Datschenleben eine Demokratisierung, die auch weniger Betuchten die Erholung und den Rückzug ins Grüne ermöglichte. Nach der Oktoberrevolu­tion 1917 waren Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden oft unklar und Stadtbewohner erschlossen brachliegende Parzellen für sich als Zweitwohnsitz. Die urbane Wohnsituation in den Folgejahrzehnten war oft schwierig. Häufig gab es Gemeinschaftsküchen, die sich mehrere Mietparteien eines Hauses teilen mussten, und Generationen wohnten auf engem Raum zusammen. So waren die Sommerbungalows immer ein beliebter Ort, mit Möglichkeit zur Eigenversorgung und Geselligkeit. Auch in der DDR war die Situation vor 1989 ähnlich: Das geringe Angebot an frischem Obst und Gemüse, aber auch die eingeschränkten Reisemöglichkeiten ließen den Schrebergarten und die Datsche zu einem beliebten und individuell gestalteten Lebensbereich werden.

… und in der Stadt
Wurden nach dem Zweiten Weltkrieg Grundstücke vorrangig mit Kartoffeln, Gemüse und Salat bepflanzt und für das Überleben genutzt, so folgte in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine intensive Hinwendung zu Rasenflächen im eigenen Garten. Es schien, als wenn man sich von den Mühen der Nachkriegsjahre erholen und die Gartenarbeit auf ein Minimum beschränken wollte. Aber in den späten 1980er Jahren kam es zu einer Wiederentdeckung der positiven Seiten des Gärtnerns, verbunden mit einem sich mehr und mehr ausbreitenden ökologischen Bewusstseins. Die in den Nachbarländern England, Frankreich, Holland oder Belgien entwickelte Idee, private Gärten an bestimmten Tagen im Jahr für die Öffentlichkeit zugängig zu machen, fand nun auch in Deutschland Gefallen. Man stellte sein gärtnerisches Können, die Blütenpracht, die reiche Ernte und natürlich auch die eigene Vorstellung vom Paradies anderen vor und kam ins Gespräch. Der Garten als Kultur- und Lebensraum erlangte eine Neuinterpretation als Ort der Selbstverwirklichung, des Vergnügens, der Meditation.

Seit Mitte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hat sich, aus den USA kommend, die Idee des Gärtnerns an unterschiedlichsten Stellen des städtischen Raums in aller Welt verbreitet. Grünstreifen, Dächer, brachliegende Flächen werden in blühende Beete verwandelt und zur Ernte von Lebensmitteln genutzt. Dahinter steckt das Anliegen, sich die Stadt zurück zu erobern, sie mit zu gestalten und Fragen einer gesunden und ausreichenden Ernährung für alle zu thematisieren. Urban Gardening ist auch ein Experimentierfeld für neue Lebens- und Arbeitsentwürfe abseits von kommerzieller Vermarktung. Interkulturelle Gärten bringen Menschen verschiedener Herkunft zusammen und tragen zur Verständigung in einer immer globaleren Vernetzung bei. Hier können neue Gemeinschaften entstehen, in denen ökologisches Bewusstsein und gemeinsames Lernen entwickelt werden oder halt „einfach passiert“. Übergänge zwischen Stadt – Natur – Kultur – Religion – Produktion – Konsumtion werden fließender, leichter zugänglich. Ein Stück demokratischer.

Nun aber sollte ich zurück an den wohl gedeckten Tisch. Die Gärtnerinnen sind bester Laune, und es ist einfach schön, Frauen aus allen Jahrhunderten zu begrüßen. Auch Marina Z. hat ihre Datsche verlassen, um uns ihre neuen Gedichte vorzutragen und eine kleine „Nana“ steht auf dem Tisch. Ehe ich meine Marillen-Ingwer-Marmelade auspacke, nehme ich mir zunächst einmal eines dieser tiefdunkelbraunen Schokotrüffel. Juliette B. hat sie mit gezuckerten Veilchen aus ihrem Garten verziert.

Dr. Kirsten Beuth, Jg. 1956, hat Kultur- und Theaterwissenschaften studiert und war Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Künste der DDR. Viele Jahre hat sie als Studienleiterin am Frauenstudien- und -bildungszentrum der EKD gearbeitet, seit 2011 ist sie Direktorin der Evangelischen Akademie Wien.

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