Alle Ausgaben / 2013 Material von Regina Ammicht Quinn

Geerdetes Glück

Von Regina Ammicht Quinn


Das Glück sei nicht etwas, das dem Leben wie ein Mantel umgehängt oder wie ein Schmuckstück hinzugefügt wird, heißt es in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles (I,9) – der seinerseits Platons Schüler war, der Schüler, von dem sein Lehrer sagt, er habe gegen ihn ausgeschlagen wie ein junges Füllen gegen seine Mutter ausschlägt. Aristoteles erzählt die berühmte Anekdote über den berühmten Heraklit, den die Besucher, seinem Status völlig unangemessen, in der Küche finden und zögern anzusprechen. Tretet ein, ermuntert er sie, habt keine Angst, auch hier sind die Götter.

In dieser Anekdote zeigt sich die philosophische Grundentscheidung des Aristoteles: Der Ort des Glücks ist nicht nur das Studierzimmer und auch nicht ein nur selten benutztes Wohnzimmer. Der Küchengeruch, der dem Glück damit möglicherweise anhaftet, ist nichts Unrühmliches mehr. Das Glück wird geerdet. Aristoteles' Glücksbegriff der eudaimonia wird in der Regel als Glückseligkeit übersetzt, im Englischen als happiness. Diese Übersetzung ist problematisch, denn sie deutet an, die aristotelische eudaimonia sei ein Gefühl, ein psychischer Zustand der Euphorie etwa. Eudaimonia, das Glück, aber ist für Aristoteles das höchste aller Güter, die man durch Handeln erreichen kann, eine Aktivität. Das Glück der eudaimonia ließe sich damit eher übersetzen als ‚ein gutes Leben führen', als ‚menschliches Gedeihen'.

Wenn das Glück geerdet wird, wenn es nicht jenseits der Welt und jenseits des Lebens, nicht jenseits der Küche, der Sorge und des Ernstes liegt, dann hat dies Konsequenzen: Betrachten wir das Glück als Aktivität, als menschliches Gedeihen, dann ist der Konflikt zwischen Glück und Moral schon in den Glücksbegriff hineingenommen. Der und die andere in seinen und ihren Bedürfnissen und Rechten ist nicht ein Faktor, der von außen auf das Glück zukommt und es entweder respektiert oder bedroht, sondern selbst die Substanz des Glücks. Glück und Moral existieren nicht in einer ausgehaltenen Spannung nebeneinander, sondern ineinander – es ist ein Ineinander ohne Identität, zwei verschiedenfarbige Fäden im selben Stoff. Moralische Konflikthaftigkeit gehört damit zur Grundstruktur des Glücks.

Die zweite Konsequenz: Das geerdete Glück wird verletzbar. Anders als das abstrakte oder jenseitige Glück grenzt es jederzeit an das Unglück und ist ihm jenseits aller moralischen Rechtschaffenheit ausgesetzt. Dass man nur gut zu sein braucht, um glücklich zu werden, ist eine Rechnung, die nicht mehr aufgeht. Glückseligkeit als eudaimonia ist damit, wie der englische Rhetoriker und Bischof des 19. Jahrhunderts, Richard Whately, formuliert, nichts zum Lachen – jedenfalls nicht immer und andauernd; zu sehr gefährdet ist sie. Dennoch ist sie der einzige Ort, an dem das Lachen denkbar ist: Dem platonischen Glück ließe sich allenfalls ein entrücktes Lächeln entringen, das Kantische Glück kann vor lauter Vorsicht nicht lachen und das Glück der agonalen Ethik ist noch dabei, verbissen sein theoretisches Recht auf das Lachen zu verteidigen. Glück ist damit nicht etwas, das, wenn der Ernst des Lebens erledigt ist, das Nötige und Lästige, als Zugabe dazukommt. Es ist nicht der Mantel und nicht das Schmuckstück; es ist der Ernst des Lebens selbst: das gefährdete, bedrohte, manchmal auch bedrohliche menschliche Gedeihen.

Die dritte Konsequenz aus dem Glücksbegriff der eudaimonia bezieht sich auf die Orte der Wissenschaft, des Geistes, des Nachdenkens über das Glück. Diese Orte sind keine Orte jenseits der Welt, keine Studierzimmer mit dem Rücken zur Welt. Es sind Orte, die sich die Auszeit der Reflexion zugestehen, diese eigene Reflexion aber der Welt aussetzen, sie mit der Welt und in der Welt mit ihr konfrontieren und sie nicht aus Angst vor Korrosion, Wasserflecken und Vandalismus allenfalls hinter Glas ausgewählten Betrachtern präsentieren.


aus:
Glück – der Ernst des Lebens?
© Verlag Herder GmbH
Freiburg i.Br. 2006

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang